Ausgabe 36 · Juni 2023

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Selbstverwaltete Fahrradläden in Tübingen – das Beispiel »Fahr-Rad Laden Gegenwind«

Interview mit Peter Müller

Wie kam es zur Gründung des selbstverwalteten Radladens in Tübingen? Wie haben sich die Leute damals zusammengefunden?

Im Frühjahr 1982 habe ich eine Anzeige ins Schwäbische Tagblatt gesetzt: »Wer hat Interesse, gemeinsam mit anderen einen Fahrradladen zu gründen?«. Acht Leute haben sich gemeldet, letztendlich sind fünf übrig geblieben. Niemand hatte wirklich Erfahrung in der Fahrradbranche.

Typische Fahrradgeschäfte waren damals eher klein und hatten auch Mopeds und Rasenmäher im Angebot. Das erste Geschäft, das wir dann übernommen haben, war auch so ein Laden – »Fahrrad Kost«, mitten in der Tübinger Altstadt. Wir wussten nichts über geschäftliche Dinge wie Gesellschaftsformen und Meisterpflicht. 1982 gab es noch keine anderen selbstverwalteten Fahrradläden – zumindest keine, die wir gekannt hätten. Unser Anspruch waren gute Fahrräder, gute Teile sowie gute Beratung. In der Anfangszeit war es sehr schwierig, an gute Ware ranzukommen.

Was waren eure Ziele?

Wir hatten hohe Ansprüche an Material und Inhalte. Um uns herum sahen wir, dass das tolle Konzept Fahrrad mit dem überall lieblos verkauften Schrott kaputt gemacht wurde. An zweiter Stelle stand der Wunsch, das Projekt Fahrradladen gemeinsam als Gruppe zum Laufen zu bringen. 1983 konnten wir das alte Ladengeschäft übernehmen. Anfangs konnten wir keine Löhne ausbezahlen. Ich habe zum Beispiel noch im alternativen Buchladen gejobbt, ein Kollege hat als Sozialpädagoge weiter geschafft.

Woher kam das Geld für die Gründung?

Ich war über die Friedensbewegung und den Bund für Umweltschutz gut vernetzt, darüber haben wir günstige Privatkredite bekommen. Die Kreditgeber haben sich aber nicht in den laufenden Betrieb eingemischt.

Wir nannten uns »Fahr-Rad Laden Gegenwind«. Der Laden war mit ca. 70 m2 sehr klein. Vermieter war der alternative Buchladen »Die Gruppe«, der aber in drei Jahren selber einziehen wollte.

Bild 1: Der »Fahr-Rad Laden Gegenwind« öffnete 1983 in einem renovierungsbedürftigen Haus mitten in der Tübinger Altstadt

Habt ihr was von dem Vorgängerladen übernommen?

Einige Räder und Teile konnten wir übernehmen, das Werkzeug hat der frühere Inhaber leider mitgenommen. Den Motorkram wollten wir nicht.

Wie habt ihr Entscheidungen gefällt?

Anfangs haben wir uns bemüht, alles im Konsens zu entscheiden. Keiner wollte gern »auf Chef machen«. Irgendwann haben wir das alles dann in einem Vertrag geregelt. Jeder hatte seine Schwerpunkte: Einer hat mehr Buchführung gemacht, weil er da mehr Ahnung hatte, der andere mehr den Einkauf.

Eine typische Selbstverwaltungsgeschichte: Besprechungen im ersten Laden liefen abends, am Wochenende. Im zweiten Laden haben wir uns jeden Dienstagvormittag zusammengesetzt und diskutiert. Der Laden blieb geschlossen, auch wenn Leute an der Tür gerüttelt haben. Das war uns wichtig und wir haben es lange durchgehalten. Irgendwann haben wir dann aber die Besprechungen auf abends verlegt.

Bild 2: Eingang zum »Gegenwind«

Gab es dann auch bald Angestellte oder Aushilfen, die schlicht ihren Stundenlohn bekamen, aber nicht mitbestimmten?

Das kam später. Dieser erste Laden bestand von 1983 bis 1985. Da gab es keine Aushilfen. Angestellte wären aber auch schlicht nicht finanzierbar gewesen. Erst nach einem halben Jahr haben wir angefangen, uns 6 DM pro Stunde auszuzahlen, später dann 8 DM. Die gearbeiteten Stunden haben wir aufgeschrieben und bezahlt. Stundenmäßig waren wir sehr unterschiedlich engagiert, ursprünglich wollten wir das gar nicht hauptberuflich machen.

Wie habt ihr die Arbeit aufgeteilt – auch die weniger angenehmen Aufgaben?

Anfangs haben wir uns einigen können, gegen Ende gab es dann aber doch ernsthaftere Konflikte und wir haben uns wegen unterschiedlicher Vorstellungen, wie man z. B. arbeiten sollte, in zwei Gruppen aufgespalten und letztendlich getrennt. Das war eine unschöne Zeit. Beide Gruppen suchten dann nach einem neuen Ladengeschäft und konkurrierten bei der Suche. 1986 startete dann der »FahrRadLaden am Rathaus« – und in der Metzgergasse gab es »die anderen« … das war nicht schön.

Habt ihr damals auch zusammen wohnen und aus einer gemeinsamen Kasse leben wollen, wie das andere selbstverwaltete Projekte der Zeit versucht haben?

Nein – wir waren doch sehr unterschiedlich und nebenher in ganz verschiedenen Bereichen engagiert.

Gab es so etwas wie Jobrotation bei euch?

Das gab es bei uns nicht. Wir haben versucht, unsere Fähigkeiten einzubringen und uns weiterzuentwickeln. Für Bereiche, in denen wir keine Ahnung hatten, haben wir uns fachliche Hilfe von außen geholt.

Wie verlief die Gründung des zweiten Ladens: »FahrRadLaden am Rathaus«?

Den haben drei Leute 1986 gegründet – in ganz neuer Zusammensetzung und als GmbH. Dort haben dann auch einzelne von außen ausgeholfen. Die haben wir aber immer schnell gefragt, ob sie einsteigen möchten. Das haben wir allen nahegelegt. Maximal waren wir sechs Gesellschafter/Geschäftsführer – mal mehr, mal weniger.

Wie habt ihr das Ein- und Aussteigen finanziell geregelt?

Jedes neue Mitglied musste einen Anteil einzahlen – nicht unbedingt jeder gleich viel. Die Einlage wurde verzinst. Beim Ausstieg haben wir die Wertsteigerung des Ladens errechnet und entsprechend mehr ausgezahlt – oder auch mal deutlich weniger, wenn es schlecht gelaufen war.

Ende der 1980er Jahre haben sich dann auch andere selbstverwaltete Läden in der Region gegründet. Wie lief der Kontakt?

TransVelo hatte sich im benachbarten Reutlingen aus einer Selbsthilfewerkstatt heraus entwickelt. Man hat sich ausgetauscht und z. B. mit Teilen ausgeholfen. Das lief über Jahrzehnte gut, bis TransVelo dann eine Filiale in Tübingen eröffnete …

Bild 3: Gemeinsame Werbeanzeige mit anderen selbstverwalteten Radläden aus der Region, 1990

1985 gründete sich der »Verbund selbstverwalteter Fahrradbetriebe« (VSF) – wart ihr von Anfang an dabei?

Der VSF startete mit einem Treffen von Fahrradladen-Leuten in Berlin-Kreuzberg. Ich gehörte mit zu den Gründungsmitgliedern. Das Grundproblem war damals, an richtig gute Sachen zu kommen: Wir wollten z. B. Ledersättel von Lepper aus Belgien, Bluemels-Schutzbleche, Ambrosio-Felgen, Pelissier-Naben etc. Uns fehlten auch richtig gute Rahmen. Um unseren Anspruch an gute Teile zu erfüllen, sollte der Verbund helfen. Davor musste man sich irgendwie absprechen und zusammentun und gemeinsam bei einem Hersteller bestellen. Damals fand sich aber dann ein Mensch aus dem VSF, der den Großhandel RASCO in Aachen aufgemacht hat – und den Einkauf hochwertiger Teile professioneller gemacht hat. Das war eine große Hilfe. Später wurde die VSF-Fahrradmanufaktur gegründet, die dann wirklich gute Alltagsräder gebaut hat – genau nach unseren Ansprüchen!

Bild 4: Individuell organisierter Sammeleinkauf von Fahrrädern, Teilen und Zubehör in den ersten Jahren: Rundbrief von Peter Müller an andere selbstverwaltete Läden zum Reflexbandkauf, 1984

Wie ging es dann weiter?

Irgendwann ergab sich die Möglichkeit, das Ladengeschäft am Haagtor zu bekommen. Leider hatten wir gerade unseren bestehenden Mietvertrag um fünf Jahre verlängert, aus dem wir nicht rauskamen – das hat uns fast in die Insolvenz geführt. Wir mussten bei allen gleichmäßig den Lohn kürzen, es ging rauf und runter.

Gab es einen Einheitslohn?

Prinzipiell war der Lohn einheitlich. Es gab aber eine Sozialkomponente für Kinder oder Familienangehörige. Angestellte bekamen einen normalen Stundenlohn, aber eigentlich wollten wir keine reinen Angestellten haben. Gesellschafter haben mehr ausgezahlt bekommen, die trugen ja auch ein höheres Risiko.

Zum hohen Qualitätsniveau und zu den eher hohen Preisen: Gab es da einen Konsens?

Bei Alltags- und Tourenrädern bestand Konsens. Wir haben ja den Laden gemacht, um dem Schrott und der »Nicht-Auswahl« etwas entgegenzusetzen. Das geht nur ab einer gewissen Preisklasse und das haben wir auch durchgehalten. Im Radladen am Rathaus hatten wir kein Rad mehr unter 700 DM. Wir waren uns einig: gute Qualität und möglichst auch in Deutschland produzierte Räder und Teile.

Wie war das Verhältnis von Werkstatt zu Verkauf? Haben beide Gewinne erwirtschaftet?

Damals war die Werkstatt nicht so der Bringer. Es war uns aber wichtig, sie zu haben. Wir hatten schnell auch eine »Selbsthilfe vor der Tür« – mit Werkzeug, das die Kunden mit rausnehmen durften, um vor der Tür zu werkeln. Selbsthilfewerkstatt in unseren Räumen haben wir diskutiert, aber nie gemacht, weil wir den Platz selber brauchten.

Wie hat es sich dann später entwickelt – mit weniger Gesellschaftern und mehr Angestellten? Und wie sieht die Zukunft aus?

Wir haben das lange mit »nur Gesellschafter« gehandhabt. Bis wir nur zu zweit übriggeblieben sind.

Das Fahrrad hat in meinen Augen eine tolle Zukunft. Es gibt natürlich Entwicklungen wie immer mehr Elektronik und fette Rohre – aber das ist nicht mehr »mein Fahrrad«.

Die alte Struktur der Selbstverwaltung kenne ich in unserer Region nur noch von einer Umzugsfirma. Es gibt weniger junge Menschen, die sich die Hände dreckig machen wollen – aber die Werkstatt gehört ja unbedingt mit zu einem Fahrradladen. Wenn sich das jemand zutraut und ein bisschen technisches Geschick hat und mit Menschen umgehen kann, ist ein Fahrradladen auch heute noch eine tolle Sache.

Zur Person

Nach Peters Lehramtsstudium gab es einen Einstellungsstopp. Ähnlich wie er haben die Betroffenen dann Bioläden oder Fahrradläden gegründet. 35 Jahre lang hat er in den verschiedenen Läden gerne das Fahrrad gefördert und auch versucht, politisch das Umfeld mitzugestalten. Der Umgang mit Menschen kann sehr zufriedenstellend sein. Im jetzigen Rentnerdasein ist mit ehrenamtlicher Arbeit und diversen Freizeitaktivitäten noch einiges in Bewegung.

Das Interview führte Andreas Oehler.