Ausgabe 32 · Juni 2021

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Lieblingsrad – Möhrchen

von Juliane Neuß

Möhrchen 1.0

Wenn man mich vor einigen Jahren gefragt hätte, welches mein Lieblingsrad ist, hätte ich ohne zu zögern mein englisches Randonneur-Rad »Mercian« (genannt Möhrchen) ins Rennen geschickt.

Bild 1: Während einer Radreise 2008

Seitdem hat sich meine Lebenssituation geändert, ich bin vom flachen Hamburg mit den langen Arbeitswegen ins hügelige Clausthal mit nur 2 km Arbeitsweg gezogen. Schon sieht die Sache ganz anders aus und sofort stellt sich die Frage: Wie definiere ich »Lieblingsrad«?

Möhrchen ist nach wie vor hochgeschätzt, weil es die meisten Kilometer und die längste Zeit mit mir verbracht hat, aber in der Nutzung steht es nicht mehr an erster Stelle. Den Platz hat jetzt ein selbst zusammengebautes MTB, einfach weil es die berggängigere Übersetzung hat und die Anhängerkupplung für den neuen großen Anhänger.

Also, was ist ein Lieblingsrad? Alle meine Fahrräder waren, mindestens zur Zeit der Anschaffung, Lieblingsräder. Entweder, weil es keine Konkurrenz gab (mit sechs Jahren ein Klapprad statt Kinderfahrrad) oder weil die Anschaffung ein besonderes Erlebnis darstellte. Angefangen vom ersten Motobecane-Rennsportrad (endlich das gleiche Rad wie der große Bruder!) bis hin zum maßgeschneiderten Rennrad, dem ersten Brompton oder dem ersten Liegerad. Immer war das Besondere auch ein Grund, es allen anderen Fahrrädern für eine geraume Zeit vorzuziehen. Wenn es dann in die Alltagssituation passte, umso besser.

Bild 2: Das Motobecane club mit 59 cm Rahmenhöhe während einer USA-Radtour 1987

Wann passt ein Rad in den Alltag? Es muss die Arbeitsstrecke bewältigen, die richtige Menge Gepäck mitnehmen können oder mit dem ÖPNV kombinierbar sein. Und vor allem muss es (heute) perfekt passen. Bis ungefähr zu meinem 30. Geburtstag war mir das ziemlich egal. Ich konnte alles fahren. Das Klapprad hatte zu lange Kurbeln, das Motobecane wurde mir mit einer Rahmengröße von 59 cm verkauft (ich bin 166 cm groß), das Rennrad hatte aus meiner heutigen Sicht einen zu flachen Sitzrohrwinkel und die Schweizer Valentina war für typisch weibliche Proportionen gebaut, die ich aber überhaupt nicht vorweisen kann, nämlich lange Beine und kurzen Oberkörper. Das alles war damals nicht so wichtig, wichtiger war, dass ich mir mit jedem Rad einen lang gehegten Wunsch erfüllte, der oft über Jahre gewachsen war und lange angespart wurde. Das Klapprad wurde irgendwann zu klein, ein 26″-3-Gang-Rad von Quelle, mit dem man wunderbar freihändig fahren konnte, wurde gestohlen, das Motobecane, was immerhin eine USA-Reise überstanden hatte, wurde durch einen entgegenkommenden Radfahrer geschrottet, die Valentina schließlich an eine gute Freundin verkauft. Brompton, Rennrad und Liegerad sind in meinem Besitz geblieben.

Bild 3: Die Valentina von Cortebike aus der Schweiz, mit flachem Sitzrohrwinkel und zu kurzem Oberrohr, 1995

Ganz anders Möhrchen. Möhrchen war ein Spontankauf aus aktueller Not heraus. Ich trainierte gerade für Trondheim–Oslo und mein Trainingsrad, ein leichtes und nicht sehr teures Randonneur-Rennrad, fiel (mal wieder) auf einem Hamburger Radweg einem entgegenkommenden Radfahrer zum Opfer. Ich stand mitten in der Trainingssaison ohne vernünftiges Fahrrad da. Das maßgeschneiderte Rennrad war noch nicht in Sicht, es kam erst zwei Wochen vor dem Rennen. Ich brauchte eigentlich nur einen Rahmen. Von meinen Radfahrkollegen bekam ich den Tipp, es in einem speziellen Fahrradladen zu versuchen, und dort wurde mir ohne großes Federlesen der »Mercian«-Rahmen in die Hand gedrückt. Ich hatte damals keine Ahnung, was genau ich da kaufte, nur endlos tiefes Vertrauen in die Empfehlung meiner Freunde und in den Laden.

Bild 4: Möhrchen bei seiner Erstmontage im Keller in Hamburg, 1990. Im Hintergrund das geschrottete Motobecane auf einer Trainingsrolle

Was Möhrchen bis heute den Titel »Lieblingsrad« verschafft hat, ist die pure Lebensdauer des Rades von immerhin 31 Jahren und die unendlich vielen Stunden, die ich mit ihm verbracht habe, mehr als mit den meisten meiner Freunde.

Der Rahmen war perfekt. Die Größe stimmte und ich baute innerhalb von wenigen Tagen das Rad auf. Zum größten Teil natürlich mit den Teilen von dem geschrotteten Rad. Das Training konnte fast nahtlos fortgesetzt werden. Das Rennen fuhr ich mit dem maßgeschneiderten Rennrad, hatte mich aber schon längst allein wegen der vielen Trainingskilometer in das schwarze Möhrchen verliebt.

Bild 5: Möhrchen direkt nach Fertigstellung mit weißen Schutzblechen, Speichendynamo und ohne innen verlegte Bremszüge, noch mit dem alten Motobecane-Gepäckträger

Ein wesentlicher Punkt war mit Sicherheit die gute Geometrie des Rahmens. Dank des Rennlenkers war der Abstand zwischen Sattel und Lenker für mich groß genug und der Lenker ausreichend tief. Ich konnte endlos lange mit dem Rad fahren. Trainingseinheiten bis zu 300 km Länge pro Tag wurden bewältigt. Als ich später innerhalb Hamburgs einen Arbeitsweg von 15 km hatte und mir das Liegerad zu unbequem wurde, weil meine Rückenmuskulatur nicht mehr ausreichend trainiert wurde, kam die goldene Zeit für Möhrchen. Fast 20 Jahre lang war es mein Alltagsrad. Für die langen Wege im flachen Hamburg zur Arbeit, zum Chor und im (schneefreien) Winter zum Eisschnelllauftraining war das Rad ideal. Nicht selten hatte ich am Abend 40 bis 60 km auf der Uhr. Schutzbleche, 32-mm-Bereifung und ein guter Gepäckträger sorgten für die Tauglichkeit innerhalb der Stadt. Pannen hatte ich so gut wie nie. Angst vor Diebstahl auch nicht. Ein Randonneur passte nicht in das Beuteschema der üblichen Fahrraddiebe, die ein Fahrrad so schnell wie möglich zu Geld machen wollen. Das wäre mit Möhrchen nicht gegangen, es wirkte mit seinem etwas barocken Dekor ein bisschen old-fashioned und die Zeit der Vintage-Räder war noch nicht gekommen.

Bild 6: 2008 auf einer Radreise durch Schweden nach der Teilnahme an der Vätternrundan (300 km)

Im Lauf der Jahre durchlief das Rad eine technische Metamorphose. Allein die Lichtanlage reichte vom Nordlicht-Dynamo über FER-Speichendynamo über RENAK-Nabendynamo bis hin zum SON. Wobei der RENAK erstaunlich lange seinen Dienst tat. Nur bei Temperaturen unter 10°C fing er an, Geräusche zu machen. Erst die Teilnahme an der Vätternrundan 2008 in Schweden gab genügend Anlass umzusteigen, da durfte dann auch eine Vorserie des Edelux-Scheinwerfers nicht fehlen.

Bild 7: Für die Vätternrundan bei SON erbettelt: ein Edelux-Prototyp, dessen Licht noch am Tag nach dem Rennen für Gesprächsstoff sorgte, 2008

Technische Veränderungen kamen dann aufgrund von normalem Verschleiß. Die Felgen wurden erneuert, der Lenker ausgetauscht und irgendwann zeigte der alte Motobecane-Drahtgepäckträger, der es immerhin bis zum Möhrchen geschafft hatte, einen Dauerbruch und wurde ersetzt. Was sehr lange durchgehalten hat, ist das Tretlager, ein gutes, altmodisches Konuslager, einmal perfekt eingestellt und spielfrei leichtgängig.

Allerdings muss ich gestehen, dass ich für den echten Winterbetrieb mit Schneematsch und gesalzenen Straßen immer ein spezielles Winterrad hatte. Am Anfang einen NSU-3-Gang-»Trecker«, später musste die Valentina dafür herhalten und danach ein robustes PATRIA Terra.

Bild 8: Ein 26″-PATRIA-Terra mit Rohloff und dem Original-SON von 1995 (war an der Valentina) als Winterfahrrad in Hamburg

Im Jahr 2015 ist Möhrchen 25 Jahre alt geworden. Aus einer Laune heraus überprüfte ich das damalige Kaufdatum mit dem aktuellen Kalender und stellte fest, dass es exakt der Tag der Hamburger Radreisemesse war. Da sich auf der Radreisemesse auch Radfahrer mit ihren Rädern (und ihren Reiseabenteuern) präsentieren konnten, kam mir die Idee, mit meinem Fahrrad Geburtstag zu feiern. Ich habe dann ein kleines Buch über mein Lieblingsrad zusammengestellt (und von den 200 Exemplaren die meisten an Freunde verschenkt) und am Messetag einen Stand aufgebaut, an dem man selbstverständlich Möhren-Muffins bekommen konnte.

2018 wollte ich Möhrchen dann aus seinem Kellerdasein im Harz befreien und habe eine berggängige Übersetzung eingebaut. Gefahren bin ich es dann aber kaum, weil ich häufig im Laufe des Tages meinen großen Anhänger für Fahrten zur Post brauche und die Kupplung dafür ist nur an dem MTB und an dem PATRIA. In der Hamburger Zeit hatte ich einen Vitelli-Anhänger mit einer unglaublich simplen Befestigung am Hinterbau, die ich mühelos am Randonneur montieren konnte.

Bild 9: So funktioniert der Transport von zwei Bromptons zur Post. Einer der ersten »Hinterher-Anhänger«, Sonderanfertigung in RAL 1028 Melonengelb und mit Brompton-Laufrädern. Ladefläche 80 cm × 60 cm. Als Kupplung dient noch die Vitelli-Befestigung mittels Mastfußgelenk auf M8-Schraube.

Der Vitelli wurde mir aber zu klein, sodass ich jetzt einen 120 cm × 60 cm-Anhänger von hinterher.com benutze.

Als ich Möhrchen für ein Rennradtraining einsetzen wollte, stellte ich zu meinem Entsetzen fest, dass es einen Rahmenbruch erlitten hatte. Ein Dauerschwingbruch auf der Unterseite des Oberrohrs, direkt hinter der Steuerkopfmuffe. Höchstwahrscheinlich in einem Zeitraum von höchstens sechs Monaten entstanden. Warum? Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Die Unterseite des Oberrohrs ist nicht gerade die höchstbelastete Stelle, zumal das Unterrohr völlig unbeschädigt war.

Bild 10: Der Rahmenbruch nach 29 Jahren. Dauerschwingbruch auf der Unterseite des Oberrohrs direkt hinter der Steuerrohrmuffe (das Rad steht auf dem Kopf).

Nach dem ersten Schock kamen dann pragmatische Überlegungen. Von »an die Wand hängen zum Angucken« bis hin zu »kann man doch bestimmt reparieren« war alles dabei. Letztendlich habe ich mit der Firma Mercian in England Kontakt aufgenommen und Bilder geschickt. Man sagte mir sofort eine Reparaturmöglichkeit zu. Und das wollte ich tun. In wenigen Wochen, wenn ich etwas mehr Luft haben würde, würde der Rahmen gestrippt (hoffentlich kriege ich das Tretlager jemals wieder so perfekt eingebaut!) und das Rad nach England geschickt. Da das Oberrohr ersetzt werden muss und sowieso eine Neulackierung ansteht (bitte das gleiche Dekor!), würde ich auch noch ein paar andere Dinge machen lassen. Zum einen haben sich die Einsätze im oberen Bereich der Sattelstreben scheinbar gelockert, denn man konnte schon vor einigen Jahren dort eine Trennung im Lack beobachten. Da diese Streben aber fast nur Druck übertragen, habe ich das nie als Problem gesehen. Außerdem hat sich mit der Zeit die Sattelklemmung so stark zusammengezogen, dass sie auf Anschlag ist. In so einem Fall ersetzt man die Muffe und ein kleiner »Schönheitsfehler« könnte bei der Gelegenheit auch beseitigt werden: Die Canti-Sockel sitzen zu hoch!

Bild 11: Zu hoch angesetzte Canti-Sockel
Bild 12: … und korrigiert.

Möglicherweise, und das passt zum Kaufdatum 1990, war der Rahmen noch für das alte 27″-Maß konzipiert, nämlich 630 ETRTO. Im Radius 4 mm mehr als das 28″-Maß. Die Canti-Sockel waren immer ein bisschen zu hoch, um die Cantis entspannt einbauen zu können. Ich habe sogar damals nach besonders flachen Modellen gesucht, damit der Winkel einigermaßen stimmt.

Wenn alles klappen würde, gäbe es für Möhrchen eine Wiedergeburt. Möhrchen 2.0!

Fast zwei Jahre später: Möhrchen ist wieder da!

Nachdem ich den Rahmenbruch festgestellt hatte, hatte ich erst mal keine Zeit, das Rad auseinanderzubauen. Ich schaffte es erst im April 2020, aber es war Corona und die Firma Mercian arbeitete nicht. Im August war es dann so weit. Der Rahmen ging auf Reisen und kam ungefähr sechs Wochen später frisch lackiert und an allen genannten Punkten verbessert zu mir zurück. Das Tretlager musste leider doch ersetzt werden, ohne Kurbeln konnte man die Rauigkeit des Lagers spüren, deshalb musste es erneuert werden.

Bild 13: 30 Jahre später. Der Aufbau des frisch reparierten Möhrchens in meiner mittlerweile (im Vergleich zu Bild 4) fast perfekten Fahrradwerkstatt

Alle anderen Bauteile waren innerhalb von vier Stunden montiert und am nächsten Tag habe ich damit meine erste Trainingsrunde im Oberharz gedreht. Wir hatten Glück und konnten eine tolle Abfahrt auf babypoglattem Asphalt genießen. Die Straße war neu gemacht und für den Kfz-Verkehr noch gesperrt. Später zeigte meine Pulsuhr, dass ich 75 km/h Maximalgeschwindigkeit gehabt habe. Ein Tempo, was ich mir mit meinem Rennrad nicht zugetraut hätte, aber Möhrchen liegt einfach klasse auf der Straße, kein Flattern, kein Schwingen, einfach nur ein gutes Fahrgefühl.

Firma Mercian hat alle Arbeiten so ausgeführt, wie ich es vorgeschlagen hatte. Die Bremsen konnten endlich problemlos eingestellt werden und auch die Sattelklemmung war wieder frisch mit einer neuen Muffe. Die Lackierung wurde genau so wiederhergestellt, wie sie vor 30 Jahren war. Allerdings ist die Qualität des Lackes doch etwas schlechter, er neigt ein wenig zum Splittern, was bei der Klemmung des Umwerfers sichtbar wurde, aber dort stört es nicht.

Letztens habe ich dann noch einen Missstand, der fast seit Anbeginn bestand, korrigiert. Der Umwerfer hatte mal seine Distanzhülse am Ende des Leitbleches verloren und dort war nur eine schlichte Schraube, die aber den Abstand nicht sicher gewährleistete und trotzdem 30 Jahre funktioniert hat. Ich hatte noch einen identischen Ersatzumwerfer (Shimano Golden Arrow), den ich zu diesem Zweck fleddern konnte. Jetzt kann man sagen, das Rad ist perfekt. Einige erste Trainingstouren waren dieses Frühjahr schon drin und ich merke, dass Möhrchen einfach das am besten passende Fahrrad für mich ist.

Bild 14: Wie neu!

Zur Autorin

Juliane Neuß, von Beruf Technische Assistentin für Metallographie und Werkstoffkunde. Ihre Berufung: Fahrradergonomie und Fahrräder für kleinwüchsige Menschen. Betreibt seit 1998 die Firma Junik-Spezialfahrräder, hat sechs Jahre lang die Filiale eines Fahrradladens in Hamburg geleitet und viele Jahre den Techtalk in der ADFC-Radwelt geschrieben. Sie ist seit 2016 Inhaberin der »Fahrradschmiede 2.0« in Clausthal-Zellerfeld, ihrem Heimatort, und hat dort auch eine Brompton-Spezialwerkstatt.