Ausgabe 39 · Dezember 2024
Mit dem Lieblingsrad die Welt erfahren
von Christine Kammel
Gefühlt habe ich laufen und Rad fahren gleichzeitig gelernt. Aufgewachsen auf dem Dorf, war das Fahrrad das Fortbewegungsmittel Nr. 1. Und schon bald gefiel es mir, wie ich damit meinen Entdeckungsradius immer mehr erweitern konnte.
Mein erstes »richtiges« Rad habe ich Ende der 1970er Jahre erworben – ein Motobécane Prestige – immerhin hatte es schon eine Kettenschaltung.
So war es nur eine Frage der Zeit, bis ich damit Anfang der 1980er Jahre auf Reisen ging. Ich erreichte damit Italien und Großbritannien und überquerte auf dem Gotthardpass die Alpen. Wahrscheinlich hätten wir noch viele weitere Reisen zusammen unternommen, wäre es mir nicht eines Nachts vorm Jazzclub abhandengekommen. Erst mal ein schwerer Verlust, aber auch die Chance, mich nach einem neuen Rad umzuschauen.
Die Empfehlung einer Bekannten, die in einem Fahrradladen jobbte, lautete: »Guck dir mal das Guylaine von der Fahrradmanufaktur Schubert & Schefzyk an, die bauen speziell Reiseräder.« Zum ersten Mal befasste ich mich mit Rahmengeometrie und -größe, Schaltung, Bremsen, Tretlager etc. Der informative Prospekt des Rahmenbauers bot gute Anregungen und war bei der Auswahl der Komponenten eine große Hilfe – und das drei Monate später per Post eintreffende Rad eine Sensation. Handgefertigter Rahmen aus Chrom-Molybdän-Stahl in frei wählbarer Farbe, Deore-XT-Ausstattung, Rohloff-Kette, Cantilever-Bremsen, Mavic-Felgen, Anlötteile für Gepäckträger, Lowrider und Flaschenhalter, Brookssattel – damals eine Topausstattung, viele Teile funktionieren auch heute, 34 Jahre später, noch einwandfrei.
Das war ein ganz neues, bislang ungekanntes Fahrvergnügen. Schon auf der ersten längeren Reise von Berlin nach Madrid genoss ich spätestens bei der Abfahrt aus den Pyrenäen die Vorzüge eines Diamantrahmens und einer gleichmäßigen Gewichtsverteilung des Gepäcks vorne und hinten. Kein Vergleich zur Straßenlage meines Motobécane-»Damenrades«, das auch größenmäßig nie richtig zu mir gepasst hatte.
Mit so einem Rad ließen sich doch auch andere Kontinente erkunden … warum nicht mal nach Australien radeln? Per Anzeige suchte ich einen umgänglichen Reisebegleiter. Schon bald stellte sich heraus, dass nicht nur das Guylaine, sondern auch der interessierte Reisepartner perfekt zu mir passten. Ein Jahr später, 1992, starteten wir von Berlin aus Richtung Asien, ohne ein genaues Ziel zu haben. Wir wussten nur, dass wir am 1. Juli 1994 wieder am Arbeitsplatz ankommen sollten.
Auf den rund 21.000 km durch Europa, den mittleren Osten mit Syrien und Jordanien, durch Indien, Pakistan und China, Australien und Neuseeland hatten nicht nur wir, sondern auch die Räder vielfältige Herausforderungen und Beanspruchungen zu bestehen: lange, staubige Offroadstrecken, verschüttete oder überschwemmte Straßenabschnitte, Gebirgsfahrten bis auf 4.700 m Höhe, Transporte auf bereits vollgepackten Bus-Dachgepäckträgern …
Aber auf das Guylaine war Verlass. Bis auf die üblichen Verschleißteile, die zwischendurch ersetzt werden mussten, einen gerissenen Bowdenzug und einige Reifenpannen hat es nicht zuletzt dank guter Pflege zuverlässig alles mitgemacht und mir wunderbare und sorgenfreie Kilometer beschert.
Aber es lässt sich ja nicht nur die Welt per Rad erkunden. 1998 sind wir erst zum Standesamt geradelt und anschließend weiter durch Alaska und Kanada. Europa, Marokko, Südafrika, – immer haben es mir Fahrräder ermöglicht, die jeweiligen Länder und die Menschen auf sehr persönliche Art kennenzulernen und zu erleben.
Doch eine Schwachstelle hatte mein Rad: Aufgrund des kleinen Rahmens, den ich brauche, konnte ich nur schmale 32-mm-Reifen aufziehen. Damit kam ich spätestens 2007 auf den Gravel Roads im isländischen Hochland an meine Grenzen. Ich begann, über ein mögliches neues Lieblingsrad nachzudenken, denn auf unserer nächsten Tour wollten wir die Nordsee umrunden. Inzwischen gab es ein riesiges Angebot an hochwertigen Reiserädern, was meinen Entschluss noch angespornt hat.
Ich habe mich dann für ein Velotraum Basismodell 3 XS entschieden. Wieder mit der Deore-XT-Ausstattung, damit hatte ich bisher nur gute Erfahrungen gemacht. Bei den Bremsen habe ich die Magura HS33 gewählt. Und endlich konnten die Reifen 55 mm breit sein. Neu für mich und sehr willkommen waren ein witterungsunabhängig funktionierender Nabendynamo und eine Parallelogramm-Sattelstütze. Auch wenn beim Fahrgefühl der Sprung nicht so groß wie vom Motobécane zum Guylaine war, so war ich doch überrascht, wie wendig und leichtgängig das robuster wirkende Velotraum mit seinen 26″-Rädern war.
Vor ein paar Jahren brachte ich es zur Reparatur, weil das Tretlager leichtes Spiel hatte. Welch ein Schock, als mir die Werkstatt eröffnete, dass ich ein neues Rad bräuchte, da das Rahmengewinde des Tretlagers durch Korrosion zerstört sei. Und das mitten in der Pandemie, in der ich das Rad immer wieder gern für kleine Fluchten nutzte. Nach Befragung etlicher Experten und eigener Recherche entschied ich mich für ein rund 50 Euro »teures« Hollowtec-Reparaturlager, das seitdem zuverlässig seinen Dienst verrichtet.
Auch wenn inzwischen die Art der Reisen und die Ziele nicht mehr so abenteuerlich ausfallen, das Reisen per Rad steht für mich immer noch an erster Stelle. Meine jeweiligen Lieblingsräder haben mir auf einzigartige und für mich beste Art und Weise unvergessliche Begegnungen und das Erkunden unserer wunderbaren Welt ermöglicht.