Ausgabe 9 · Oktober 2009
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Elektroräder sind einfach nur toll – wirklich?
Von den verschiedenen Arten von Elektromofas steht vor allem eine zur
Debatte:
Das sogenannte Pedelec, das in Deutschland zulassungs- führerschein- und
helmpflichtfrei ist – rechtlich ein »Fahrrad«.
Eigenschaften: Man darf und muss mittreten. Der Motor darf eine Nennleistung bis 250 Watt haben und unterstützt (bei ungetunten Modellen) den Muskelantrieb bis 25 km/h.
Es gibt Modelle mit einer zusätzlichen Anfahr- oder Schiebehilfe (zum Beispiel, um das schwere Fahrzeug eine steile schiefe Ebene hochzustemmen), die einen Nur-Motorbetrieb bis 6km/h ermöglicht – wofür Fahrer nach Baujahr April 1965 allerdings einen Führerschein brauchen.
Viel, wenig oder nur symbolisch mittreten?
Der Unterstützungsgrad ist normalerweise mehrstufig steuerbar und erstaunlicherweise offenbar nicht begrenzt – außer durch die zulässige Motor-Dauerleistung von 250 Watt.
Bei dem von mir probegefahrenen BionX-PL-250-HT-Antrieb (siehe Fotos) zum Beispiel gibt es die vier Stufen 35 %, 75 %, 150 % und 300 %. Die ersten beiden Stufen verdienen aus meiner Sicht noch die Bezeichnung »Hilfsantrieb«, weil die Unterstützung schwächer ist als der Bio-»Hauptantrieb«. Bei der dritten Stufe erscheint mir das schon zweifelhaft, weil der Elektromotor schon wesentlich mehr leistet als der »Hauptmotor«. In der vierten Stufe wird es dann richtig extrem: Für nur 50 Watt Muskelleistung bekomme ich 150 Watt Mofa-Leistung dazu.
Ab wann ist der Radfahrer nur noch ein Statist, der sich bloß symbolisch bewegt, nur um den Motor am Laufen zu halten, aber ohne einen nennenswerten Beitrag zu seiner Fortbewegung zu leisten?
Neben reinen Elektromotorrädern mit zweistelligen PS-Zahlen (z. B.
Quantya,
Zero Motorcycles oder einfach
auf Wikipedia nach Elektromotorrad gucken) gibt es einige Einzelstücke
bzw. Kleinstserienmodelle von »Fahrrädern« im 100-km/h-Bereich, die nur
laufen, wenn man – symbolisch – tritt (z. B.
ErockIt).
Auch die »Schweizer« (Unterstützung bis 45km/h, hier zulassungspflichtig)
sind nicht mehr weit von diesem Unsinn weg. Es scheint einen Trend zur
»Veredelung« von KFZ-Antrieben durch die Tarnkappe »Fahrrad« zu geben.
Analog könnte man über Trimmdich-Autos nachdenken, die erst dann wieder
500 Meter fahren, wenn der Fahrer die zweckmäßigerweise auf dem
Armaturenbrett liegende Hantel dreimal gestemmt hat.
Reichweite
Die begrenzte Reichweite ist und bleibt ein Hauptnachteil aller Elektromotorräder, -mopeds und Pedelecs.
Die zunehmende Verbreitung von Lithiumakkus, die wesentlich höhere Energiedichten haben als Blei-, NiCd- und NiMH-Akkus, hat die Reichweiten zwar deutlich erhöht. Aber sie bleiben, wenn man davon ausgeht, dass man nicht mehr als einen der bis knapp 1.000 € teuren Akkupacks benutzt, eben doch enttäuschend klein – siehe meinen Testbericht.
Verglichen mit so einem Kurzstreckenfahrzeug ist ein Fahrrad völlig autonom (die Reichweite ist technisch nur durch Verschleißdefekte begrenzt, also normalerweise auf vierstellige Kilometerzahlen), und auch Mopeds mit Verbrennungsmotor sind verglichen mit elektrischen Langstreckenfahrzeuge, weil die Tankfüllungen wesentlich länger halten und umstandslos sofort »nachgeladen« werden können.
Kosten
Pedelecs sind teuer. Ich finde es immer wieder erstaunlich, wie wenig Fahrrad man für’s Pedelec-Geld bekommt: Man legt ordentlich Kapital hin – und bekommt schwere, z.T. wenig funktionelle Technik dafür. Selbst bei sehr teuren Fahrzeugen (z. B. das von mir getestete Riese&Müller Delite für fast 4.000 €) wird noch an Details gespart. Macht das Geschrottel mit einfacher Technik wirklich Lust auf’s Radfahren (wie immer wieder von E-Bike-Fans behauptet)?
Oft übersehen und auch gern heruntergespielt, im schlimmsten Fall von der Werbung und beim Kauf völlig verschwiegen, werden die relativ geringe Haltbarkeit und die hohen Preise der Akkus, die das mit Abstand teuerste Verschleißteil sind – siehe Andreas Oehlers Betrachtungen zu diesem Thema.
Wem nützt ein Pedelec?
Wer nicht behindert oder durch Krankheiten geschwächt ist, braucht kein Pedelec – zumindest bei den üblichen kurzen bis mittleren Strecken ohne vernichtend lange Steigungen oder heftigen Gegenwind. Unter diesen Umständen, die auf den Großteil aller Fahrradnutzungen zutreffen, macht ein bei 25 km/h abregelnder Hilfsantrieb den durchschnittlich trainierten Alltagsradler nicht signifikant schneller. Wirklich schneller macht ein Pedelec nur bei häufigem Beschleunigen aus dem Stand und bei großen Fahrwiderständen (Steigungen, Gegenwind), die Radfahrer traditionell, z. B. durch die Wahl von ampel- oder steigungsarmen Alternativstrecken, meiden.
Der unbehinderte »Normalnutzer« profitiert also wenig vom abgeregelten Hilfsantrieb. So er sich nicht mit »Tuning« beschäftigt, was, siehe einschlägige Webforen, massenhaft zu grassieren scheint. Das »Entdrosseln« ist zum Teil viel einfacher als bei Verbrennungsmotoren: Bestimmte Antriebe sind besonders beliebt, weil die Regelelektronik mit ein paar Handgriffen umprogrammiert ist. Was wohl bei einer technischen Polizei-Verkehrskontrolle der verdächtigsten Zielgruppe (männlich unter 50) herauskäme? 60 Prozent frisiert oder nur 20?
Aber neben diesen illegalen E-Mopedlern gibt es ja noch die mutmaßlich größere Gruppe der rechtschaffenen Normalnutzer, die ungetunt so lahm wie Durchschnittsradfahrer durch die Gegend schleichen. Diesen bringt das Pedelec zwar keinen Zeitvorteil, aber dafür immerhin weniger Anstrengung. Ob das nun in einer Gesellschaft, die unter Überernährung und Bewegungsmangel leidet, als Vor- oder Nachteil zu werten ist, ist Ansichtssache. Den fehlenden Trainingseffekt kann man immerhin dadurch kompensieren, dass man abends zum Fitnesscenter fährt – möglichst mit dem Auto oder Elektrorad, damit man sich unterwegs nicht überanstrengt.
Andererseits ist von Elektroradbefürwortern immer wieder zu hören, dass es sie doch gibt – die Gesunden und Leistungsfähigen, denen das Pedelec den Weg zur Arbeit erleichtert. Ein Standardbeispiel ist der Spessart- oder Hintertaunus-Bewohner, der viele Höhenmeter auf dem Weg zur Arbeit hat, die ohne Hilfsantrieb viel schwerer und langsamer zu bewältigen sind. Hübsches Profil – nur in Fleisch und Blut getroffen habe ich dieses Klischee noch nicht. Ich bezweifle nicht, dass solche Pedelec-Nutzer existieren – aber wie viele sind es?
Ein weiteres Klischee ist der krawattenverzierte Angestellte, der nicht verschwitzt im Büro ankommen möchte. Diesem Argument kann ich nicht so richtig folgen, weil ich eine Reihe von Angestellten in Frankfurter Banken, Versicherungen und Öffentlichem Dienst kenne, die auf ihre Garderobe achten müssen – und trotzdem mit altmodischen Muskelkrafträdern zur Arbeit fahren.
Scheinbar ist das Pedelec ein optimales Behindertenfahrzeug für kurze und mittlere Strecken – lange sind ja wegen der begrenzten Reichweite nicht drin. Dieses Bedürfnis gibt es vor allem in Großstädten und Ballungsräumen, wo das Fahrrad (und auch eines, das nur so tut) in vielen Bereichen das schnellste und unkomplizierteste Verkehrsmittel ist.
Aber welcher Großstädter hat die Möglichkeit, sein teures Pedelec sicher und trocken direkt am Haus abzustellen? Der Normalfall ist doch die Miet- oder Eigentumswohnung ohne Garage. Fahrräder können nur im Keller oder, auch nicht selten, nur in der Wohnung abgestellt werden.
Wer physisch so schwach ist, dass er in der Stadt ein Fahrrad nicht (mehr richtig) antreiben kann (der typische Pedelec-Kunde, eigentlich), hat das Problem, dass er/sie die rund 25 kg schweren Elektrofahrzeuge kaum Treppen hoch- und runterstemmen kann (was ich bereits als gesunder Erwachsener als grenzwertig anstrengend und schlecht für meinen Rücken empfinde).
Aber auch ohne dieses Problem ist ein Pedelec nicht für jeden
Interessenten geeignet. Ich bekomme ab und zu Anrufe von alten Leuten, die
Beratung suchen – und habe nach der Schilderung der jeweiligen
E-Bike-Indikation (immer ein einschneidendes Ereignis, wie schwerer
Schlaganfall, Herzinfarkt, Unfall) sehr oft Zweifel daran, ob der Anrufer
ein Pedelec überhaupt handhaben kann – leistungs- aber auch
balancemäßig.
Wer so gehandicapt ist, dass er/sie nicht mehr radfahren kann, wird in den
meisten Fällen auch nicht mehr gut mit einem schweren Elektrorad
zurechtkommen.
Wem nützt es also wirklich? Jungen, dynamischen Leuten, die es einfach
uncool finden, sich noch ganz aus eigener Kraft fortzubewegen? Dem Pendler
im Hintertaunus, der in Frankfurt arbeitet und jeden Tag über den
Taunuskamm muss – und sich am Arbeitsplatz nicht duschen oder/und umziehen
darf oder kann?
Gibt es diese Leute? Mag sein – aber ich sehe sie bisher nicht … wo sind
sie?
Oder übersehe ich sie auf den Straßen ständig? Das glaube ich kaum, weil
man die Elektroantriebe gut hören kann.
Alternativen
Zumindest für gesunde Menschen halte ich einen Fahrrad-Hilfsantrieb für überflüssig. Aber wenn schon Motor, dann erscheint mir der Verbrennungsmotor als ernsthafte, weil in den Kernpunkten technisch überlegene, Konkurrenz zum Elektromotor.
Er ist halt nicht so »sexy« und gilt als umweltunfreundlich. Aber wenn man sich mal die Mühe machen würde, das technisch Mögliche auszureizen und Kleinstmotoren zu entwickeln, die betreffend Verbrauch, Wirkungsgrad und Emissionen optimiert sind (die Forschung ist hier vor 50 Jahren stehengeblieben), würde sich da wohl einiges machen lassen.
Siehe auch Lui Frimmels amüsanten Artikel.
Zum Autor
Rainer Mai ist Fahrrad-Sachverständiger in Frankfurt am Main, Maschinenbauingenieur, Alltags- und Reiseradler, Mitgründer und Betreuer einer Selbsthilfewerkstatt, Mitinitiator der »AG Verflixtes Schutzblech«.