Ausgabe 39 · Dezember 2024
Tobis Fahrradgeschichten
»Plopp«: über Ampelprobleme, Werkzeuge und angepasste Regeln
von Tobias Kröll
»Plopp«, und die Welt sieht anders aus. Da will man – anhand des praktischen Beispiels einer Ampel – seine Kolumne über Fahrrad und Psychologie fertig schreiben und dann kommt einem die Tagespolitik dazwischen: das Ende der Ampel-Regierung in Berlin am 6. November 2024 ... So versuche ich nun, meine Gedanken anzupassen.
Plumpe Vergleiche verbieten sich, auch wenn ich es mir nicht verkneifen kann, darauf hinzuweisen, dass Menschen bei einer Ampel, die von Beginn an (bis auf wenige verwirrende »Rot- und Grün-Blinker«) im Grunde die meiste Zeit gelb blinkt, besonders aufpassen müssen und sich im Grunde auf gar nichts mehr verlassen können, außer auf sich selbst. In solchen Situationen versuchen die meisten Menschen sich an der Grundregel »rechts hat Vorfahrt« zu orientieren.
Ausschließlich »Eigenverantwortung« ist bei gelbem Dauerblinken gefragt und allzu oft nehmen sich in solch einer Realität die Größeren und Stärkeren rücksichtslos die Vorfahrt (wie in der marktzentrierten Ökonomie, die seit Jahrzehnten dauerblinkt), vor allem, wenn sie von rechts kommen ... und sei es von einem Feldweg. Zu Fuß und auf dem Fahrrad ist dann größte Vorsicht geboten, um nicht unter die Räder zu kommen. Das Fatale: Viele Menschen sehnen sich anhand der gegenwärtigen Erosionskrisen [Negt 2001] – psychologisch irgendwie verständlich – nach einfachen Haurucklösungen und bewundern z. B. einen amerikanischen Feldweg-Trucker, der meint, immer Vorfahrt zu haben, und wollen dann auch noch am liebsten aufspringen, um an der Vorfahrt teilzuhaben. Doch auch in Deutschland warten solche Trucks auf Feldwegen auf Menschen, die aufspringen. »In dieser Gesellschaft brodelt es«, warnte der Anfang Februar verstorbene Soziologe Oskar Negt schon vor 14 Jahren [Negt 2010].
Doch zurück zum Fahrrad: In der letzten Fahrradgeschichte habe ich mich mit aktuellen Problemen des respektvollen Miteinanders, Beschleunigung und Triggerpunkten beschäftigt. Mich »triggert« als Fahrradmechaniker besonders, wenn Werkzeuge unsachgemäß oder falsch verwendet werden. In meinem Tübinger Ausbildungsbetrieb gab es sogar einmal einen Kunden, der zum Entsetzen meines Feinmechaniker-Chefs versuchte, mit dem vom Laden geliehenen Messschieber (als verstellbares »Engländer«-Werkzeug) eine festsitzende Mutter zu lösen! Brachiale Hebelkräfte auf ein Präzisionsmesswerkzeug …
Da geht häufig beides kaputt, sowohl das Werkzeug als auch der bearbeitete Gegenstand, so z. B., wenn man an einem Fahrrad versucht, unter vollem Krafteinsatz eine festsitzende Achsmutter mit einem einfachen Gabelschlüssel zu lösen. Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass die Flächen der Mutter rundgedreht werden, sodass danach nicht einmal mehr eine gute Zange Halt finden kann. Eine feststellbare Gripzange mit Zackenprofil an den Klemmflächen und Verlängerung als Hebel – und behutsames Vorgehen – wäre meine bevorzugte Lösung (die ich in einer Amsterdamer Fahrradwerkstatt gelernt habe). Dazu gegebenenfalls einen Rostlöser auf die Mutter geben. Alternativ vorher mit der Flamme eines Gasbrenners heiß machen und mit etwas Wasser abkühlen, damit sich durch die Temperaturveränderung die Materialien verschieden ausdehnen und dadurch lösen können. Wenn am Anfang gepfuscht wurde, hilft oft nur noch brachiale Gewalt: ein Winkelschleifer. Dann geht aber meist sehr viel mehr kaputt, es muss entsprechend mehr ersetzt werden und es wird entsprechend teurer ...
Doch Menschen sind kulturelle Wesen und können voneinander und aus der Geschichte lernen. Ansonsten wiederholen sich (geschichtliche) Fehler, vgl. [Negt 2021]. Wie oft habe ich schon Menschen gesehen, die sich an einem geschlossenen Lebensmittelglas abmühen. Dafür gibt es sogar extra »Deckelzangen«. Und wie oft habe ich die einfache Lösung erlebt, die mir einst meine Amsterdamer Fahrradmechaniker-Kollegin gezeigt hat: Es genügt ein kleiner Kaffeelöffel, um kurz unter den Deckel zu hebeln. Mit einem »Plopp« öffnet sich ein Luftspalt, der Unterdruck entweicht und ein kleines Kind kann den Deckel aufschrauben. Manches kann so einfach sein ...
Ähnliches wie in einer Werkstatt oder in der Küche kann auch in den Wissenschaften passieren, wenn unpassende oder unzureichende »Denkwerkzeuge« (oder Theorien) verwendet werden. So fragte sich der (neo-)liberale Wirtschaftsjournalist Nikolaus Piper [Piper 1994] schon vor 30 Jahren ganz richtig, ob – angesichts des sich vor allem in Russland zeigenden »brutalen Raubtierkapitalismus« – mit »unserem« (wirtschafts-)wissenschaftlichen Denken etwas grundlegend nicht stimmt, um dann 25 Jahre später anhand der Klimakrise zu schreiben: »Tatsächlich kennt niemand ein System, das besser geeignet wäre, globale Probleme zu lösen, als die Marktwirtschaft.« [Piper 2019] Da frage ich mich, warum die »am Markt« generierten Löhne in einer deutschen Fahrradwerkstatt so niedrig sind. [1] Der Lohn in der Amsterdamer Fietsenmakerij Freewheel, in der ich einst gearbeitet habe, war deutlich wertschätzender. Dazu war auch noch eine 4-Tage-Woche möglich!
Apropos Amsterdam: Vor einigen Jahren hatte sich eine Hamburger Wochenzeitung über die vielen Fahrraddiebstähle in Amsterdam mokiert. Die Retourkutsche kam prompt von einer niederländischen Zeitschrift: Deutschland sei das Land, in dem die Menschen nachts um zwei Uhr in einem verlassenen Dorf an einer Fußgängerampel warten, bis sie grün wird, bevor sie die Straße überqueren. Solches Verhalten ist natürlich Unsinn. Eine Regel wird bei solchem Verhalten wichtiger als der ursprüngliche Sinn. Doch es gibt tatsächlich Menschen, die auch nachts um zwei in einem verlassenen Dorf auf das Einhalten der Ampelregel pochen würden, selbst wenn kilometerweit zu sehen ist, dass kein Auto kommt. »Wo kämen wir denn hin?«
Doch Regeln können durchaus angepasst werden und es funktioniert, wenn die Menschen in der Praxis verantwortungsvoll damit umgehen, wie die Geschichte des »realsozialistischen« grünen Pfeils an »gesamtdeutschen Ampeln« zeigt. [StVO] Der Fußgängerverband FUSS e. V. fordert inzwischen eine weitere Ausnahme, damit nicht nur das nächtliche »Straße queren« in einem verlassenen Dorf bei roter Ampel auch offiziell legalisiert wird: »Wer sich sicher fühlt, guckt und geht. Wer sich auf Grün verlassen will, wartet wie bisher.« [Der SPIEGEL 2024]
Literatur
- Der SPIEGEL 2024
- Der SPIEGEL: Bei Grün gehen, bei Rot … auch? Der Fußgängerverband FUSS e. V. will mit einem ehernen Gesetz des Straßenverkehrs brechen: Bei Rot über die Straße gehen soll künftig erlaubt sein. Ein Vorbild dafür gibt es bereits: im Autoverkehr. Aufgerufen am 2.11.2024
- Negt 2001
- Oskar Negt: Arbeit und menschliche Würde. Göttingen 2001, 2008. S. 123 ff.
- Negt 2010
- Der SPIEGEL: In dieser Gesellschaft brodelt es. Der Philosoph Oskar Negt über die Risse in der Sozialordnung, die Notwendigkeit politischer Bildung und die Spannung zwischen Wirklichkeit und Utopie. 2010. Aufgerufen am 2.11.2024
- Negt 2021
- Oskar Negt: Nichts ist erledigt. Zur Tragödie geschichtlicher Wiederholungen. In: Melanie Benz-Gydat, Antje Pabst, Katja Petersen, Katja Schmidt, Sabine Schmidt-Lauff, Silke Schreiber-Barsch (Hg.). Erwachsenenbildung als kritische Utopie? Diskussionen um Mündigkeit, Gerechtigkeit und Verantwortung. Frankfurt am Main 2021: Wochenschau-Verlag. S. 15–27
- Piper 1994
- Nikolaus Piper: Präzise, korrekt, nutzlos? Der Kapitalismus hat gesiegt, doch die Wirtschaftswissenschaften werden von Zweifeln geplagt. 1994. Vorwort in Piper 1996 (Hg.)
- Piper 2019
- Nikolaus Piper: Wir Untertanen. Wie wir unsere Freiheit aufgeben, ohne es zu merken. Hamburg bei Reinbek (sic!): Rowohlt 2019. S. 82
- StVO
- StVO: Straßenverkehrsordnung § 37. Aufgerufen am 11.11.2024
Anmerkungen
- Ich wurde – mit Berufserfahrung seit 30 Jahren, »Altgeselle« mit Ausbildungsberechtigung – vor zwei Jahren im Nebenerwerb in einem Fahrradladen mit 13 € brutto als »Hilfsarbeiter« in der Werkstatt angestellt. Option: 15 € nach der Probezeit. Wenn ich 18 € hätte aushandeln können, hätte der Chef vermutlich erwartet, dass ich das komplette Elektroradprogramm des Ladens in der Freizeit auswendig lerne und als Verkäufer aushelfen kann. Auf die Frage eines Kunden, warum man so lange auf eine Reparatur warten müsse, antwortete der Chef: »Ich bekomme keine Leute!« Thorsten Larschow vom VSF sagte auf einer VSF-Allride-Werkstattschulung vor einigen Jahren, dass wir im Fahrradbereich keinen Facharbeitermangel haben, sondern einen Mangel an gut bezahlten Facharbeitsplätzen!
Zum Autor
Tobias Kröll, Jahrgang 1967, Wangen/Allgäu, Diplom-Pädagoge, Sozialwissenschaftler und gelernter Fahrradmechaniker. Fellow des Berliner Instituts für kritische Theorie (InkriT). Anfang 2025 wird sein Buch »Bis jetzt hat es doch funktioniert! Tobias Fahrrad-Geschichten« bei Books on Demand (BoD) erschienen.