Ausgabe 39 · Dezember 2024
Leserbriefe
Alternative Messmethoden
Zu: Radweganalyse per Smartphone (Ausgabe 35)
Zu: Erschütterungsmessungen und deren Auswertung (Ausgabe 36)
Ich finde es sehr gut, dass das Thema Schwingungskomfort auf Radwegen nicht ganz in der Versenkung verschwunden ist! Allerdings sehe ich Probleme bei der verwendeten Sensorik und den seltsamen Auswertungsverfahren.
Die Spezifikationen der verwendeten Sensorik sind im Allgemeinen unbekannt, bestenfalls lückenhaft dokumentiert. So ist nirgendwo zu finden, wie die Frequenz und der Phasengang der Sensoren aussehen noch wie präzise die Amplitude der Beschleunigungsmessung ist. Von einer Kalibrierung der kompletten Messkette ganz zu schweigen. Dieser Umstand wird in den Artikeln leider nicht thematisiert.
Genauso undurchsichtig sind die Auswertungsmethoden. Da keine Rückführung auf ein Normal stattgefunden hat, sind quantitative vergleichbare Auswertungen nicht möglich. Dass eine Bordsteinkante zu hohen vertikalen Beschleunigungen führt, ist auch ohne irgendwelche Messtechnik nachvollziehbar.
Um eine Klassifikation in »gute« und »schlechte« Oberflächen zu ermöglichen, müsste m. E. eine Auswertung erfolgen, die die Beeinflussung der Gesundheit bzw. die Aufmerksamkeit der Rad fahrenden Menschen zum Maßstab macht. Eine solche Auswertung wird im Regelwerk für Schwingungsbelastungen im Arbeitsschutz (z. B. ISO 2631-1:1997/5349-2:2001 und/oder EN ISO 8041-1:2017) definiert. Dabei findet eine frequenzabhängige Bewertung der auftretenden Schwingung statt. Dieses Verfahren hat schon anno 1988 Rainer Pivit in dem zitierten Artikel angewendet.
Ob man diesen Ansatz eins zu eins übernehmen kann, kann diskutiert werden. Die konkreten Messwerte sind von einer Menge weiterer Parameter abhängig. So haben auch die/der Reifen (Aufbau), der Reifendurchmesser, die Reifenbreite, der Reifendruck, die Felge, die Art der Einspeichung, die Speichenspannung, die Steifigkeit der Fahrradgabel, die Rahmensteifigkeit, das Gewicht des/der Fahrers/-in (Zuladung), dessen/deren Sitzposition einen Einfluss auf die Übertragungsfunktion zwischen der Oberfläche und dem Sensor und damit auf das gemessene Spektrum.
Außerdem hängt die Anregung bei gleicher Oberfläche nicht zuletzt von der Geschwindigkeit und der konkreten Fahrspur ab. Dabei ist die Anregung durch das Treten des/der Fahrers/-in noch nicht berücksichtigt.
Natürlich sieht man bei den im Artikel beschriebenen Messverfahren so ungefähr, welche Oberfläche zu mehr Schütteln führt als andere und wo Schlaglöcher oder Baumwurzeln einem das Leben schwer machen. Dabei wird aber die Frequenzabhängigkeit der Wirkung vernachlässigt. Um aber verlässliche Aussagen darüber machen zu können, welcher Radweg gut oder schlecht ist, wären präzise Messungen unter normierten Bedingungen und eine definierte und damit reproduzierbare Auswertung nötig. Alles andere kann mit dem Popometer und dem Klappern der Zähne genauso bestimmt werden.
Um nicht missverstanden zu werden, möchte ich Folgendes klarstellen:
- Es ist ein guter Anfang, wenn man versucht, mit den vorhandenen Mitteln bessere (quantitative) Aussagen zu den real existierenden Radwegeoberflächen zu machen.
- Es ist aber nur ein Anfang, da eine Quantifizierung eine definierte und sinnvolle Metrik voraussetzt.
- Es bedarf weiterer Ideen und Versuche, eine Methodik zu entwickeln, die es erlaubt, eine Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Messungen herzustellen.
Es stellt sich daher die Frage, ob ein solches Verfahren (Schwingungsmessung mit vielen, sich unterscheidenden Systemen) das Mittel der Wahl ist, um gute Radwegeoberflächen zu erhalten. Es könnte ggf. sinnvoller sein, ein Verfahren zu Oberflächenprofilvermessung zu entwickeln das die Rauigkeit der Radwegeoberflächen direkt im Darüberfahren vermisst. So hatte die Bundesanstalt für Straßenwesen (BASt) schon in den 1990er Jahren einen solchen Anhänger, mit dem bis ca. 80 km/h die Höhenänderung der Straßenoberflächen im Millimeterbereich vermessen werden konnte.
Ein Ansatz für Radwege könnte ein Anhänger sein, der mithilfe von Fotogrammetrie die Höheninformation über eine größere Breite in hoher Auflösung vermisst. Der messtechnische Aufwand ist ziemlich hoch und bedarf sicher einiger Entwicklung und damit Zeit, wäre dann aber sicher der »Goldstandard«.
Wesentlich einfacher wäre dagegen ein Einradanhänger, bei dem die Beschleunigungs-, Drehwinkel- und Geschwindigkeitssensoren direkt an der Radnabe montiert sind. Eine Standardisierung eines solchen Anhängers in Bezug auf Geometrie, Felge, Einspeichung, Bereifung und Beaufschlagung mit Masse sollte relativ einfach sein.
Die Aufzeichnung der Signale mit ca. 2,5 kHz ist heutzutage wirklich kein Hexenwerk und die damit verbundenen Datenmengen von ca. 40 kB/s sind, selbst bei langen Fahrstrecken, überschaubar.
Auch die für die frequenzbasierte Auswertung notwendige Signalverarbeitungsroutinen gibt es als gut dokumentierte Open Source Libraries, z. B. GSL.
Ich fände es daher zielführender, darüber zu diskutieren, wie ein entsprechender Standard aussehen könnte, um bundesweite Vergleichbarkeit herzustellen. Das wäre dann auch eine mögliche Grundlage für staatliche Vorschriften für Radwegeoberflächen.
Ich freue mich auf die hoffentlich spannenden und zielführenden Diskussionen.
Norbert Zacharias, Oldenburg
Eine (vorläufige) Antwort auf den Leserbrief zu den Beschleunigungsmessungen:
Ja, ein Großteil der angesprochenen Problematiken ist im Wesentlichen bekannt und auch in dem Folgeartikel der Ausgabe 36 Erschütterungsmessungen und deren Auswertung angesprochen sowie von Tom Zastrow in seinem Leserbrief – ebenfalls in Ausgabe 36 – genannt worden.
Die Messtechnik der Smartphones ist unterschiedlich. Informationen zu den Sensoren liefert die Phyphox-App. Die Aufzeichnungsrate erlaubt häufig keine Frequenzanalyse. Smartphones haben aber einen deutlich geringeren Anschaffungs- und Programmierungswiderstand als die vorgeschlagene Messtechnik. Und die Datenflut ist noch überschaubar. Denn eigentlich müsste man die Radwegoberfläche auf der gesamten Breite und nicht nur auf der Reifenbreite scannen und bewerten, also LIDAR? Das wird schon bei Fahrbahnen seltenst gemacht … und die notwendigen Folgemaßnahmen … kennt man ja leider: nichts.
Insofern ist der in den Ausgaben 35 und 36 angezeigte Weg ein Anstoß, breitenwirksam überhaupt erst anzufangen und Oberflächenmängel einfach aufzuzeigen. Professionell, vom Budget her, kann man immer noch loslegen, so sich ein Sponsor findet ;-)
Olaf Schultz, Hamburg