Fahrradzukunft

Ausgabe 39 · Dezember 2024

Hydraulische Bremsschalthebel mit MTB-Komponenten verbinden

Was geht, was gehen könnte und was nicht geht

von Stefan Buballa und Samuel Littig

Einleitung

Für viele Menschen ist auf langen Strecken mit dem Reiserad ein Rennlenker die ergonomischste Option. Die Hand findet viele unterschiedliche Griffpositionen, trotzdem lassen sich die Bremsschaltgriffe ohne große Umstände erreichen. Allerdings sind viele Reiseradler*innen nicht so fit, dass sie ein beladenes Rad mal eben so mit einer üblichen Rennradübersetzung den Berg hochwuchten. Ergo brauchen sie eigentlich angepasste Entfaltungen, die mit größeren Ritzeln oder kleineren Kettenblättern erreicht werden können. Glücklicherweise gibt es seit dem MTB-Boom daran keinen Mangel mehr.

Wieso also nicht das »Beste aus beiden Welten« kombinieren? Tja, und da fangen die Probleme an …

Dieser Beitrag soll das Potenzial dieser inoffiziellen Kombinationen jenseits der Shimano-GRX-Komponentenserie theoretisch ausleuchten und auch einige praktische Tipps zu funktionierenden Setups geben. Wir fokussieren uns dabei hauptsächlich auf den Schaltungsaspekt, da dieser im Gegensatz zur Bremshydraulik die größere Hürde auf dem Weg zu einer reiseradtauglichen Kombination darstellt.

Auch lassen wir den vorderen Umwerfer außen vor, da hierzu weniger Daten vorliegen und die Kompatibilität einfacher zu erreichen ist. Schließlich beschränken wir uns bewusst auf Systeme, für die auch hydraulische Bremsschalthebel existieren. [1] Unter Zuhilfenahme der Quellen lassen sich vielleicht aber auch exotischere Kombinationen zum Schalten bringen. Und zu eben diesen Quellen die letzte Vorbemerkung: Wir haben die meisten verwendeten Daten gründlich im Internet recherchiert und nur wenig selbst vermessen – eine gewisse Unsicherheit in Bezug auf die Qualität der Ergebnisse lässt sich daher nicht vermeiden.

Schalthebelseilwege, Ritzelabstände und Schaltwerksstellwege ändern sich …

Kurz nach den Anfängen indexierter Schaltungen ist die Indexierung (das gerasterte Schalten in gleichen Stufen) vom hinteren Schaltwerk in den Schalthebel gewandert. Jede Rasterstufe entspricht einem gangstufenunabhängigen Seilweg (engl. »cable pull«). [2]

Bild 1: Experimentelle Bestimmung des Seilwegs (»cable pull«)
Bild 2: Experimentell erfasste Seilwege verschiedener Schalthebel. Die Äquidistanz ist gut erkennbar, aus dem Raster fallen manchmal lediglich die Gänge ganz am Rand. Diese Abweichung tritt vor allem bei entspanntem Zug und dementsprechend veränderter Kompression der Außenhüllen auf.

Das Schaltwerk übersetzt diesen Seilweg dann in einen seitlichen Stellweg des Schaltwerks, sodass das Schaltritzel pro Gangstufe genau um den Ritzelabstand (engl. »sprocket pitch« oder »center-to-center spacing«) der Kassette versetzt wird.

Bild 3: Experimentelle Messung des seitlichen Stellwegs des Schaltwerks in den einzelnen Gängen

Als Formel lässt sich dieser Zusammenhang zwischen Seilweg und dem Übersetzungsverhältnis wie folgt ausdrücken
\[\text{cable_pull} \times \text{shift_ratio} = \text{sprocket_pitch}\, ,\]
wobei das Übersetzungsverhältnis (engl. »shift ratio«) ein schaltwerkscharakteristischer Proportionalitätsfaktor ist.

Über viele Jahre verwendete Shimano sowohl im Rennrad- also auch im MTB- und Trekkingbereich Schaltwerke mit dem gleichen Übersetzungsverhältnis (engl. »shift ratio«) von 1,7, d. h. 1 mm Seilweg werden in 1,7 mm Schaltwerksstellweg übersetzt. [3]

Um Schaltungen mit noch mehr Gängen zu ermöglichen, verkleinerte man einfach den Ritzelabstand und erhöhte etwas die Kassettenbreite (vgl. Tabelle 1). Faktisch waren die Schaltwerke (wenn man von anderen geometrischen Restriktionen wie der Kapazität absieht) jedoch alle untereinander kompatibel.

Tabelle 1: Seilwege bei Shimano-Bremsschalthebeln und zugehörige Ritzelabstände
Schaltwerk Seilweg Ritzelabstand
Shimano 7fach 2,9 mm 5,0 mm
Shimano 8fach 2,8 mm 4,8 mm
Shimano 9fach 2,5 mm 4,35 mm
Shimano Road alt 10fach 2,3 mm 3,95 mm
Shimano 10 Road neu
(Tiagra 4700, GRX 10fach, ST-RS405)
2,8 mm 3,95 mm
Shimano 11 Road
(Road 11fach, GRX 11fach)
2,7 mm ? (3,8–4,0 mm)
Shimano 10 MTB 3,2 mm 3,95 mm

Auch die Dicke der Ritzel nahm dabei ab und schmalere Ketten wurden somit erforderlich – in der Schaltwerksformel findet sich das aber nicht wieder. Im Rahmen dieser Entwicklung wurde zwangsläufig der Seilweg pro Gang kleiner, was sich irgendwann bei der Schaltgenauigkeit und -resilienz negativ bemerkbar machte. Shimano reagierte darauf mit einer Anpassung des Übersetzungsverhältnisses der Schaltwerke ab MTB-10fach (neues Verhältnis 1,2) und Rennrad 11fach (neues Verhältnis 1,4). Die unkomplizierte Interoperabilität zwischen Rennrad- und MTB-Komponenten war damit passé. Und um die Verwirrung auf die Spitze zu treiben, hat man später das Übersetzungsverhältnis 1,4 auch noch bei einigen 10fach-Gruppen (Tiagra 4700, GRX) ausgerollt. Dies hat zwar den Vorteil, dass die 11fach-Road-Schaltwerke zu den aktuellen 10fach-Tiagra- und GRX-Komponenten kompatibel sind, bedeutet aber auch, dass einem bei Shimano 10fach drei verschiedene untereinander inkompatible Schalthebelfamilien (mit 2,3 mm Seilweg [ältere Rennrad-Gruppen], 2,8 mm [4700, GRX] und 3,4 mm [MTB-Schalthebel]) begegnen (vgl. Tabelle 2).

Tabelle 2: Übersetzungsfaktoren verschiedener Shimano-Schaltwerke. Die 10fach- und 11fach-MTB-Schaltwerke liegen dabei sehr dicht beieinander und manche Modelle werden auch von Shimano als interoperabel ausgewiesen.
Schaltwerksfamilie Vertreter Übersetzungsverhältnis
Shimano alt Shimano 6- bis 9fach MTB und Rennrad,
ältere Shimano 10fach Rennrad (4600, 5600, 5700, 6600, 6700)
1,7
Shimano 11 Road Rennrad 11fach,
Tiagra 4700, GRX (RX400, RX800)
1,4
Shimano 10 MTB   1,2
Shimano 11 MTB 1,1

Bei den 11fach-Kassetten variieren die auffindbaren Aussagen zu den Ritzelabständen zwischen knapp 3,8 und 4,0 mm. Auch die 11fach-Kassetten von SRAM, Campagnolo und Microshift bewegen sich in diesem Bereich.

Wie kommt man jetzt aber weiter?

Insbesondere für den Reiseradeinsatz ergibt sich im Interesse einer guten Berggängigkeit der Wunsch, Rennrad-Bremsschalthebel mit MTB-Schaltwerken (und großen Kassetten) kombinieren zu wollen. Ein Blick in obige Tabellen lässt schnell erkennen, dass dies schon der Theorie nach in vielen Fällen nicht funktionieren wird.

In der Praxis

Die Thematik sei an einem konkreten Beispiel veranschaulicht. Um das ewige Theater bei der Mitnahme von Rädern im Zug zu vermeiden, hat einer der Autoren kürzlich ein fast neues Tern Joe erstanden, das zu einem vollwertigen faltbaren Reiserad umgebaut werden sollte. Im Urzustand sah die Maschine ein bisschen wie ein »Straßen-MTB« aus – für Reisen war das weniger geeignet. Also wurde eine ganze Reihe von Teilen ausgetauscht – und auch der Lieblingsrennlenker montiert. Da der Rahmen sowieso für Scheibenbremsen vorgesehen war, wurde der Beschluss gefasst, sich fahrradtechnisch erstmals dem 21. Jahrhundert zu nähern und hydraulische Bremsschalthebel vorzusehen.

Verwendet wurden Shimano Tiagra 4700 (10fach, Seilweg 2,8 mm), der billigste verfügbare Shimano-Bremsschalthebel. Vorne wurde sich nach diversen Experimenten mit 38/20 begnügt. Am zukünftigen Faltreiserad ist bereits ein Acera-9fach-MTB-Schaltwerk (Übersetzungsfaktor 1,7) montiert.

Gemäß Schaltformel (s. o.) ergibt sich pro Gang ein Schaltwerksstellweg von
\[2,8 \,\text{mm} \times 1,7 = 4,76 \,\text{mm}\, ,\]
das war leider etwa 0,8 mm zu viel pro Gang für die bereitliegende Sunrace-10fach-MTB-Kassette. Denn über neun Gangsprünge summiert sich das auf 7,2 mm zu viel Stellweg. Oder in Gängen ausgedrückt (bei knapp 4 mm Ritzelabstand) etwa zwei Gänge. Und die Praxis bestätigt die Theorie – die Kombo schaltet auch in der Realität sehr unsauber. Wäre es eine valide Idee, das Acera-Schaltwerk durch ein neueres 10fach-MTB-Schaltwerk zu ersetzen? Mit dem entsprechenden Übersetzungsverhältnis von 1,2 kommen wir auf einen Stellweg von
\[2,8 \,\text{mm} \times 1,2 = 3,36 \,\text{mm}\, ,\]
also etwa 0,5 mm zu wenig … Über neun Gangsprünge hinweg fehlt dann etwa ein ganzer Gangsprung. Also ist auch hier nicht zu erwarten, dass sich die Konfiguration über das gesamte Spektrum von klein bis groß sauber einstellen ließe.

Welche Möglichkeiten bieten sich also sonst noch, um inkompatibles Material doch noch zur Zusammenarbeit zu bewegen?

Adapter

Tatsächlich gibt es Adapter, mit denen man die Seileinzugswege ändern kann. Auf diese Option wird in dem Artikel Inkompatible Schaltkomponenten mithilfe von Adaptern »mischen« dieser Ausgabe detailliert eingegangen. Aber vielleicht geht es auch unkomplizierter?

Alternative Klemmung des Schaltzugs

Was nämlich ebenfalls funktionieren kann, ist, schlicht die Klemmung am Schaltwerk zu verändern und damit die Übersetzung anzupassen. Zu beachten ist dabei generell, dass in alternativen Klemmpositionen das Schaltseil z. B. am Gewinde der Stellschraube scheuern kann. Dies wirkt sich dann oft ungünstig auf die Lebensdauer der Schaltzüge aus.

Grundsätzlich gibt es mindestens zwei weitere Klemmpositionen: Zum einen kann man einfach auf der gegenüberliegenden Seite klemmen (im Weiteren »alternative« Klemmung genannt).

Bild 4: »Normale« Klemmung an einem Shimano-Shadow-Schaltwerk
Bild 5: »Alternative« Klemmung

Zum anderen kann man manchmal auch eine Klemmschraube mit Loch (früher bei Seilzugbremsen verbreitet) verwenden und damit den Zug dann in einer mittleren Position klemmen.

Bild 6: Normale Schaltwerkklemmschraube, Klemmschraube für Bremszug mit Loch

Eine dritte Variante wäre, den Schaltzug über die Nase der Klemmscheibe zu führen und damit den Hebel noch weiter zu verlängern. Diese Variante ist auch als Hubbub-Klemmung bekannt. Die Übersetzung wäre dann weiter reduziert. Die beiden letztgenannten Optionen haben die Autoren noch nicht ausprobiert, beim Austausch der Klemmschraube ist u. U. Nacharbeit am Schaltwerk notwendig.

In unserem Beispiel hat einer der Autoren erst einmal probiert, den Zug einfach auf der anderen Seite zu klemmen. Für eine präzise Messung der dadurch erzielten Veränderung des Schaltwerkstellweges ist bereits die Definition der Messpunkte nicht ganz trivial. Alternativ von dem in Bild 3 gezeigten Verfahren wurde mit dem Messschieber für jede Gangstufe der Abstand »Außenfläche größtes Ritzel« zu »Außenfläche Schaltwerkskäfig« gemessen. Mögliche Quellen für nicht systematische Fehler sind u. a. ein nicht planes oder gar unrund laufendes größtes Ritzel. Zudem muss bei der Messung genau darauf geachtet werden, nicht einen der »tiefer« gestanzten Abschnitte auf der Ritzeloberfläche als Referenzpunkt zu nehmen.

Bild 7: Bestimmung des durch »alternative« Klemmung geänderten Schaltwerkstellweges

Der seitliche Gesamtstellweg des Schaltwerks vom größten zum kleinsten Gang reduzierte sich dabei um 18 %, das Acera-9fach-Schaltwerk mit der alternativen Klemmung hat also ein Übersetzungsverhältnis von
\[\text{shift_ratio} = 1,7 \times 0,82 = 1,39 \, .\]

Multipliziert mit dem Seilweg ergibt dies
\[\text{cable_pull} \times \text{shift_ratio} = 2,8\,\text{mm} \times 1,39 = 3,9\,\text{mm}\, .\]

Das passt hervorragend zum Ritzelabstand der 10fach-MTB-Kassette von 3,95 mm. Und auch in der Praxis schaltet die Kombo nun problemlos.

Fazit

Die Kombination verschiedener Rennrad- und MTB-Komponenten des Marktführers wird durch eine Unzahl unterschiedlicher Seileinzüge und Schaltwerksübersetzungen unserer Meinung nach unnötig kompliziert. Außerdem fehlen genaue Informationen – die Händlerunterlagen sind diesbezüglich Fehlanzeige und auch der Importeur Paul Lange rückt auf Mailanfrage keine Werte raus. Durch das weltweite Engagement von Fahrradenthusiasten lässt sich diese Lücke jedoch so weit schließen, dass viele Kombinationen aus alten und neuen Teilen ohne zu viel »Gefrickel« oder gar Fehlkäufe möglich werden. Dies bietet gerade Reiseradlern*innen, die ihre mit Rennlenker ausgestattete Maschine bergtauglicher machen möchten, viele Möglichkeiten. Aufgrund der fehlenden Transparenz der Hersteller bleibt diese Arbeit jedoch unvollständig: Sowohl 12fach- als auch die neuen Linkglide/Cues-Schaltungen wären eine detaillierte Betrachtung in einem Folgeartikel wert. Über diesbezügliche Beiträge durch engagierte Leser*innen freuen wir uns schon jetzt.

Danksagung

Außer bei den in den jeweiligen Quellen genannten Autor*innen möchten wir uns ganz herzlich beim User »hemavomo« aus dem Radreise & Fernradler Forum bedanken, der uns viele wertvolle Hinweise gegeben hat.

Quellen

Die charakteristischen Werte diverser Schaltkomponenten wurden im Internet von einigen nicht offiziellen Enthusiasten zusammengetragen. Die aus unserer Sicht wertvollsten Angaben findet man auf folgenden Seiten:

  • cyclinguk.org
    • Ritzelabstände bis 10fach
    • Shimergo und alternative Klemmung Hubbub werden erwähnt
    • Kompatibilitätstabelle
    • Old-Dura-Ace und Schaltadapter Jtek Shitftmate werden erwähnt
  • hubbub.bike
    • ausführliche Beschreibung der Hubbub-Klemmung
  • artscyclery.com
    • allgemeiner Blog-Artikel zum Thema auf Englisch
    • Seilwege, Ritzelabstände, Übersetzungsverhältnisse
    • Schaltadapter Jtek Shiftmate ist erwähnt
    • moderne Infos zu Tiagra 10fach/4700/GRX/12fach fehlen
  • bikegremlin.com
    • sehr aktuell (03.11.2024)
    • GRX, Tiagra 4700 enthalten
  • wikibooks.org
    • Formeln insbes. zum Selberritzeln, aber auch Übersetzungsverhältnisse, Seilwege
    • sehr große Tabelle zu Kompatibilitäten
    • Kettenmaße im Fließtext
    • moderne Schaltungen fehlen teilweise
  • arnowelzel.de
    • Übersetzung eines Artikels von Sheldon Brown
    • Fokus auf »Selberritzeln«
  • obike.dk
    • Maße von Kassetten (Ritzel, Spacer, Ritzelabstände)
    • Kettenmaße (innen und außen)

Anmerkungen

  1. Die grundsätzliche Frage, ob man an einem Reiserad in Abhängigkeit von bereister Region und eigener technischer Expertise einer hydraulischen Bremse vertraut, ist ebenfalls nicht Gegenstand dieses Artikels.
  2. Bei Campagnolo gab es früher Schaltungen, die von dieser äquidistanten Seilwegsstufung abwichen.
  3. Lediglich bei Dura Ace gab es Schaltwerke mit abweichendem Übersetzungsverhältnis.

Zu den Autoren

Stefan Buballa, Arzt, Alltags- und Reiseradler. Selbstbau eines Reiserades und eines Alltags-Kurzliegers. Er ist fasziniert von der Schlichtheit und ökologischen Effizienz muskelkraftbetriebener Fahrzeuge. Besondere Interessen: ergonomische und leistungsphysiologische Aspekte. Besondere Schwächen: Radreisen in Afrika und Nahost …

Samuel Littig, promovierter Mathematiker und Softwareentwickler. Radverkehrspolitisch interessierter Alltagsradler und Tandemfahrer (Eltern-Kind-, Reisetandem), autoloses ADFC- und VCD-Mitglied mit großer Affinität zu Schraubereien und Basteleien am häuslichen Radfuhrpark.