Ausgabe 36 · Juni 2023
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Aufstieg und Fall der Selbstverwaltungsbewegung
Keine Frage: Das Entstehen »selbstverwalteter Betriebe« in den 1970er und 1980er Jahren war eine Reaktion junger Menschen auf die verkrusteten gesellschaftlichen Verhältnisse, auf hierarchische Strukturen, die so gar nicht zu den Idealen der antiautoritären Bewegung dieser Zeit passen wollten. Alternative Buchläden, Kneipen, Handwerkskollektive, aber auch Fahrradgeschäfte schossen wie Pilze aus dem Boden. Gründerzeit!
Entwicklung wichtiger als Profit
Die Grundidee: Wirtschaften muss anders gehen als über Ausbeutung von Mensch und Natur und Profitmaximierung. Auch das Wachstumsdogma kapitalistischer Ökonomie wurde infrage gestellt. Die große Ausstrahlung und Kraft bekam die Bewegung aber vor allem durch das andere Menschenbild und eine Philosophie, die sich mehr an der Entwicklung des Menschen orientierte. Humanitäre Werte wie Solidarität, Vertrauen, Sinnorientierung und Kooperationsbereitschaft waren zentrale Gedanken. Heute würden wir wahrscheinlich den ausgelatschten »Nachhaltigkeitsbegriff« bemühen, denn es ging ausdrücklich auch um Ökologie und Umweltverantwortung. Es gab ein umfassenderes Verständnis von Wirtschaft, mehr im Sinne von verantwortungsvollem »Haushalten«, also keine Verschwendung von Ressourcen, keine Wegwerfgesellschaft, dafür Langlebigkeit, Mülltrennung und Recycling. Ein wichtiges Thema war auch die gleiche Bezahlung aller Kollektivisten, egal, welche Tätigkeiten sie im Betrieb ausführten. Und zumindest in der Anfangszeit machte ohnehin jede*r alles: Klo putzen, Fahrräder reparieren, Kund*innen beraten, Bestellwesen … Rotationsprinzip.
Widerstände schmieden zusammen
Über alle individuellen Unterschiede hinweg schaffte die gemeinsame Philosophie ein Gefühl der Zusammengehörigkeit. Dies umso mehr, als dass es natürlich auch Anfeindungen von außen gab. Lieferanten wurden unter Druck gesetzt, »die Alternativen« nicht zu beliefern. Das spornte die Akteure der Bewegung an, Dinge selbst in die Hand zu nehmen. In der Fahrradbranche haben VSF-Mitglieder deshalb Mitte der 1980er Jahre beispielsweise einen Großhandel gegründet und auch eine eigene Fahrradmarke, die VSF Fahrradmanufaktur. Der äußere Druck führte aber auch zu weiteren Solidarisierungseffekten, sodass man sich auch emotional als Teil einer (weltweiten) Alternativbewegung fühlte, denn ähnliche Entwicklungen gab es auch in anderen Ländern.
Innere Konflikte
Die Selbstverwaltungsbewegung war von Anfang an also durchaus politisch, auch wenn sie bei vielen mehr aus einem Bauchgefühl heraus angetrieben war als von einer gemeinsamen Ideologie. Das politische Verständnis zielte in drei Richtungen: einmal die Ablehnung funktionaler Hierarchien und autoritärer Strukturen (»Chef befiehlt, wir folgen«). Dann die Suche nach neuen, kollektiven Formen des Arbeitens (Beziehungsebene) und der Überwindung von einengenden und strengen Arbeitsteilungen (Selbstverwirklichung, Lernprozesse, Horizonterweiterung). Und schließlich der ökologische Ansatz (umweltverträglich leben, Fahrrad statt Kfz, reparieren statt wegwerfen, Selbsthilfewerkstatt). In dieser Melange hatten die Akteure natürlich unterschiedliche individuelle Schwerpunkte – entsprechend gab es in den Teams hierüber auch immer wieder (teilweise erbitterte) Auseinandersetzungen. Kein Wunder: Schließlich ging es dabei auch um ganz persönliche Werte. Viele Betriebe von damals haben in ihrer Entwicklung mehrmals »Häutungen« durchlebt, bis eine stabile, funktionierende Linie gefunden war.
Apropos persönliche Werte: Teile der Selbstverwaltungsbewegung waren anfangs deutlich antikapitalistisch eingestellt, und zwar in einer moralisierenden Art und Weise. »Geld verdienen«, und sei es mit harter, selbstverwalteter Arbeit, war irgendwie igitt. Man wollte ja die »Kunden nicht übervorteilen«. Das führte innerhalb der Teams auch zu Brüchen, denn spätestens wenn die Kollektivisten Kinder bekamen und eine Familie gründeten, ergaben sich individuell ganz neue Blickwinkel, Schwerpunkte und Notwendigkeiten. Und »Geld verdienen« wurde durch die soziale Komponente plötzlich moralisch positiv aufgeladen. Dennoch wurden diese Streite vielfach mit großer persönlicher Härte ausgetragen. Toleranz und Akzeptanz? Fehlanzeige. Die mussten erst eingeübt werden.
Günstige Zeiten für Bereitschaft zum Risiko
Trotz aller Auseinandersetzungen ist es eigentlich erstaunlich, mit wie viel Mut, Risikobereitschaft, persönlichem Einsatz und Selbstvertrauen die Akteure von damals die Umsetzung ihrer Ideen angepackt haben. Dafür gab es persönliche Gründe, gesamtökonomische, aber auch rechtliche. Auf der individuellen Ebene kann man sagen, dass die meisten Beteiligten anfangs vergleichsweise jung und meistens familiär ungebunden waren. Das machte sie nur sich selbst gegenüber verantwortlich und recht flexibel. Sie konnten das Maß ihres Engagements weitgehend selbst bestimmen – bis hin zur Selbstausbeutung, die fast schon Standard war. Ökonomisch waren die »Wirtschaftswunderzeiten« der 1970er und 1980er Jahre auch dadurch geprägt, dass man – bescheidene Ansprüche vorausgesetzt – einerseits mit wenig Geld über die Runden kommen konnte und andererseits sich meistens gutes Geld nebenbei verdienen konnte, sei es für den eigenen Lebensunterhalt oder, um Investitionskapital für ein »selbstverwaltetes Projekt« anzusparen.
Was ebenfalls vorteilhaft war: Das Leben war nicht so bürokratisch wie heute, man meldete einfach ein Gewerbe an und gut war. Auch das Haftungsrecht war noch nicht so ausdifferenziert entwickelt, ein Unternehmensrisiko, das man heutzutage schon als recht hoch einschätzen muss. Ein weiterer Aspekt: Wir haben uns damals über solche Dinge auch nicht zu sehr den Kopf zerbrochen. Das kann man jugendliche Naivität nennen, doch die war extrem hilfreich und sogar notwendig. Mit der heute weitverbreiteten Bedenkenträgerei wären viele Projekte gar nicht erst begonnen worden. Und das wäre schade gewesen.
Erfolge und Herausforderungen
Die Bewegung der selbstverwalteten Fahrradbetriebe war durchaus eine Erfolgsgeschichte. Einmal durch die Lernprozesse im Laufe der Entwicklung. Klar, es sind auch einige gescheitert, menschlich wie ökonomisch. Aber als Bewegung überwiegt das Positive. Viele Betriebe haben sich großartig entwickelt, auch wirtschaftlich. Die selbstverwalteten Betriebe haben auch erheblich zu Entwicklungsschüben auf dem Fahrradmarkt insgesamt beigetragen. Sie haben durch ihr Angebot ein Stück weit »Markt gemacht«. Ohne sie hätte es die substanzielle Qualitätsverbesserung von Fahrrädern seit 1985 nicht gegeben. Bremsen, Schaltungen, Bereifungen, Beleuchtung und vieles mehr wurden im Sinne von deutlich mehr Komfort, besserer Wirksamkeit und Langlebigkeit weiterentwickelt. Die Selbstverwalteten haben den Herstellern hier wichtige Impulse gegeben.
Gegen das Aufkommen der Pedelecs vor 20 Jahren gab es in der Bewegung hingegen durchaus Widerstände. Schließlich hatte das Fahrrad durch das Anschrauben eines E-Motors auch ein Stück weit seine »Unschuld« verloren. So gab es bis vor Kurzem noch etliche Fahrradläden in Deutschland, die grundsätzlich keine Pedelecs verkauften. Für eine solche Entscheidung gibt es nachvollziehbare Gründe. Mittlerweile hat jedoch die veränderte Realität auf dem Fahrradmarkt den Widerstand weitgehend zusammenbrechen lassen. Kunden erwarten heutzutage einfach auch Pedelecs in einem Fahrradgeschäft. Für Verbraucher ist dies zumeist keine »Glaubensfrage«. Der Nachbar hat halt auch eins.
Kontrast zur heutigen Zeit
Trotz ihrer Erfolge ist nicht zu übersehen, dass es heute keine Selbstverwaltungsbewegung mehr gibt. Das hat auch viel mit dem Wandel des Zeitgeistes zu tun. Das Lebensgefühl der 1970er Jahre ließ (fast) alles möglich erscheinen. Es ging aufwärts in Deutschland: Wirtschaftswachstum, Vollbeschäftigung, Optimismus. Heute wirkt unsere Gesellschaft angstgetrieben und Zukunftssorgen stehen blockierend im Vordergrund. Wann steht die nächste Katastrophe an? Die Globalisierung verunsichert nach wie vor, hinzu kommen Corona, Inflation, Krieg in Europa – und natürlich die Klimaerhitzung. Dies ist kein Klima von Leichtigkeit, in dem man auch mal etwas Neues ausprobieren will und dafür zum Risiko bereit ist. Dieser Zeitgeist macht Menschen tendenziell eng (Ausnahmen bestätigen die Regel, es gibt auch Fatalismus).
Learnings und Vermächtnis
Warum ist die Selbstverwaltungsbewegung »untergegangen«? Jede Zeit hat ihre gesellschaftlichen und sozio-kulturellen Besonderheiten. In den 1970er und 1980er Jahren waren die Rahmenbedingungen günstig für das Entstehen einer Bewegung, die es heute so nicht mehr gibt. Das ist aber kein generelles Scheitern. Zugegeben: Einige Ideen haben den Realitätstest nicht bestanden, beispielsweise die gleiche Bezahlung für sämtliche Mitarbeitende, unabhängig von der Art der Tätigkeit. Auch das Rotationsprinzip hat sich in der Praxis nicht bewährt, weil verschiedene Menschen nun mal unterschiedliche Fähigkeiten mitbringen. Andere Grundgedanken sind heute gesellschaftlich zum Mainstream geworden, zumindest in Ansätzen. Das gilt zum Beispiel für die Themen Work-Life-Balance, sinnstiftende Arbeit, Rahmenbedingungen der Arbeit – Aspekte, die besonders aktuell in den Zeiten des Fachkräftemangels auch in der »normalen« Arbeitswelt eine Rolle spielen.
Vom ursprünglichen Kollektivansatz der Selbstverwaltungsbewegung haben sich einige Gedanken jedoch in deutlich abgeschwächter Form durchgesetzt, nämlich als Kooperationsgedanke. In der Fahrradbranche haben sich Formen der Kooperation und des Austauschs durchgesetzt, die vor Jahrzehnten noch undenkbar gewesen wären, als der Konkurrenzgedanke zwischen den Fahrradhändlern absolut im Vordergrund stand. Besonders ausgeprägt ist dies innerhalb des »Verbund Service und Fahrrad« (so hat sich der Verbund selbstverwalteter Fahrradbetriebe 2010 umbenannt), aber auch bei zwei weiteren, noch deutlich größeren Händlerverbänden. So hat die Selbstverwaltungsbewegung in der Fahrradbranche, aber auch in unserer Gesellschaft durchaus ihre positiven Spuren hinterlassen.
Ausblick für die Fahrradbranche
Was hat die Bewegung der Selbstverwaltung aus heutiger Perspektive eigentlich »gebracht«? Positiv ist sicherlich, dass sie eine verkrustete und wenig sich selbst reflektierende Branche aufgemischt und befruchtet hat. Sie hat zu Qualitätsverbesserungen geführt und mit dazu beigetragen, dass die Branche mehr zu ihrem Produkt steht und manche auch den verkehrspolitischen Kontext erkannt haben. Zwar hat sich das Konzept der Selbstverwaltung innerhalb der Branche nicht durchsetzen können, aber das Thema Mitarbeitende hat klar an Bedeutung gewonnen, auch wegen fehlender Fachkräfte.
Generell geändert hat sich die Struktur der Unternehmen im Fahrradeinzelhandel. Waren es früher meist inhabergeführte Geschäfte mit 3–5 Mitarbeitenden, so reicht die Bandbreite heute von Einpersonenbetrieben über Familienunternehmen bis hin zu Franchiseketten und Zusammenschlüssen riesiger Firmen mit extrem großer Einkaufsmarktmacht. Ohne EDV-gestützte Warenwirtschaft läuft nichts mehr. Der Onlinehandel von Fahrradprodukten macht stationären Fahrradhändlern das Leben nicht leichter. Der Einstieg von Unternehmen aus dem Automotive-Bereich (mit seiner ganz anderen Unternehmenskultur) hat den Markt ebenso verändert wie der Erfolg einiger Fahrradmarken mit Direktvertrieb unter Umgehung des stationären Einzelhandels. Die Zeiten bleiben spannend.
Zum Autor
Albert Herresthal, Jahrgang 1955, aufgewachsen in Hamburg, ist seit 1981 in der Fahrradbranche aktiv. Der studierte Sozialpädagoge gründete 1981 das »Kollektiv Rostige Speiche« und einen Fahrradladen in Emden. In den 1990er Jahren war er freiberuflich in der Branche tätig, so als Unternehmensberater, als Umwelt-Betriebsprüfer, Produktentwickler, Dozent und Autor. Zugleich entwickelte er den Fernlehrgang Fahrradeinzelhandel für das Forum Berufsbildung Berlin. 1999 wurde er Vorstand und Geschäftsführer des VSF e.V. – damals: »Verbund selbstverwalteter Fahrradbetriebe«. Nach seinem Ausscheiden 2021 gründete er den Informationsdienst Fahrradwirtschaft (IFW) und konzentriert sich in seiner journalistischen Arbeit auf die politische Kommunikation für die Fahrradbranche und die Verkehrswende.