Ausgabe 36 · Juni 2023
Diesen Artikel als PDF
Selbstverwaltung heute: das Kollektiv »Radwerkstatt radau«
Interview mit Lana, Jonas und Vincent
Das Kollektiv »Radwerkstatt radau« in Marburg ist eine selbstverwaltete Fahrradwerkstatt auf Mitgliederbasis, d. h., zahlende Mitglieder können hier ihr Rad kostenlos reparieren lassen, nur die Ersatzteile werden zum Einkaufspreis berechnet. Der Monatsbeitrag erfolgt »nach Selbsteinschätzung«, angestrebt werden 1,5 % vom Monatseinkommen der Mitglieder. Die drei Kollektivist:innen arbeiten ca. 30 Stunden/Woche und leben ausschließlich von dieser Arbeit.
Wie seid ihr überhaupt zum Fahrrad gekommen?
Wir drei Kollektivmitglieder haben unterschiedliche Wege zum Fahrrad genommen. Der eine übers Mountainbiken, der andere vor allem über DIY-Kontexte, die dritte vom Rad als Freiheit, Orte zu erreichen, vom Reisen, für sich selbst und für andere (Räder für Geflüchtete bauen, solche Dinge).
Hattet ihr eine fahrradspezifische Ausbildung oder wart ihr Autodidakt:innen?
Wir waren am Anfang alle Quereinsteiger:innen. Zwei von uns auch mit diversen Jobs in verschiedenen Radläden, eine davon schließlich doch mit formaler Ausbildung: Meisterschule, der Dritte mit viel Erfahrung aus DIY-Kontexten wie Selbsthilfewerkstatt oder Bambusräderbau.
Wieso einen Laden in Selbstverwaltung/als Kollektiv aufziehen, statt z. B. in einem »normalen« Laden zu jobben?
Wie gesagt, zwei von uns haben das ja zum Teil viele Jahre gemacht. Also: Aus der Erfahrung, manches »so nicht« zu wollen. Dann auch aus einer Verortung und Sozialisierung in linken Politkreisen kommend, in Alternativkultur wie Hausprojekten, selbstorganisierter Fahrradselbsthilfewerkstatt, linkem Kneipenkollektiv und derlei mehr, im Wesentlichen nicht kommerziellen, aber eben durchaus kollektiven Organisationsformen geübt, lag uns diese Form erst einmal nahe. Dann gibt es auch eine Art visionären Hintergrund: viel lieber so arbeiten zu wollen, weil die Welt damit eine bessere wird, weil wir uns damit darin üben, Hierarchien abzubauen, weil es für uns zur Haltung geworden ist und besser zu unserem Menschenbild passt, uns gleichberechtigt und gleichwertig zu begegnen in dem, wie wir uns organisieren, in einem Bereich, in dem wir ja viel Zeit zubringen.
Wie wichtig war euch der ausschließliche Besitz des Ladens in der Hand der Belegschaft? Hattet ihr genug Eigenkapital? Wie war euer Verhältnis zu Banken?
Dass der Laden nur uns gehört, war natürlich Voraussetzung. Angefangen haben wir aus dem Nichts heraus (d. h., wir haben nicht einen bestehenden Laden verkollektiviert) und konnten uns das gar nicht anders vorstellen. Eigenkapital hatten wir fast keines, aber Direktkredite und vor allem große Bereitschaft, am Anfang ohne Bezahlung viel Zeit in das Projekt zu stecken – was u. a. bedeutete, in der Bau- und Planungsphase nebenbei auch kleinere andere Jobs zu haben. Bankkredite brauchten wir daher zum Glück keine (wir hätten die aber vermutlich auch nicht kategorisch ausgeschlossen, wenn es uns zur Verwirklichung notwendig erschienen wäre).
Gibts Beziehungen zu anderen linken, anarchistischen etc. Gruppen oder war die Ladengründung schlicht eine pragmatische Möglichkeit, einen Job zu haben?
Beziehungen zu anderen Gruppen gibt es, wenn auch nicht in Form einer starken Vernetzung. Lokal gibt es in unserer kleinen Stadt durchaus einige andere Kollektivbetriebe, mit denen wir gut und teilweise freundschaftlich/persönlich verbunden sind. Die Suche nach den Bedingungen für einen aus unserer Sicht wirklich guten Job stand aber durchaus (auch) im Fokus. Mittlerweile sind wir aber auch Teil einer bundesweiten Vernetzung von Kollektivbetrieben.
Habt ihr auch »Angestellte«? Wenn ja, gibts da Probleme?
Nein, wir haben keine Angestellten. Wenn wir uns vergrößern wollen (was aktuell tatsächlich geschieht), dann können wir uns das nur über eine Vergrößerung des Kollektivs vorstellen.
Wie laufen schwierige Entscheidungsfindungen: Sind alle an allen Diskussionen gleichberechtigt beteiligt? Gilt das Konsensprinzip?
Auf jeden Fall gilt Konsens. Da wir nur zu dritt sind, ist das oft auch gar nicht so schwierig. Wir treffen uns dazu alle zwei Wochen donnerstagvormittags. Formal sind wir alle gleichberechtigt. Was dann doch an informellen Hierarchien besteht, versuchen wir zu identifizieren und bestenfalls abzubauen (wobei das natürlich nicht immer so leicht ist und vermutlich nie fertig wird, sondern work in progress bleibt).
Alltag in einer selbstverwalteten Radwerkstatt – was ist anders als in einer »normalen« Werkstatt? Was hebt sich positiv von der Arbeit in einer »normalen« Fahrradwerkstatt ab?
Die Unterschiede sind aus unserer Sicht durchaus groß, gerade im Alltag. Wir brauchen im Grunde nie irgendwelche Vorgaben umsetzen, hinter denen wir nicht stehen. Tatsächlich nutzen wir die Freiheiten, alles selbst gestalten und entscheiden zu können oft und gestalten auch die praktische Arbeit merklich anders als normale Fahrradwerkstätten. Das fängt bei so banalen Dingen wie der Auswahl der Produkte, die wir verkaufen, an (das tun wir natürlich trotz Kapitalismuskritik ständig ;). Wenn uns ein Hersteller ob seiner politischen Einstellung nicht gefällt, können wir einfach entscheiden, ihn nicht zu führen. Wenn wir den Gedanken, besonders nachhaltige, langlebige Produkte zu vertreiben, wichtig finden, können wir gezielt danach suchen, Erfahrungen sammeln, diese wieder in neue Entscheidungen einfließen lassen etc. Wir können uns insbesondere auch bewusst dafür entscheiden, in mancher Hinsicht unwirtschaftlich zu sein – was sich konkret in der Art der Reparaturen, die wir durchführen, bemerkbar macht.
Vieles, was wir tun, würden andere Radwerkstätten aus wirtschaftlichen Gründen ablehnen. Der sichtbarste Unterschied ist übrigens eine andere Besonderheit unseres »Ladens«, der übrigens vor allem kein Fahrradladen, sondern eine Fahrradwerkstatt ist: Wir nennen uns »Solidarische Fahrradwerkstatt« in Anlehnung an Solidarische Landwirtschaften und Co., d. h., wir sind eine Mitgliederwerkstatt. Die Mitglieder (es sind aktuell etwa 450) zahlen einen monatlichen Beitrag, was tatsächlich unsere einzige Nettoeinnahme ist. An einer einzelnen Reparatur verdienen wir nichts, Ersatzteile gibt es zu unserem Einkaufspreis – aber all das eben nur für unsere Mitglieder. So finanzieren alle Mitglieder in Summe solidarisch unseren Betrieb und wir sind nicht einmal darauf angewiesen, Umsatz im engeren Sinne zu generieren.
Auf diese Weise haben wir sogar ein wirtschaftliches Interesse daran, die Räder so zu reparieren, dass sie möglichst lange nicht wieder in die Werkstatt müssen, was nicht nur einem Nachhaltigkeitsgedanken entspricht, sondern wie nebenbei auch meistens gleichzeitig im Interesse unserer Mitglieder ist. So verschwindet gerade in den Alltagssituationen das subtile Gegeneinander, was sonst in jedem noch so netten Radladen unweigerlich durch den Kapitalismus hereinkommt. Auch hier: Wir machen das vor allem deshalb so, weil diese Art zu arbeiten für uns angenehmer ist und wir eben nicht darauf angewiesen sind, Dinge zu reparieren, umzubauen, nachzurüsten oder Dinge zu verkaufen, hinter denen wir nicht stehen würden oder die wir für nicht nachhaltig halten. Oder: So »lohnen« sich Reparaturen sowohl an alten, heruntergekommenen Rädern als auch an teuren Wettkampfrädern. Die Bandbreite an Reparaturen und auch deren Tiefe ist bei uns deutlich größer als in jedem anderen Laden, den wir kennen.
Wie wird der Ertrag verteilt? Gibt es eine gemeinsame Kasse, einen Einheitslohn oder einheitlichen Stundenlohn?
Es gibt einen einheitlichen Stundenlohn (von zurzeit ca. 10 Euro), wobei wir uns hier weitgehend so behandeln, als wären wir Arbeitnehmer:innen. Wir haben Stundenkonten, Urlaubstage, Lohnfortzahlung bei Krankheit und der Stundenlohn ist ein Nettolohn. Steuern und Abgaben übernimmt in jedem Fall komplett der Betrieb.
In manchen selbstverwalteten Läden galten »Entprofessionalisierung« und »Arbeitsplatzrotation« als wichtiger Grundsatz. Gibt es solche Ansätze bei euch oder habt ihr euch im Kollektiv jeweils schnell spezialisiert, sodass eine:r nur Werkstatt, eine:r in erster Linie Einkauf oder nur Buchhaltung macht?
Wir sind da nicht sehr dogmatisch, verfolgen aber durchaus die Idee, dass jede:r alles können sollte, oder zumindest ausreichend Einblick in die verschiedenen Bereiche hat, um da auch gut mitreden zu können. Wir wollen es aber auch gleichzeitig nett miteinander haben und schauen, dass wir auf unsere Bedürfnisse gucken können. Wer weniger gerne Kund:innengespräche führt, macht das auch weniger (aber eben nicht gar nicht), die Buchhaltung rotiert aktuell nur zwischen zweien von uns und auch andere Verwaltungsaufgaben werden mitunter vorwiegend von nur Einzelnen gemacht. Aber eben vorwiegend. Als Entprofessionalisierung würden wir das nicht unbedingt beschreiben: Wir sehen uns schon in der Rolle der Profis, also derer, die hier mit besonderem Fachwissen und Können Arbeiten tun, die unsere Kund:innen ja eben darum uns überlassen. Schließlich sind wir auch ein Meisterinbetrieb (wobei das auch dem Meisterzwang in Deutschland geschuldet ist).
Wie läuft das mit dem Einstieg neuer Kollektivmitarbeiter:innen oder dem Ausstieg alter. Müssen neue Kapital mit einbringen, werden Aussteiger ausbezahlt?
Der Einstieg ist vor allem in der Kennenlernphase kompliziert: Wir wollen uns schon wirklich sicher sein, dass wir zusammenpassen. Kapital mitbringen muss mensch nicht, Anteile werden auch nicht ausgezahlt, aber wir haben eine (sehr kleine) Abfindungsregelung, die es Aussteigenden in einem Übergang zu neuen Projekten leichter machen soll. Tatsächlich hatten wir den Fall erst einmal (ein Gründungsmitglied stieg nach einem Jahr aus, eine neue Person trat ungefähr zu diesem Zeitpunkt ein).
Wie ist die Zusammenarbeit mit anderen kollektiven Fahrradprojekten?
Wir kennen nicht viele. Eine recht enge Zusammenarbeit findet jedoch mit einer lokalen Lastenradinitiative statt, über die Menschen kostenlos Lastenräder leihen können.
Warum gibt es nicht mehr Fahrradläden/Werkstattbetriebe, die als Kollektiv organisiert sind?
Das wüssten wir auch gern – und sind (mit unseren durchaus knappen zeitlichen Ressourcen) hoch motiviert, anderen beratend Starthilfe zu geben, wenn sie wollen. Wir finden auf jeden Fall: Es sollte viel mehr solcher Betriebe wie den unsrigen geben :)
Das Interview führte Stefan Buballa.