Ausgabe 36 · Juni 2023
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Grundlagen der Fahrradergonomie – Teil 3
In den Ausgaben 34 und 35 der Fahrradzukunft habe ich die ersten beiden Teile (»Der Antrieb von der Fußspitze bis zum Hüftgelenk« und »Sattelposition und Beckenstellung«) der Fahrradergonomie beschrieben.
Ausgangspunkt für den dritten und letzten Teil ist, dass die Einstellungen aus den ersten beiden Teilen korrekt vorgenommen wurden. Das betrifft die Sattelhöhe und die Kurbellänge, die Sattelneigung und ein Bewusstsein für die geneigte Körperhaltung mit gekipptem Becken.
Natürlich kann man die einzelnen Punkte eigentlich nicht wirklich trennen. Jede Anpassung zieht zwangsläufig andere Anpassungen nach sich, aber die hier genannte Vorgehensweise ist dabei am unkompliziertesten.
Zur Erinnerung an Teil 1 hier dessen Zusammenfassung:
- Ich trete mit dem Fußballen auf dem Pedal.
- Ich fahre mit angehobener Ferse/leicht gestrecktem Fußgelenk.
- Im tiefsten Punkt ist das Bein dabei fast gestreckt.
- Die Kurbellänge passt zu meiner Beinlänge.
- Die maximale Kurbellänge (in Millimetern) ist nicht größer als meine Körpergröße (in Zentimetern) (gilt nicht für disproportionierte Personen, z. B. Kleinwüchsige). Eine »zu kurze« Kurbel tut aber nicht weh.
- In der 11-Uhr-Position (von links gesehen) ist mein Knie nicht stärker als 90° angewinkelt.
Zusammenfassung von Teil 2:
- Ich habe die korrekte und maximale Sattelhöhe eingestellt (siehe Teil 1)
- Ich habe den passenden Sattel gefunden, auf dem ich vollflächig sitze und der nicht hinter dem Fahrer hervorschaut.
- Auch bei geneigter Sattelposition rutsche ich nicht auf dem Sattel nach vorn, weil der Sattel schmal genug ist, sodass ich mit den Oberschenkeln dran vorbeikomme.
- Das Knielot ist bei waagerechter Pedalstellung über oder vor der Pedalachse.
- Ich fahre bewusst mit nach vorn gekipptem Becken und dabei gestrecktem, aber geneigtem Rücken (doppelte S-Form wird beibehalten, Rückenachse ist die Verlängerung der Beckenachse).
Bedeutung der Oberkörperhaltung und der erforderlichen Lenkerhöhe (bzw. Lenkertiefe)
Die Rückenneigung ist so ausbalanciert, dass der Körperschwerpunkt über dem antreibenden Pedal liegt und sehr wenige Stützkräfte notwendig sind. Bei voller Pedallast würden fast keine Stützkräfte auf Sattel und Lenker entstehen (it’s like flying over the bike).
Der Abstand zwischen Sattel und Lenker ist so groß, dass ein rechter Winkel zwischen Oberarm und Oberkörper entsteht. Die aufkommenden Stützkräfte werden in die starke Schulter- bzw. Brustmuskulatur geleitet, die seitlich der Brustwirbelsäule liegt (und nicht in den Nackenbereich). Die Lenkerhöhe ist so niedrig, dass bei ausbalancierter Rückenhaltung die Arme locker Richtung Lenker zeigen und die Schulter abfällt. Ein Hochdrücken der Schulter ist nicht nötig. Die Arme haben genug Platz.
Die Lenkerbreite ist etwas größer als die Schulterbreite, die Arme liegen nicht parallel, sondern öffnen sich leicht. Dadurch wird die Atmung erleichtert. Der Lenker ist gerade und bietet durch ergonomische Griffe eine maximale Auflagefläche, die die Handgelenke stützt. Ein Rennlenker bietet noch mehr Vorteile für die ergonomische Haltung.
Durch die bisher genannten Punkte zum Sitzen auf dem Fahrrad ist jetzt die Ausgangsposition für die Oberkörperhaltung logischerweise der geneigte Rücken. Jeder Mensch hat entsprechend seiner Konstitution und seinen Proportionen eine für sich am besten geeignete geneigte Sitzposition auf dem Fahrrad.
Der leichte Fahrer fährt stärker geneigt, der schwergewichtige Fahrer (mit etwas mehr Bauch) fährt etwas aufrechter. Ausschlaggebend ist die Lage des Körperschwerpunkts, die wir in dem Fall nicht bewusst beeinflussen, der Körper sucht sich diese Position selbst. Die Schwerpunktlage ist dann richtig, wenn das Gewicht des Oberkörpers das Gegengewicht (das Gegendrehmoment) zur Beckenrotation bildet. Das Becken möchte durch die angespannte hintere Oberschenkelmuskulatur immer nach hinten ausweichen und dem ziehenden Muskel nachgeben. Dann würde aber die Beinstreckung, die von dort unterstützt wird, an Kraft verlieren. Genauso wichtig ist es, dass der Sattel einen ruhenden Pol bildet. Bei der Beinstreckung mit dem Druck auf das vordere Pedal ergibt sich rein theoretisch eine Ausweichbewegung: Entweder wird das Pedal bewegt oder das Becken weicht (bei maximalem Pedalwiderstand) nach hinten aus. Bei jeder Trittbewegung auf die Pedale ist diese mögliche Beckenbewegung dabei und wird durch einen stabilen Sattel und entsprechende Muskulatur daran gehindert. Das Becken braucht einen festen ruhenden Pol. Sehr weiche Sättel (Luftsättel, Gelmonster) oder Sättel, bei denen eine Relativbewegung bewusst eingebaut wurde (»das Becken bewegt sich, also machen wir den Sattel auch beweglich, das ist bestimmt bequemer«) kosten erheblich Kraft. Auch eine Federsattelstütze mit seitlichem Spiel, sodass der Sattel immer um ein paar Grad ausgelenkt wird, ist schon als Leistungsverlust spürbar.
Die Beckenbewegung wird gern überbewertet. Häufig hört man von Rennradfahrern, dass sie den Sattel so lange tiefer stellen, bis das Becken sich nicht mehr bewegt. Die Beckenbewegung ist aber fast immer das Resultat eines Sattels, der zu früh zu breit wird, sodass die Beine sich mit seitlichen Ausweichbewegungen den Weg am Sattel vorbei suchen. Das führt zu einer gut zu beobachtenden Beckenbewegung. Ein Sattel sollte so schlank sein, dass diese Bewegung nicht nötig ist, aber es wird immer Übergangsformen geben, bei denen Beckenbewegung übrig bleibt, die aber auch nicht wirklich schädlich ist. Die Wirbel, die direkt ans Becken anschließen, sind auf maximale seitliche Beweglichkeit ausgelegt, weil wir diese Beweglichkeit auch beim Laufen brauchen. Im Gegenteil: Den meisten Menschen würde etwas mehr Flexibilität in diesem Bereich guttun, weil starre sitzende Tätigkeit gern an dieser Stelle zur Unbeweglichkeit führt. Der Sattel ist jetzt der unverrückbare Ausgangspunkt für die restliche Einstellung der Sitzposition. Der Rücken ist mit seiner natürlichen S-Form nach vorn geneigt, entsprechend der Konstitution der fahrenden Person.
Die nächste ergonomische »Forderung« ist der rechte Winkel zwischen Oberarm und Oberkörper. Der ist notwendig, damit alle Stützkräfte, die von den Armen und vom Lenker her eingeleitet werden, in der stärksten Oberkörpermuskulatur (oberer Anteil des Latissimus und unterer Anteil des Trapezmuskels) aufgefangen werden. Das ist dieselbe Position, die man beim Liegestütz einnimmt.
Wird der rechte Winkel unterschritten (und das ist bei den meisten Rahmengeometrien der Fall), werden die Stützkräfte stärker nach oben geleitet, dort, wo die Schulter-Nacken-Muskulatur nicht mehr viel Kraft hat und zu Verkrampfung und Verhärtung neigt. Auch hier kennt der Körper von sich aus eine Lösung: Der obere Rücken wird so lange nach hinten gerundet, bis sich im oberen Rücken der rechte Winkel ausgebildet hat. Leider hat das den Nachteil, dass auch der untere Rücken mit einer Rundung antworten muss. Dabei kippt dann auch das Becken nach hinten.
Hierdurch entsteht die Rundrückenhaltung auf dem Fahrrad, die leider noch dadurch positiv verstärkt wird, dass das Becken auf den Sitzbeinhöckern ruht, die sich dann wieder mit (fast) jedem Sattel vertragen und gleichzeitig eine tiefere Satteleinstellung notwendig machen (wir erinnern uns: Das nach vorn gekippte Becken erzeugt ein effektiv längeres Bein, umgekehrt wird es kürzer). Schon fast ein Teufelskreis.
Um den rechten Winkel zu erreichen, braucht man auf dem Fahrrad viel mehr Platz zwischen Sattel und Lenker, als es meistens möglich ist. Nur alte Rennrad-Rahmengeometrien, die mit entsprechenden Rennlenkern gefahren werden, erreichen noch diese Maß. Leider wurden unsere heutigen Sporträder in den 1990er Jahren anfangs auf der alten Rennrad-Rahmengeometrie aufgebaut, aber ohne Rennlenker, sodass uns regelmäßig 8–12 cm Länge fehlen. Der Fehler wurde nie korrigiert, weil ihn keiner gesehen hat.
Das Maß, das wir vom unten stehenden Pedal zum Sattel haben (z. B. 90 cm Sitzhöhe), ist sehr häufig auch das Maß, das wir zwischen Sattel und Lenker brauchen. Ich nenne dieses Maß Sitzlänge und messe von der Hinterkante des Sattels schräg zur Griffposition am Lenker. Sattelhinterkante deswegen, weil diese bei einem passenden (!) Sattel der Endpunkt unseres Rückens ist und sich sogar mit einem Trick diese Sitzlänge über den Pythagoras berechnen lässt (Armlänge und Rückenlänge messen).
Eins sollte klar sein: Man darf auf keinen Fall die Sitzlänge dadurch erreichen wollen, dass man den Sattel nach hinten schiebt. Damit wäre die ganze Vorarbeit mit der Optimierung des Antriebs über die bestmögliche Sattelposition für die Katz.
Also bleiben uns nur Vorbau und Lenker, wenn wir nicht gleich einen Maßrahmen bestellen wollen. Bei den Vorbauten ist die Auswahl sehr klein, die längsten Vorbauten liegen bei 150 mm und häufig sind schon 80er- oder 100er-Vorbauten verbaut, der Längengewinn ist also nicht sehr groß.
Der Lenker bietet oft mehr Möglichkeiten. Viele Lenker sind nach hinten gekröpft. Ein gerader Lenker kann da schon mal 6–8 cm Gewinn rausschlagen. Keine Angst vor geraden Lenkern. Solange die Lenker nicht übermäßig breit sind, ist bei geneigter Rückenhaltung die Handachse auf dem Lenker fast im rechten Winkel zur Fahrtrichtung, manchmal sogar umgedreht nach vorn gekröpft, nämlich dann, wenn man in den Ellenbogengelenken einfedert.
Leider werden die meisten feststellen, dass die gewonnene Länge dann immer noch nicht ausreicht. Und ein bisschen Ergonomie geht nicht. Wenn wir die Ergonomie am Fahrrad nicht konsequent zu Ende denken, bleiben wir in der sehr großen Grauzone stecken, die uns keine vernünftige Rückmeldung über »geht« oder »geht nicht« gibt.
In den Beratungen erlebe ich immer wieder, dass sich ein Aha-Erlebnis erst einstellt, wenn man schon sehr dicht am Optimum dran ist. Hat man aber die 98 % erreicht, kommt vom Kunden oft ein »Geht das noch länger?!« In dem Moment merkt der Körper die Verbesserung!
Im Zweifelsfall ist die korrekte Lenkerhöhe (die eigentlich eine Tiefe ist) fast noch wichtiger. Kann man die Länge nicht 100-prozentig optimieren, sollte man sich auf die Lenkertiefe konzentrieren. Die ist nämlich für weitere Unbequemlichkeiten verantwortlich: die schmerzenden Handgelenke.
Es ist ein scheinbares Paradox: Wenn man Druck in den Handgelenken verspürt, denkt man automatisch: Der Lenker muss höher, ich möchte aufrechter sitzen, ich möchte die Hände entlasten, indem ich nicht so viel Last vom Oberkörper aufnehmen muss. Es ist aber genau umgekehrt. Dadurch, dass die Oberkörperneigung durch unsere Schwerpunktlage bestimmt ist, möchte der Körper gar nicht aufrechter sitzen, denn der Schwerpunkt ist ihm heilig. Das Einzige, was passiert, wenn wir dabei einen zu hohen Lenker haben. Wir drücken ständig gegen den Lenker, um ihn aus dem Weg zu bekommen. Die Arme haben keinen Platz, die Schultern werden hochgedrückt, die Arme nach außen weg angewinkelt, alles, um die Oberkörperneigung auf jeden Fall beizubehalten.
Das Ziel muss sein, die Oberkörperneigung in der oben genannten ausbalancierten Position zu halten und dabei mit freien und leicht fallenden Schultern den Lenker genau dort vorzufinden, wo die Arme zu Ende sind. Meistens ist der Lenker dann deutlich unter der Sattelhöhe.
Wer lange Beine hat und eine hohe Satteleinstellung fährt, muss nicht unbedingt einen hohen Lenker haben, denn die Arme sind dann auch lang und reichen entsprechend weit nach unten. Die Höhendifferenz zwischen Sattel und Lenker ist keine sportliche Leistung, sondern das Ergebnis der Körperproportionen. Wer proportional lange Arme hat, fährt einen deutlich tieferen Lenker als ein kurzarmiger Mensch. Die Toleranz für die korrekte Lenker»tiefe« liegt im Bereich von ca. 2 cm. Das zeigt, dass die ganzen höhenverstellbaren Vorbauten und ähnliche Konstruktionen nicht zielführend sind (es sei denn, das Rad wird abwechselnd von sehr verschiedenen Menschen gefahren).
Die Lenkerbreite ist eine Modeerscheinung. Es sieht einfach gewaltig und martialisch aus, wenn mit Lenkern über 70 cm Breite gefahren wird. Im MTB-Sport mag es berechtigt sein, damit man einen großen Lenkhebel zur Verfügung hat, aber im Alltag und/oder auf der Langstrecke muss der Lenker zur Schulterbreite passen. Die Breite der Schulter zu messen ist sehr mühselig und ungenau. Viel einfacher ist es, einen Lenker in die Hand zu nehmen und so weit zu greifen, dass die Arme gerade nicht mehr parallel stehen, sondern leicht geöffnet sind. Das reicht. Leider haben viele Lenker nicht genug Platz für die ganzen Armaturen, vor allem wenn die Klemmung oversize ist und der Lenker in der Mitte lange konisch geformt ist. Kleine Personen haben dann das Problem, die richtige Breite einzustellen. Dann sollte man über einen Vorbau- und Lenkertausch nachdenken.
Welches ist die beste Griffposition? Wenn die Hände durch den tiefen Lenker entlastet sind, spielt die Griffposition gar keine so entscheidende Rolle mehr. Gut sind mittlerweile die ergonomisch geformten Griffe. Wichtig ist, dass sie verschraubt sind, sonst verdrehen sie sich aufgrund der Hebelwirkung dauernd. Die Auflagefläche kann man nur während der Fahrt korrekt einstellen, weil man nur beim Fahren genau den Winkel zum Lenker erzeugt, der später unterstützt werden soll. Am einfachsten: Man löst die Klemmung ganz leicht und verdreht beim Fahren die Griffe, bis sie sich angenehm anfühlen. Dann hält man an und schraubt sie fest.
Einen unschlagbaren Vorteil in der Griffposition hat der Rennlenker. Nicht weil er die viel gerühmten »verschiedenen Griffpositionen« anbietet, sondern weil die Handhaltung (Pistolengriffhaltung) mit dem Daumen nach oben auf den Bremsgriffen gleichzeitig den Oberkörper öffnet und weitet. Anders als bei der Haltung mit den Handrücken nach oben. Der Rennlenker wird korrekt immer auf den Bremshebeln oder in der tiefen Griffposition gefahren. Jede andere Position verkürzt die Sitzlänge und ist ein Zeichen für eine falsche Geometrie oder Sitzposition (z. B. falscher Sattel).
Zur Autorin
Juliane Neuß, von Beruf Technische Assistentin für
Metallographie und Werkstoffkunde. Ihre Berufung: Fahrradergonomie und
Fahrräder für kleinwüchsige Menschen. Betreibt seit 1998 die Firma
Junik-Spezialfahrräder, hat sechs Jahre lang die Filiale eines
Fahrradladens in Hamburg geleitet und viele Jahre den Techtalk in der
ADFC-Radwelt geschrieben. Sie ist seit 2016 Inhaberin der
»Fahrradschmiede 2.0« in Clausthal-Zellerfeld, ihrem Heimatort, und hat
dort auch eine Brompton-Spezialwerkstatt.