Ausgabe 36 · Juni 2023
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Kollektive Fahrradbetriebe – selbstverwaltete Wege in eine andere Arbeitswelt?
Von den 1980er Jahren bis heute
Anfang der 1980er Jahre sprießen sie in vielen Orten aus dem Boden:
alternative Fahrradläden, die eine Kritik an unökologischer Produktion und
ebensolcher Verkehrspolitik mit einer Unzufriedenheit über entfremdete
Arbeit und Fremdbestimmung im Angestelltendasein verknüpfen. Irgendwann
sahen diese Läden dann meistens genauso schick poliert wie ihre
traditionelle Konkurrenz aus, bekamen einen »richtigen« Chef oder
verschwanden gleich ganz.
Dieser Bewegung der selbstverwalteten, kollektiven Fahrradbetriebe, die Mitte der 1980er Jahre ihren Höhepunkt fand, wollen wir in Interviews und Beiträgen nachgehen. Jenseits einer historischen Betrachtung möchten wir dabei auch abklopfen, inwieweit diese »Experimente« uns heute angesichts von Klimakrise und daraus erneuerter Skepsis gegenüber dem Kapitalismus Anregungen geben können. Daher kommen auch aktuelle Beispiele zur Sprache.
Ökologie und Kapitalismuskritik?!
Wie kommt unsere liebe Fahrradzukunft auf so ein doch anscheinend
angestaubtes Thema? Schließlich gehört es doch spätestens seit dem
Zusammenbruch vieler staatssozialistischer Systeme nach 1989 zum
Allgemeingut, dass der Kapitalismus alternativlos ist. Und für die
Ökologie im Verkehrssektor haben wir ja die schönen autonomen
Elektroautos, Hightech-Verkehrsüberwachung und natürlich E-Bikes, oder
wie?
Passt schon! Oder auch nicht.
Für einige unserer Redaktionsmitglieder ist die Entscheidung fürs Fahrrad auch mit einer grundsätzlichen Kritik an der kapitalistischen Industriegesellschaft an sich verknüpft. Beispielsweise am Zwang zu immer effizienterer Ausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, am gehetzten Leben für die Arbeit – statt zu arbeiten, um zu leben. Kritik auch an einer Arbeit, deren Inhalt ausschließlich vom Prinzip der Erzielung eines Maximalprofits bestimmt wird und auf deren Organisation oder Gegenstand die Arbeitnehmer:innen keinerlei Einfluss haben. Kritik auch an einer Produktion von Produkten, die die ökologische Krise verschärfen, statt sie zu lindern. Kritik schließlich an undemokratischen, hierarchischen Verhältnissen am Arbeitsplatz, die den auf politischer Ebene propagierten Idealen von Mitbestimmung und Teilhabe Hohn sprechen.
Unabhängigkeitserklärung
Das Fahrrad symbolisiert dabei auch eine Art Unabhängigkeitserklärung:
unabhängiger zu sein vom allgegenwärtigen Konsumterror, der uns – via
omnipräsente Werbung und soziale Normen – zwingt, Glück und Zufriedenheit
im Kauf von immer bequemeren, immer schnelleren, immer schickeren
Produkten zu suchen. Was nicht nur ökologisch unvertretbar ist. Dieser
aufgebaute gesellschaftliche Zwang ist heute auch ein zentraler Faktor,
der für Konformität in der Arbeitswelt sorgt – natürlich neben dem
generellen Unsicherheitsgefühl nach Ende der Vollbeschäftigung, nach Hartz
IV und anderen antisozialen Zumutungen. Schon kleine Veränderungen am
Arbeitsplatz werden damit undenkbar. Selbst moderateste gewerkschaftliche
Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen, die lediglich Lohn und
Arbeitszeit betreffen, finden dadurch weniger Unterstützung.
Vor grad mal 100 Jahren wurden aufmüpfige Beschäftigte, die z. B. im »Schweizer Landesstreik« für sehr modern klingende Forderungen auf die Straße gingen, noch zusammengeschossen … Wenn aber die Kreditkarte mal wieder am Anschlag ist, ist nichts dergleichen notwendig. Da begehren Arbeitnehmer:innen sicher nicht gegen schlechte Arbeitsbedingungen auf, riskieren dabei vielleicht Ärger und am Ende gar ihren Arbeitsplatz. Und natürlich sind dann auch alle Überstunden sehnlichst willkommen, »schließlich muss ich ja das … abbezahlen!«.
Unabhängig zu sein … aber auch von Expert:innen, die die einzigen sind, die einen alltäglichen Gebrauchsgegenstand verstehen und instand halten können. Denn schließlich ist das Fahrrad eine geradezu anachronistisch anmutend einfach aufgebaute und gut reparierbare Maschine. Sie ist auch für Laien so weit in ihrer Funktion durchschaubar, dass frau sich bei den häufigeren technischen Problemen problemlos selbst helfen kann. Auch setzt diese Maschine lediglich Muskelkraft (wieder ein Anachronismus) in Fortbewegung um. Kein undurchschaubarer, komplizierter Motor mit einer als Blackbox anmutenden Steuerelektronik. Nein, der eigene Leib treibt an – und sonst nichts! Kurz: Das Fahrrad ist auch Technik im menschlichen Maß.
An diesem Schnittpunkt von Kapitalismuskritik und Ökologie entstand in den selbstverwalteten Fahrradläden der Versuch, im Hier und Jetzt, in einer kapitalistischen Gesellschaft einen anderen Weg zu gehen. Ohne vorherige »große« sozialistische Revolution, die sich vielleicht noch viele 68er als »die« Lösung aller gesellschaftlichen Probleme vorgestellt haben. Aber auch in kritischer Analyse der Organisation von Arbeit in »realsozialistischen« Ländern, die häufig genauso hierarchisch, arbeitsteilig und fremdbestimmt organisiert war – auch wenn die Fabrik nominell »dem Volk« gehörte! Ein sehr schönes Beispiel dafür ist heute China: Dabei ist wegen fehlender unabhängiger Arbeitsgerichtsbarkeit und fehlender freier Gewerkschaften die Situation noch extremer als in vielen westlichen Ländern.
Ideen wie Selbstbestimmung, Einheitslohn, aber auch Aufhebung von Spezialisierung und das Konsensprinzip bei Entscheidungen spielten in einigen Läden eine wichtige Rolle. Aber es ging auch immer um das Produkt, den Inhalt der Arbeit. Bis weit in die 1980er Jahre war das Fahrrad technisch in den 50ern stehen geblieben. Es war ein billiges Wegwerfprodukt, lediglich Spielzeug für Kinder oder maximal für den gelegentlichen Gebrauch am Sonntagnachmittag. Durch Menschen, die sich die restlichen sechseinhalb Wochentage »selbstverständlich« per Auto fortbewegen. Hier Reparierbarkeit, Qualität und Nachhaltigkeit zu fördern, heute selbstverständlich (zumindest in der Theorie ;-), war ebenfalls ein Anliegen dieser Läden.
Alle(s) selbstverwaltet?
Fragt sich, wieso sich das Selbstverwaltungsprinzip nicht wirklich durchgesetzt hat und viele Läden, wie eingangs bemerkt, ziemlich rasch wieder »Chef und Untergebene« hatten. »Na klar, diese abgebrochenen Lehramtsstudis und verkappten Sozialpädagog:innen ham einfach zu viel totgelabert und nix entschieden« mag vielleicht mancher ganz schnell schlussfolgern. Oder: »Da verdient man ja nix!« Zwar war in der Anfangsphase – wie bei jedem »normalen« Unternehmen – viel unbezahlte Arbeit nötig, um die Dinge ins Rollen zu bringen, bei gut gehenden Läden waren die Löhne jedoch nicht schlechter als in vergleichbaren nicht kollektiven Betrieben. Manchmal auch eher besser, wurden Überschüsse doch gleich verteilt und landeten nicht in der Tasche eines:r Einzelnen.
Nein, nach einer Reihe von Gesprächen, die ich während der Recherche für unseren Heftschwerpunkt mit Akteur:innen aus der Szene geführt habe, zeichnet sich ein ganz anderes Bild: Das Hauptproblem war auf Dauer, dass der Enthusiasmus für Freiheit, Selbstbestimmung und Kollektivität in nachfolgenden Generationen abnahm. Größer wurde hingegen schlicht die Furcht vor dem unternehmerischen Risiko, das Kollektivist:innen in einem kapitalistischen Umfeld nun einmal auch tragen müssen. Auch einmal unangenehme Entscheidungen durchsetzen zu müssen scheint für viele gleichfalls nicht sehr attraktiv. Ein fester Lohn und nur begrenzte Verantwortung sind für viele Menschen interessanter – vielleicht gerade dann, wenn im Unternehmen aufgrund der kollektiven Wurzeln eh flache Hierarchien und ein kollektiver Umgang vorherrscht! Was will mensch mehr …?!?
Ausblicke
Die Erfahrungen der Bewegung der selbstverwalteten Fahrradläden hat uns meiner Meinung nach auch heute noch etwas zu sagen. Sie ist auch heute ein Anlass, unsere Konsumgewohnheiten wie auch unsere Arbeitsbedingungen kritisch zu hinterfragen. Gerade dann, wenn kapitalistisch organisierte Produktion völlig alternativlos und quasi »natürlich« erscheint. Die Arbeitswelt hat sich so hierarchisch, arbeitsteilig und fremdbestimmt organisiert, weil sie vermutlich im Sinne der Gewinnmaximierung so halt am effizientesten ist.
Aber ist diese Art der Effizienz auch der beste Weg, grundlegende Bedürfnisse des Menschen zu befriedigen? Wenn man den Blick von Mitteleuropa weglenkt, könnten einem da Zweifel kommen. Wo es Exportweltmeister und riesige Außenhandelsüberschüsse gibt, gibt es auch »den Rest« – die restlichen 90 % der Weltbevölkerung. Vielleicht sollte man Bedürfnisbefriedigung in den »reichen« Industrieländern beginnend anders definieren als maximale Konsummöglichkeiten von Produkten und Dienstleistungen … womit wir wieder beim Produkt, dem Fahrrad sind.
Das Fahrrad als einfach und durchschaubar konstruierte Maschine, die sich lediglich mit Muskelkraft fortbewegen lässt, ist ein anschauliches Beispiel, dass »weniger« auch »mehr« sein kann. Es ist – da unmotorisiert – eben kein defizitäres Verkehrsmittel, da »immer bequemer« und »immer schneller« und »immer mehr« in einer endlichen Welt keine Lösung sind. Vielmehr zeigt es, wie begrenzt und schwach und zerbrechlich der Mensch nun einmal ist – und damit schutzbedürftig wie unsere Erde.
Vielen Dank an Ulrike Saade, ehemalige VSF-Vorsitzende und Gründerin eines selbstverwalteten Fahrradladens, die uns bei diesem Artikelschwerpunkt sehr geholfen hat.
Literaturnachweis
- Birgit Müller. Toward an alternative culture of work : political idealism and economic practices in West Berlin collective enterprises. Westview Press, 212 p., 1991. ISBN 0813380790. HAL-ID: halshs-00373687
- Herbert Marcuse: Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft. 1964
- Der eindimendionale Mensch wird 50: Diskussion mit Thomas Ebermann, Hermann Gremliza, Robert Stadlober, Andreas Spechtl & Dietmar Dath
- Ulrike Herrmann: Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind – und wie wir in Zukunft leben werden. Kiepenheuer & Witsch, 2022
Zum Autor
Stefan Buballa, Arzt, Alltags- und Reiseradler. Selbstbau eines Reiserades und eines Alltags-Kurzliegers. Er ist fasziniert von der Schlichtheit und ökologischen Effizienz muskelkraftbetriebener Fahrzeuge. Besondere Interessen: ergonomische und leistungsphysiologische Aspekte. Besondere Schwächen: Radreisen in Afrika und Nahost …