Ausgabe 36 · Juni 2023

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Hamburger im Radlhimmel

von Tobias Haas

Stadt Hamburg an der Elbe Auen,
wie bist du stattlich anzuschauen
mit deiner Türme hoch Gestalt
und deiner Schiffe Mastenwald …

Das ist die Strophe des Hamburg Lieds. Etwas moderner:


Wo die weite Welt vor der Haustür beginnt,
liegt die Stadt mit der Nase im Wind

Voller Stolz blicken die Hamburger auf ihre Stadt. Wie selbstverständlich erwarten sie von Besuchern, dass die überschwänglich in das Lob über die schönste Stadt der Welt einstimmen.


Die Binnen-Alster und die Mö′
Den Fischmarkt morgens früh um acht
Die Reeperbahn um Mitternacht …

Die »schönste Stadt der Welt«

Was könnte es denn Schöneres geben? Ob das wirklich so ist, mag dahingestellt sein. Wenn man lange genug in Hamburg lebt, dann ist man irgendwann davon überzeugt, in der schönsten Stadt der Welt zu leben – auch wenn man als Fahrrad fahrender Mensch jeden Tag damit klarkommen muss, bestenfalls Verkehrsteilnehmer zweiter oder sogar dritter Klasse zu sein. Denn es gibt in dieser »schönsten Stadt der Welt« keinen vollständigen Fahrradweg um die Außenalster. Am Fischmarkt führt der Weg über ein Kopfsteinpflaster, das Zähne und Knochen zum Klappern bringt. Bei der Sanierung der Reeperbahn ist der Fahrradweg einfach vergessen worden. Und es gibt keinen Fahrradweg entlang der westlichen Magistrale vom Stadtzentrum in die Elbmarsch, weder an der edlen Elbchaussee, am Elbstrand darunter noch an einer der nördlichen Parallelstraßen wie der Holländischen Reihe oder der Bernadottestraße. Dies wird zwar immer wieder versprochen, doch die Planungen sind seit Jahren in den Tiefen der Hamburger Bürokratie stecken geblieben. Und wer kann schon sagen, wann sie da wieder herauskommen werden.

Aber halt! Warum weinen und klagen? Wer sollte denn meckern über das Kopfsteinpflaster am Fischmarkt? Entschädigt nicht der Blick auf den Hafen »so groß wie das Herz einer Mutter«? Welcher Banause schimpft über den fehlenden Radweg an der Alster angesichts des Panoramas mit der »Türme hoch Gestalt«? Sollte nicht das frohe Treiben auf der Reeperbahn dafür entschädigen, dass die Planer bei der Sanierung der sündigen Meile vor einigen Jahren den Radweg schlicht vergessen haben?

Der Hamburger Autofahrer mag die Schönheiten seiner Stadt genießen, wenn der Blick vom beheizten Fahrersitz aus dem Innern des rollenden Wohnzimmers heraus- und umherschweift. Der Hamburger Radler dagegen plagt sich, zwar von Schönheit beflügelt, aber immer wieder von rücksichtslosen Autofahrern bedrängt durch die alltäglichen Schwierigkeiten und über alle Hindernisse, die ihm die Verkehrsplaner seiner Stadt in den Weg stellen: Fahrradwege, die völlig unvermittelt enden, die vom Wurzelwerk der Bäume in dieser wunderschönen grünen Stadt zernagt sind. Sie lassen einen Cross-Country-Parcours harmlos erscheinen. Ganz toll: neu gebaute Fahrradwege, bei denen die Planer auf der kürzesten Entfernung alle Möglichkeiten der Verkehrsführung ausprobiert haben, um den Radfahrern immer neue Herausforderungen zu bieten.

Bild 1: Hamburg: Fahrbahn geräumt – und was ist mit dem Radstreifen?

Hamburger Fahrradalltag

Welchen Reim macht sich der Schreiber dieser Zeilen und begeisterte Fahrradfahrer auf diese Verhältnisse? Eine so schöne Stadt muss doch von fähigen und motivierten Menschen regiert und verwaltet werden? Hinter all dem Wahnsinn muss System stecken? Denn sitzen nicht die Grünen seit Jahren in der Stadtregierung? Wahrscheinlich sind die Planer in den Hamburger Behörden einfach nur begeisterte Mountainbiker, die Hamburg in einen riesigen Bikepark voller Challenges verwandelt haben. Oder geht es einfach nicht besser? Vielleicht sind die Regeln des Planungsrechts zu rigide, die Einwände der Bürger zu vielfältig, die Kosten zu hoch? Vielleicht dauert das alles nur ein bisschen länger! Zwar hat der Autor gelegentlich die Niederlande und Dänemark befahren und die dortigen Verhältnisse bewundernd zur Kenntnis genommen. Aber die haben auch keine Automobilindustrie, sind pragmatischer, haben mehr Geld. So kämpfte sich der Autor geduldig Tag für Tag durch die schönste Stadt der Welt, ertrug geduldig Holperstrecken, fehlende Radwege, irrwitzige Verkehrsführung und hielt all das für ein Fact of Life, an dem man eben nichts ändern konnte. Ach ja: Auch das besonders rücksichtslose Verhalten vieler Hamburger Autofahrer und der Stadtbusse darf hier durchaus erwähnt werden. Letztere scheinen es besonders darauf abgesehen zu haben, lästige Fahrradfahrer mit den ausschwenkenden Hecks ihrer Gelenkbusse von der Fahrbahn zu schnippen. All das ertrug der Schreiber dieser Zeilen geduldig bis zu einem denkwürdigen Tag vor einem Jahr.

An diesem Tag trat der Autor einen neuen Job an, wollte noch einmal eine neue Aufgabe übernehmen, ein Riesenteleskop bauen in Chile, die Begeisterung für den Blick auf den funkelnden Sternenhimmel mit dem Beruf verbinden. Diesem Ereignis war eine längere Findungsphase vorangegangen, denn der neue Job hatte eine fast unvorstellbare Voraussetzung: einen Umzug nach München, in die bayerische Landeshauptstadt. Was erwartet ein Hamburger von München? Eigenartige Trink- und Essgewohnheiten, singende Horden in Biergärten, wenig Grün und viel Grau, Betrunkene in Dirndl oder Lederhosen, viele Menschen, die kein ordentliches Deutsch beherrschen, und auf jeden Fall viele, viele Autos. Denn welcher Hamburger ist noch nicht auf dem Weg in die Skiferien in München im Stau gestanden? Dass allerdings München Hamburg bei der Verkehrswende um einiges voraus sein könnte, erwartet ein Hamburger ganz bestimmt nicht. Und doch ist es genau das, was der Autor in den ersten Monaten unter dem Himmel »weiß und blau« voller Überraschung feststellen musste.

Münchener Überraschung

Doch eins nach dem anderen: An einem eisigen Tag im Februar reiste der Autor mit Fahrrad im ICE von Hamburg nach München, um seinen neuen Job anzutreten. Vorübergehend bezog er eine Wohnung im Städtchen Garching. Die Wohnung lag nah am Arbeitsplatz, aber weit draußen im Norden der Stadt. Von dort durchstreifte er in den folgenden Wochen allabendlich die Stadt auf der Suche nach einer geeigneten dauerhaften Bleibe. Diese sollte bezahlbar sein und so gelegen, dass der Arbeitsweg in Zukunft radelnd zurückgelegt werden könnte. Mithilfe von komoot.com berechnete er für jedes Wohnungsangebot die Distanz und bewertete die Eignung der Strecke. Die Wohnungsbesichtigung bot dann die Möglichkeit, die Strecke auszuprobieren. Auf diese Weise schied das ein oder andere Wohnungsangebot aus, bevor sich eine Wohnungstür geöffnet hatte. Verblüffend dabei: Der Grund war fast immer, dass der Weg zu lang war, und fast nie, dass der Weg schwierig, ungeeignet oder unattraktiv gewesen wäre. Der Autor stellte mit Erstaunen fest, dass ein gut gepflegtes Netz von Radwegen die bayerische Landeshauptstadt durchzieht. An vielen Stellen sind diese Fahrradwege aber nicht nur gut geführt und gepflegt, teilweise sind diese Wege geradezu spektakulär. Da gibt es den mittleren und den inneren RadlRing, der die gesamte Stadt umschließt.

Bild 2: Berufsverkehr auf dem RadlRing

Der Weg von Norden in die Innenstadt führt an der Magistrale, der Leopoldstraße, entlang und bietet wunderschöne Aussichten auf die Sehenswürdigkeiten der Stadt, den Triumphbogen, die kleine bayerische Schwester des Brandenburger Tors, die Theatinerkirche, das Rathaus und die Frauenkirche. Vom Odeonsplatz direkt vor der Feldherrnhalle führt ein gut ausgebauter Weg nach Westen zum Nymphenburger Schloss entlang der Brienner und der Nymphenburger Straße. An der Isar kann man einmal von Süden nach Norden durch die Stadt fahren, teilweise durch den Englischen Garten, wo sowohl für Fußgänger als auch für Radfahrer Wege ausgewiesen sind. Und wenn der Radler die ausgewiesenen Fußwege meidet, gibt es auch vergleichsweise wenig Konflikte mit den Fußgängern. Weniger spektakulär, aber immer sicher und gepflegt geht es an der Dachauer Straße nach Nordwesten zum Stadtteil Moosach. Selbst am berühmt-berüchtigten Mittleren Ring sind die Radwege von guter Qualität. Sogar an der Landshuter Allee, Rekordhalterin in Sachen Feinstaub, kann man ruhig und sicher radeln, auch wenn man das aus gesundheitlichen Gründen nicht allzu oft tun sollte. Schließlich gibt es an fast allen U- und S-Bahn-Haltestellen ausreichend Abstellplätze für Fahrräder, ausgestattet mit soliden Bügeln, an denen man sich traut, ein besseres Fahrrad für ein paar Stunden zurückzulassen.

Bild 3: München: Fahrradabstellmöglichkeiten am S-Bahnhof Münchner Freiheit

Wenn man im Münchener Verkehrsverbund nicht extra für die Mitnahme des Fahrrads zahlen müsste, wäre das Glück fast perfekt.

München: fast perfekt?

Nach einigen Wochen intensiver Wohnungssuche wurde der Autor schließlich fündig und bezog im Stadtteil Neuhausen ein gemütliches Apartment. Vor dem Haus gibt es einen überdachten Fahrradabstellplatz. Der Weg zur Arbeit ist 18 km lang und gerade noch fürs Radeln geeignet. Im Münchener Stadtgebiet verläuft der Weg auf guten Radwegen, teilweise entlang großer Straßen, aber auch durch den Olympiapark und auf dem mittleren RadlRing, der als Fahrradstraße ausgebaut ist. Die Wege sind gepflegt, fast immer frei von Autos und im Winter meistens geräumt. Beim Verlassen der Landeshauptstadt allerdings wird der Radweg zum Schutzstreifen entlang der Freisinger Landstraße. Autos und Lkw rasen mit Minimalabstand vorbei. Schließlich wechselt der Weg mehrfach die Straßenseite. Das verlangt Warten, Schauen, Warten, Schauen … Im Ortsgebiet der Gemeinde Garching schließlich gibt es keinen Radweg mehr und viele motorisierte Mitmenschen sind der Meinung, dass an dieser Stelle der Radfahrer doch besser auf dem breiten Gehweg aufgehoben wäre … »Gott mit Dir, du Land der Bayern …«

Bild 4: Fahrradparkhaus am S-Bahnhof Garching

Enklave in Bayern

So bleibt die Stadt München in Bayern trotz alledem eine Enklave und anderswo in Bayern ticken die Uhren etwas langsamer. Nicht überall gibt es so viele aktive Bürger, die ihre Stadt zurückhaben wollen und die von ihrer Stadtregierung zügiges und konsequentes Handeln für die Mobilitätswende verlangen. In München ist das unter anderem durch einen Radentscheid geschehen, den 160.000 Bürgerinnen und Bürger 2019 unterschrieben haben. Die Forderungen des Radentscheids hat der Stadtrat tatsächlich vollumfänglich beschlossen [1]. Trotzdem bleibt auch in München viel zu tun: Der Weg durch die Altstadt innerhalb des Altstadtrings ist wegen der Fußgängerzone an vielen Stellen nur schiebend zu bewältigen und der versprochene Radweg entlang des Altstadtrings wird erst 2025 fertig sein, um nur ein Beispiel zu nennen.

Die Auswirkungen dieser Entwicklungen kann der Autor Tag für Tag beobachten: Die Radwege in der Stadt werden intensiv genutzt. Zwar herrschen in München noch keine Kopenhagener oder Amsterdamer Verhältnisse, aber die Münchener bewerten die Bedingungen fürs Fahrradfahren nur knapp hinter denen für den öffentlichen Nahverkehr und deutlich besser als für die Autonutzung [2] . München ist inzwischen die einzige deutsche Großstadt, in der der automobile Individualverkehr tatsächlich zurückgeht. Auf den Fahrradwegen führt das zu einer hohen Verkehrsdichte. Die Nutzer haben daraus ihre eigenen Lehren abgeleitet: Die Langsameren halten sich meist diszipliniert auf der rechten Seite, sodass die Schnelleren überholen können. An Kreuzungen warten die allermeisten mit genug Abstand, sodass der kreuzende Radverkehr durchfahren kann – alles selbst organisiert and hocheffizient. Wer behauptet, dass immer alles in der Straßenverkehrsordnung im Detail geregelt sein müsste?

Mobilitätswende mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten

Was bedeutet nun all das? Der Autor zieht aus seinen Beobachtungen in München den Schluss, dass eine Großstadt mit Beharrlichkeit und gutem Willen selbst im Autoland Deutschland eine funktionierende Radinfrastruktur aufbauen kann. Selbstverständlich sind die Verhältnisse in München nicht ideal und ein Vergleich mit der Situation bei den Nachbarn in Dänemark oder in den Niederlanden fällt auch für München nicht vorteilhaft aus. Aber immerhin hat man sich hier auf den Weg gemacht und ein gutes Stück auf diesem Weg zurückgelegt. Hamburg hat da viel aufzuholen. Zwar gibt es auch dort inzwischen Fortschritte. Aber was in den letzten Jahrzehnten dort verschlafen wurde, wird in ein paar Jahren nicht aufgeholt sein … insbesondere dann, wenn es dort im gleichen Schneckentempo vorwärts geht wie in den letzten Jahren.

Zum Autor

Tobias Haas, Jahrgang 1961, ist Physiker und Fahrradfahrer. Er lebt in Hamburg und München und genießt den Luxus einer BahnCard 100. Auf seinen Bahnfahrten begleitet ihn sein schickes Brompton-Faltrad. In der Freizeit ist er dann auch mal auf Rennrädern und MTBs unterwegs oder mit dem Segelboot auf Ostsee, Nordsee und Atlantik. Auch an Bord reist das Faltrad immer mit.

Anmerkungen

  1. Der Radentscheid München hatte das Ziel, durch ein Bürgerbegehren einen Bürgerentscheid bzw. einen Rathausbeschluss herbeizuführen, durch den die Fahrradinfrastruktur in München gestärkt werden soll. Am 24. Juli 2019 beschloss der Münchner Stadtrat die Übernahme der vom Bürgerbegehren angestrebten Ziele.
  2. Kurzreport von infas, Institut für angewandte Sozialwissenschaft GmbH, im Auftrag des Bundesministeriums für Verkehr und Digitale Infrastruktur, April 2019