Ausgabe 36 · Juni 2023

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Selbstverwaltete Fahrradläden in Berlin – das Beispiel »Velophil«

Interview mit Rolf Wietzer

Wie bist du überhaupt zum Fahrrad gekommen?

Wie die meisten Jugendlichen hatte ich auch ein Fahrrad. Bis Ende der 1960er Jahre wurde auch noch viel Rad gefahren. Und ich habe schon immer gerne Sport gemacht und mit Ende 20 das Fahrrad als Rennrad neu entdeckt. Neben dem Amateurradsport habe ich auch viele Radreisen in Europa unternommen.

Hattest du eine fahrradspezifische Ausbildung oder warst du Autodidakt?

Ich war Autodidakt. Ursprünglich habe ich Politologie auf Lehramt und Erziehungswissenschaften studiert und auch abgeschlossen. Wichtiger war mir aber statt des Lehrerberufs eher die Jugendarbeit. So habe ich z. B. die erste Drogenberatung im Tiergarten mitgegründet. 1983 war ich auf der Suche nach einer Veränderung, habe Ulrike Saade kennengelernt und schließlich mit ihr zusammen »Velophil« gegründet.

Wieso einen Laden in Selbstverwaltung aufziehen statt zum Beispiel in
einem »normalen« Laden zu jobben?

Ich wollte mich beruflich umorientieren und vor allem maximale Unabhängigkeit, daher die eigene Ladengründung.

Wie wichtig war euch der ausschließliche Besitz des Ladens in der Hand der Belegschaft? Hattet ihr genug Eigenkapital? Wie war euer Verhältnis zu Banken?

Weder das »Fahrradbüro«, in dem ich von 1983 bis 1985 war, noch »Velophil« waren in der Hand der Belegschaft. Es gab wie in fast allen »Kollektivbetrieben« Gesellschafter:innen/Geschäftsführer:innen, die das finanzielle Risiko trugen. »Velophil« war eine Existenzgründung von Ulrike Saade und mir, die von der Berliner Volksbank vorbildlich unterstützt wurde. Die Zahl der Miteigentümer schwankte im Verlauf zwischen fünf und zwei.

Wie war bei der Entstehung der selbstverwalteten Fahrradläden das soziale und politische Umfeld?

Die Läden entstanden in einem eher »linken« Umfeld. Dazu gehörten in der Gründungsphase die »Grünen Radler«, der ADFC, die Alternative Liste (später Die Grünen) etc. Der erste »Velophil«-Laden befand sich in der Jagowstraße 12, in einem Haus, das ich mitbesetzt hatte.

Bild 1: Auf dem Hinterhof in der Jagowstraße: »Velophil«-Ladenfront

Gab es Beziehungen zu neuen sozialen Bewegungen bzw. zu anderen linken, anarchistischen etc. Gruppen oder war die Ladengründung schlicht eine pragmatische Möglichkeit, einen Job zu haben?

Unsere Kontakte bezogen sich hauptsächlich auf die autonome Fahrradszene. Wir gründeten mit anderen Läden nach zwei bis drei Netzwerktreffen den VSF (Verbund selbstverwalteter Fahrradbetriebe).

Gab es anfangs nur gleichberechtigte Mitbesitzer:innen oder doch auch »nur Angestellte«? War das problematisch?

Bei einem hohen Grad an Mitbestimmung (bis heute!) gab es immer die o. g. Trennung zwischen Mitarbeitenden und Geschäftsführer:innen, auf denen das finanzielle Risiko lastete und denen der Laden gehörte. Initial waren wir zu dritt. Die dritte Kollegin wollte sich aber nicht »beteiligen«. Meist waren etwa acht Leute im Laden beschäftigt – davon bis zu fünf Miteigentümer:innen. Saisonale Aushilfen hatten wir aber nie. Darüber gab es keine Streitigkeiten. Konflikte gab es eher um die generelle Ausrichtung des Ladens: »Kiezladen« versus »überregionaler Laden für Qualitätsräder«. Grundsätzlich hätte jede:r sich beteiligen können, die Mehrheit scheute sich jedoch, Verantwortung zu übernehmen. Viele Menschen halten halt den Druck nicht aus, ständig wichtige Entscheidungen treffen zu müssen. Das ist durchaus belastend.

Wie liefen schwierige Entscheidungsfindungen: Waren alle an allen Diskussionen gleichberechtigt beteiligt? Galt das Konsensprinzip?

Wir bemühten uns immer unabhängig vom Status um einen Konsens. Auch mit fünf Miteigentümern liefen die Entscheidungsprozesse gut, da die neuen bei uns meist einen jahrelangen Vorlauf hatten. Sie sind quasi reingewachsen.

Alltag in einem selbstverwalteten Radladen – was war anders als in einem »normalen« Laden? Was hat sich positiv von der Arbeit in einem konventionellen Laden abgehoben?

Einen großen Unterschied zu anderen Läden machte z. B. die Zugewandtheit gegenüber unseren Kund:innen. Auch der Umgang untereinander war angenehmer. Alle Kolleg:innen mussten und müssen immer noch Neuzugängen zustimmen, damit es auch passt.
Und es gab ein Selbsthilfeangebot. Wir stellten Werkzeug zur Verfügung und gaben Hilfestellung. Immer häufiger wurde unser Angebot aber ausgenutzt, sodass am Ende wir das Rad kostenlos reparierten: Das »Selbst« bei der Hilfe kam unter die Räder. In der Folge beendeten wir unser Angebot Anfang der 2000er Jahre.

Gab es spezielle Ansprüche an die verkauften Räder/Komponenten wie z. B. Qualität, Nachhaltigkeit, »faire Produktionsbedingungen« etc.?

Wichtig war uns eine hohe bzw. bessere Warenqualität bei Alltagsrädern als die damals in der Branche übliche. Deshalb kam es u. a. auch zur Gründung der VSF-Fahrradmanufaktur (damals in Bremen), die Maßstäbe in der Qualitätsentwicklung setzte (Pulverbeschichtung, zweiadrige Verkabelung, LED-Beleuchtung, hydraulische Bremsen ...).

Wie wurde der Ertrag bei euch verteilt? Gab es eine gemeinsame Kasse, einen Einheitslohn oder einheitlichen Stundenlohn?

Grundsätzlich gab es für alle Einheitslohn und einen Bonus für die Geschäftsführer:innen, die sich verpflichteten, das Geld dem Betrieb als Darlehen zur Verfügung zu stellen.

In manchen Läden galten »Entprofessionalisierung« und Arbeitsplatzrotation als wichtiger Grundsatz. Gab es solche Ansätze bei euch oder habt ihr euch schnell spezialisiert, sodass einer nur Verkauf, der nächste nur Werkstatt, ein anderer in erster Linie Einkauf oder nur Buchhaltung machte?

Anfangs wurde viel rotiert, auch aus einem Mangel an speziellen Qualifikationen. Heute ist das Rotationsprinzip bei den Mitarbeiter:innen unerwünscht.

Bild 2: Rolf bei der Arbeit

Wie läuft das mit dem Einstieg neuer Kolleg:innen oder dem Ausstieg? Müssen neue Kapital mit einbringen, werden Aussteiger ausbezahlt?

Einsteiger müssen über einen gewissen Zeitraum Kapital einbringen, Aussteiger bekommen lediglich ihren Anteil und die gewährten Darlehen ausgezahlt.

Wie war die Zusammenarbeit unter den selbstverwalteten Läden? Half man sich oder konkurrierte man eher? Wie liefen gemeinsame Projekte wie der Großhandel oder die Fahrradmanufaktur?

Die Zusammenarbeit im VSF (einem ideellen Verbund, kein Wirtschaftsverband – heute übrigens »Verbund Service und Fahrrad«!) war und ist sehr gut. Es gab allerdings auch Betriebe, die im Winter Leute entließen, und auch welche, die die Sozialabgaben nicht abgeführt haben.
Die gemeinsamen Projekte wie der Großhandel RASCO und die VSF-Fahrradmanufaktur waren – u. a. wegen kaufmännischer Fehlentscheidungen und dünner Eigenkapitaldecke – nach einigen Jahren bankrott, wurden aufgelöst oder übernommen.

Bild 3: Blick ins Ladengeschäft

Wie haben sich die Strukturen in selbstverwalteten Läden über die Jahre entwickelt? Gibt es überhaupt noch »selbstverwaltete« Fahrradläden?

Ich weiß nicht einmal, ob es im strengen Sinne je »selbstverwaltete« Fahrradbetriebe gab oder gibt. In einem selbstverwalteten Laden muss man als Miteigentümer:in halt auch »den Kopf hinhalten« – gerade auch, wenn es wirtschaftlich nicht gut läuft. Und solche Phasen gab es immer wieder.

Gibt es Elemente aus den ungewöhnlicheren Ansätzen der Gründungsphase der selbstverwalteten Betriebe, die auch heute in Läden sinnvoll sein könnten?

Transparenz und Mitbestimmung! In der heutigen Startup-Szene lassen sich sicherlich Ansätze dafür finden.

Warum ist das Thema »Selbstverwaltung« bei heutigen Startups nicht mehr präsent?

Vielleicht, weil sie die falschen Illusionen, die wir durchaus hatten, vermeiden. Sicherlich sind diese Ideen aber weniger präsent, weil die Arbeit produktorientierter geworden ist und das Miteinander im Betrieb keine so große Rolle mehr spielt, weil inzwischen auch in vielen konventionellen Betrieben eine angenehmere, kollegialere Arbeitsatmosphäre herrscht. Die Hierarchien sind heute scheinbar flacher.
Die »Velophil«-Belegschaft hat kürzlich einen Prozess begonnen, der zur altersbedingten Ablösung der derzeitigen Geschäftsführer:innen und Übernahme des Betriebs – vielleicht als Genossenschaft – in einigen Jahren führen soll.

Zur Person

Rolf Wietzer wurde 1950 im Berliner Wedding geboren, hat eine Schwester (die auch Fahrrad fährt) und einen Sohn, der Radverkehrsplaner ist. Er lebt heute in Moabit.

Das Interview führte Stefan Buballa.