Ausgabe 34 · Mai 2022

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Grundlagen der Fahrradergonomie – Teil 1

von Juliane Neuß

Einleitung

Mit freundlicher Genehmingung von Tom

Die Fahrradergonomie beschäftigt sich mit der geometrischen Anpassung des Fahrradrahmens und der einzelnen Komponenten, um dauerhaft schmerzfreies, körperoptimiertes und kräfteschonendes Radfahren zu gewährleisten – so was nennt man auch Spaß!

Ich möchte mit diesem und zwei Folgebeiträgen aus meiner Sicht erläutern, welche grundlegenden Erklärungen zu einem korrekten Verständnis der Fahrradergonomie beitragen können.

Unter Radfahrenden gibt es eine Unzahl nicht verifizierter Ergonomiefaustregeln, die gebetsmühlenartig auch von Journalisten von Fachzeitschriften ungeprüft wiederholt werden.

Meine Erfahrungen (und somit entstandenen Theorien) beruhen auf mehreren Tausend erfolgreich durchgeführten Ergonomieberatungen jenseits des Mainstreams. Ich habe zusätzlich eine C-Trainer-Ausbildung für das Fach Eisschnelllauf und sowohl dort als auch im Langstreckenradfahren jahrzehntelange Erfahrung, die ich mit einfließen lasse. Viele meiner Kunden kommen von erfolglosen Beratungen aus anderen Bereichen und suchen bei mir Aufklärung und Hilfe. Das reicht von falsch angepassten Maßrahmen über unsinnige Sattelempfehlungen bis hin zu Rennradfahrern, die ihre Rückenschmerzen nicht in den Griff bekommen.

Seit 2003 halte ich Schulungen und Vorträge mit dem Thema Fahrradergonomie. 2006 kam die intensive Beschäftigung mit Sattelgeometrien, Formen und Eigenschaften dazu, was jetzt zu einem Forschungsvorhaben an der TU Clausthal geführt hat. Nachdem ich erste Ergonomieerfahrungen bei der Konstruktion des mitwachsenden Kinderfahrrads »Skippy« gesammelt hatte, wurde ich auch mitverantwortlich für die Ergonomieüberlegungen, die die Firma PATRIA in Bielefeld ihren Maßanfertigungen voranstellt.

Durch die Berücksichtigung von Körperwinkeln (Arbeitswinkeln) und ohne die festen Vorgaben traditioneller Längenverhältnis-Betrachtungen (»Oberrohrlänge ist das xy-fache der Beinlänge!«) kann ich mich mit meinen Beratungen auf jede Ungewöhnlichkeit einstellen und unter anderem auch die Fahrräder für kleinwüchsige, disproportionale Menschen entwerfen, die dann perfekt passen.

Übliche Vorgehensweise bei einer Ergonomieberatung

Bild 1: Nachstellung der Ausgangssituation
Geometrie und Sitzposition des vorhandenen Rades werden auf dem Velochecker nachgestellt. Es entsteht die der Fahrerin bekannte Sitzhaltung mit allen Problemen: Rundrücken, Kopf im Nacken, Schultern hochgedrückt.
Bild 2: Korrektur
Die Sitzposition wird Stück für Stück optimiert: Die Rückenmuskulatur ist aktiv, die Schultern fallen entspannt nach vorn, Rücken und Nackenlinie sind verbessert und entkrampft.
Bild 3: Ergebnis
Die gelungene Umsetzung auf dem eigenen Fahrrad.

Fahrradergonomie für Alltags- und Langstreckenfahrer hat zum Ziel, sich möglichst kräfteschonend und mit optimalem muskulärem Gelenkschutz fortzubewegen. Im Gegensatz zum Hochleistungsradsport steht nicht die maximale Spitzenleistung im Vordergrund, sondern eine bestimmte Form von Effizienz, die neben dem Radfahren auch noch die Bewältigung des Alltags gewährleisten muss.

Durch die Berücksichtigung der Arbeitswinkel werden die Gelenke geschont und muskulär unterstützt. Eine ausbalancierte Sitzposition bringt den Körperschwerpunkt aktiv zum Einsatz und trägt zur Effizienz bei.

Bild 4: Ergonomische Haltung über den Körperschwerpunkt ausbalanciert (Bewegungsstudie)

Was sind Arbeitswinkel?

Unsere Gliedmaßen bestehen aus einer Reihe von hintereinander angeordneten Gelenken, die alle einen bestimmten Bewegungsradius haben und einen begrenzten Bereich, in dem sinnvoll Arbeit geleistet werden kann. Nicht jedes Gelenk ist gleich. Das Ellenbogengelenk, mit dem wir durch Anwinkeln des Armes Lasten heben können, hat sein Leistungsmaximum, wenn es stärker als 90° angewinkelt ist. Dann kann der Bizeps (Oberarmmuskel) seine volle Kraft entfalten.

Das Kniegelenk, mit dessen Hilfe wir hohe Sprünge vollbringen können (oder kräftig in die Pedale treten können), arbeitet bei der fast vollständigen Streckung am besten. Alle Bewegungen, die stattdessen mit hoher Last bei einem Kniewinkel unter 90° ausgeführt werden, belasten die Gelenkstrukturen ungünstig und führen zu hohem Knorpelverschleiß.

Bild 5: Optimierte Beinstreckung mit aktivem Fußeinsatz

Korrekte Arbeitswinkel beschreiben den Körperwinkel, bei dem Gelenke maximale Arbeit leisten können und gleichzeitig optimal vor Verschleiß geschützt sind. Zu den Arbeitswinkeln gehören immer auch mehrere Muskelgruppen, die dafür sorgen, dass die Kraftübertragung mit Muskelspannung geschieht und nicht durch Druck (und Kräfte) auf ungeschützte Gelenkstrukturen (ungebremster Gelenkflächenkontakt).

Beispiel: Wenn ich von einem Hocker auf den Boden springe und dabei sofort mit der ganzen Sohle aufkomme, werden die Gelenkstrukturen stärker (und schmerzhafter) belastet, als wenn ich mit dem Vorfuß (Zehenspitzen) aufkomme und dabei die restliche Fußsohle erst vergleichsweise langsam und muskulär gebremst Fußbodenkontakt bekommt.

Interessanterweise beklagen viele Radfahrende, die eigentlich mehr fahren wollen, dass ihnen alle möglichen Körperteile (Handgelenk, Schulter, Nacken, Rücken) wehtun, bevor sie ihre eigentliche Leistungsgrenze erreicht haben, denn dann würden ja die radfahrspezifischen Muskeln wie Wade oder Oberschenkel schmerzen. Genau das ist der Arbeitsbereich der Ergonomie beim Radfahren: Wie kann ich das Gesamtsystem »arbeitender Körper« so im Fahrradrahmen unterbringen, dass es möglichst wenig Schmerzen und Überlastungen erfährt und dabei gute Leistung erbringt.

Da ich seit fast 20 Jahren sehr intensiv Ergonomieberatung an Alltagsradfahrern anbiete, habe ich einen ganz guten Überblick, wie der Alltagsradfahrer denkt bzw. von welchen Glaubenssätzen er geprägt ist. Viele dieser Aussagen, die nicht selten von Fachleuten wie Fahrradhändlern, Sportjournalisten, Orthopäden oder Physiotherapeuten geäußert werden, entbehren jeder Grundlage oder sind nie hinterfragt worden. Da diese Aussagen nicht dazu beitragen, dass die Menschen mehr und vor allem mit Spaß und ohne Schmerzen längere Strecken Rad fahren, sind sie ein Zeichen dafür, dass sie nicht die volle Wahrheit enthalten.

Hinzu kommt, dass der Mensch es bequem haben möchte. Und Bequemlichkeit kann z. B. bedeuten, dass man an der Ampel stehend nicht absteigen muss, sondern auf dem Sattel sitzend mit den Füßen auf den Boden kommt. Außerdem wurde diese »Anweisung« ja von früher Kindheit an eingetrichtert und durch Verkehrserziehung in der Schule noch mit offiziellem Siegel gelehrt. Warum sollte man daran etwas ändern.

Erschwerend kommt hinzu, dass einige ergonomische Regeln, die eindeutig zum schmerzfreieren und effizienteren Radfahren beitragen, als Paradox daherkommen. Da wäre der harte, schmale Sattel, der die Tretbewegung und die Auflagefläche des Gesäßes verbessert, oder der tiefe Lenker, der dafür sorgt, dass Schultern und Handgelenke nicht mehr schmerzen. Auch der Orthopäde, der bei Bandscheibenproblemen die aufrechte Sitzposition propagiert, hat in den seltensten Fällen recht, da im Gegensatz dazu der korrekt geneigte Rücken (unter Mitnahme des Beckens) die Rückenmuskulatur viel besser und physiologisch sinnvoll trainiert und gleichzeitig die geplagten Bandscheiben entlastet.

Als letztes Argument, um alles beim Alten zu lassen, kommt dann die Aussage, ich fahre doch schon immer so, oder: Die bei der »Tour de France« (TdF) sitzen doch auch krumm und tief. Die erste Aussage entkräftet der Ratsuchende schon dadurch, dass er Rat sucht. Wahrscheinlich hat er beim Radfahren Schmerzen, die nicht tolerabel sind (nach wenigen Kilometern, nur auf dem XY-Rad) oder steht kurz davor, das Radfahren ganz aufgeben zu müssen, was nicht selten einen Beratungsgrund darstellt. Bei der zweiten Aussage muss ich weiter ausholen und erklären, dass die Art und Weise und die Geschwindigkeiten, die bei der TdF gefahren werden, ganz andere Voraussetzungen brauchen als der Alltagsradfahrer, der nach 10 km Arbeitsweg noch einen Arbeitstag zu bewältigen hat und auch wieder mit dem Rad nach Hause fährt. Der Profiradfahrer hat nicht in erster Linie seine Gesundheit im Blick, sondern das Erreichen der maximalen Geschwindigkeit. Da kann ein tiefer Sattel und die damit verbesserte Aerodynamik mehr zum Tempo beitragen als eine korrekte schmerzfreie und bandscheibenschonende Rückenhaltung.

Als 2011 mein Buch »Richtig sitzen – locker Rad fahren« (an dem Titel bin ich unschuldig, das war der Wunsch des Verlages) rauskam, habe ich darin versucht, alle Zusammenhänge so sinnvoll wie möglich zu erklären. In dem Buch war aber kein Raum, noch tiefer in die Materie einzusteigen und die wirkliche Arbeitsweise und Bedeutung der Körperwinkel und der Schwerpunktlage zu erläutern. Das wäre auch nicht zielgruppengerecht gewesen, denn das Buch sollte so allgemein verständlich wie möglich informieren.

Ich habe aber das Gefühl, dass ich den wirklich Interessierten noch Erklärungen schuldig bin, und sehe in der Fahrradzukunft ein sehr gutes Medium dafür. Obwohl ich in den Vorworten aller drei Auflagen darauf hingewiesen habe, dass eine wissenschaftliche Untersuchung der von mir aufgestellten Theorien wünschenswert wäre, ist dies nirgendwo aufgegriffen worden.

Zusammenfassung

  • Das Fahren längerer Strecken im Alltag darf keine Schmerzen verursachen, vor allem nicht im Rücken, im Nacken, in den Handgelenken und den Knien.
  • Effizientes und schmerzfreies Radfahren kann man lernen, auch wenn man es jahrelang anders ausgeübt hat.
  • Es gibt scheinbare Paradoxe, auf die ich mich einlassen muss.
  • Hochleistungsradsport ist kein Maßstab für den Alltag.
  • Die Lage des Körperschwerpunkts trägt wesentlich zur Effizienz des Radfahrens bei und verbietet in den meisten Fällen eine »aufrechte Sitzposition« (was sich viel schlimmer anhört, als es ist).
  • Korrekte Arbeitswinkel für alle Gelenke sind ein Muss. Arbeitswinkel sind für jeden einzelnen Körper absolute Größen und erlauben keine großen Abweichungen. Die Toleranzbereiche für den jeweiligen Körperabschnitt liegen erfahrungsgemäß im Bereich von 1–2 cm. Daher fordert jeder Körper für sich genau eine Sitzposition zum effektiven Radfahren, wobei es letztendlich egal ist, auf welchem Rad sie eingenommen wird. Vorausgesetzt, das Ziel ist die Bewältigung längerer Strecken und nicht die Fahrt zum Bäcker oder zur nächsten Eisdiele.

Die Anforderungen im Einzelnen, die ich in drei Teilen im Laufe des Jahres erklären werde:

  • Teil 1: Der Antrieb von der Fußspitze bis zum Hüftgelenk
    • Ich trete mit dem Fußballen auf dem Pedal
    • Ich fahre mit angehobener Ferse/leicht gestrecktem Fußgelenk
    • Im tiefsten Punkt ist das Bein dabei fast gestreckt.
    • Die Kurbellänge passt zu meiner Beinlänge.
    • Die maximale Kurbellänge (in Millimetern) ist nicht größer als meine Körpergröße (in Zentimetern) (gilt nicht für disproportionierte Personen, z. B. Kleinwüchsige). Eine »zu kurze« Kurbel tut aber nicht weh.
    • In der 11-Uhr-Position (von links gesehen) ist mein Knie nicht stärker als 90° angewinkelt.
  • Teil 2: Sattelposition und Beckenstellung
    • Der Sitzrohrwinkel ist so konstruiert, dass bei optimaler und deswegen maximaler Sattelhöhe das Knielot bei waagerechter Pedalstellung nach vorne, auf Zehengrundgelenk und Pedalachse zeigt oder evtl. sogar weiter nach vorne, aber niemals dahinter.
    • Der Sattel passt zu meinem Körpergewicht und übernimmt mit der flexiblen Sattelschale die vorhandene Beckenwölbung und passt sich entsprechend an.
    • Der Sattel ist so schmal, dass ich ohne nach vorne zu rutschen mit den Oberschenkeln bequem an der Sattelflanke vorbeikomme.
    • Der Sattel wird nicht mit den Sitzbeinhöckern und auch nicht mit dem Steißbein belastet, sondern das Becken liegt mit der gesamten Unterseite (Schambeine und Schambeinbogen) auf. Der Sattel verschwindet bestenfalls vollständig unter dem Fahrer und der hintere Bereich ist nicht zu sehen (hängt von der Sattelkonstruktion ab).
    • Der Sattel ist mit der Sattelnase leicht nach unten geneigt.
    • Der nach vorn geneigte Rücken hat seine natürliche Doppel-S-Form und stellt die Verlängerung der Beckenachse dar. Es gibt keinen Rundrücken. Die Lendenlordose ist aktiv. Die leicht angespannte Bauchmuskulatur verhindert ein »Durchhängen«.
  • Teil 3: Bedeutung der Oberkörperhaltung und der erforderlichen Lenkerhöhe (bzw. -tiefe)
    • Der Abstand zwischen Sattel und Lenker ist so groß, dass ein rechter Winkel zwischen Oberarm und Oberkörper entsteht.
    • Die aufkommenden Stützkräfte werden in die starke Schulter- bzw. Brustmuskulatur, die seitlich der Brustwirbelsäule liegt, geleitet (und nicht in den Nackenbereich).
    • Die Rückenneigung ist so ausbalanciert, dass der Körperschwerpunkt über dem antreibenden Pedal liegt und sehr wenig Stützkräfte notwendig sind. Bei voller Pedallast würden fast keine Stützkräfte auf Sattel und Lenker entstehen (it’s like flying over the bike).
    • Die Lenkerhöhe ist so niedrig, dass bei ausbalancierter Rückenhaltung die Arme locker Richtung Lenker zeigen und die Schulter abfällt. Ein Hochdrücken der Schulter ist nicht nötig. Die Arme haben genug Platz.
    • Die Lenkerbreite ist etwas größer als die Schulterbreite, die Arme liegen nicht parallel, sondern öffnen sich leicht.
    • Der Lenker ist gerade und bietet durch ergonomische Griffe eine maximale Auflagefläche, die die Handgelenke stützt. Ein Rennlenker bietet noch mehr Vorteile für die ergonomische Haltung.

Der Antrieb von der Fußspitze bis zum Hüftgelenk

Der Vorfuß, oder vordere Fußballen, sollte ungefähr mit dem Zehengrundgelenk über der Pedalachse auf das Pedal gesetzt werden. Gleichzeitig soll beim Treten in (fast) jeder Position die Ferse leicht angehoben sein.

Bild 6: Beinlänge mit Fußlänge und Beckenkippung ergänzt

Dadurch ist die effektive Beinlänge um ein Drittel der Fußlänge ergänzt. Die dadurch entstehende effektive Beinlänge unterscheidet sich von der »Innenbeinlänge«, indem nicht nur die Länge des Oberschenkels und des Unterschenkels berücksichtigt wird, sondern auch der teilweise gestreckte Fuß, der dadurch zu einem Teil der Beinlänge wird. Der Antrieb des Radfahrenden geschieht in erster Linie durch die Beinstreckung. Das entspricht ziemlich genau der Bewegung, wie man sie beim Eisschnelllaufen beobachten kann. Eisschnelllaufen und Radfahren sind von ihrem muskulären Anspruch sehr, sehr ähnlich. Nicht nur, dass die Eisschnellläufer das Radfahren grundsätzlich als Trainingsmethode in eisfreien Zeiten nutzen, es gab sogar Olympiateilnehmer, die bei den Winterspielen auf dem Eis teilnahmen und bei den Sommerspielen sich im Radfahren Medaillen holten. Eine wesentliche Neuerung im Eisschnelllaufen waren vor über 20 Jahren die sogenannten Klappschlittschuhe. Der Schuh konnte wie beim Skilanglauf von der Kufe wegklappen. Der Fuß wurde gestreckt (und ergänzte die effektive Beinlänge) und die Kufe blieb auf dem Eis und konnte Vortrieb erzeugen. Damit purzelten die Rekorde.

Die effektive Beinlänge wird auch noch über die Beckenstellung beeinflusst. Wenn das Becken senkrecht auf dem Sattel steht (und die Sitzbeinhöcker unnötigerweise als Einzige belastet sind), ist das obere Ende des Oberschenkelknochens in seiner Hüftgelenkpfanne am weitesten von der Satteloberfläche und vom Pedal entfernt. Die effektive Beinlänge ist dadurch verkürzt. Wird das Becken nach vorne geneigt, wie es ergonomisch sinnvoll ist, wandert das Hüftgelenk weiter nach unten und die effektive Beinlänge nimmt zu. Das Ganze ist nur dann sinnvoll, wenn die Sattelhöhe dabei diesem Längengewinn angepasst wird. In der Regel liegt die Sattelhöhe dann 6–15 cm über der einfachen Innenbeinlänge (hängt von der Schuhgröße und von der Beckengeometrie ab). Die optimale Sattelhöhe ist dann erreicht, wenn bei der oben genannten Haltung (Fußballen auf dem Pedal, Ferse angehoben, Becken gekippt) das Bein bei tiefster Pedalstellung nicht ganz durchgestreckt ist, was normalerweise dann auch keiner macht.

Einen zu hohen Sattel merkt man, einen zu tiefen in der Regel nicht.

Wer allerdings seine maximale (und somit optimale Höhe) kennt, wird erfahrungsgemäß nie wieder davon abweichen und jede zu tiefe Abweichung wieder nach oben korrigieren.

Bild 7: Beinstreckung mit einem Meterstab kontrollierbar. Die Verlängerungslinie vom Oberschenkel kommt sehr nahe an die Fußspitze heran.

Warum das Ganze? Es ist doch viel praktischer und bequemer, mit dem Fuß den Boden zu erreichen und dabei auf dem Sattel sitzen bleiben zu können!

Solange wir Fahrräder fahren, die 170 mm lange Kurbeln oder längere haben (was bei 99 % der Fall sein dürfte), brauchen wir die maximale effektive Beinlänge, um in der Nähe des oberen Todpunktes im Kurbelkreis (11-Uhr-Position) einen Kniewinkel von 90° nicht zu unterschreiten.

Bild 8: Ab der 11-Uhr-Position sollte der Kniewinkel immer größer als 90° sein.

Noch mal: Wenn die Pedalkurbel von links gesehen in der 11-Uhr-Position steht (Kurbel zeigt leicht nach vorne), können schon 40 % der Maximalkraft eingeleitet werden. Biodynamisch wird das oft als Startpunkt der Krafteinleitung angenommen. Wenn bei diesem Kraftakt das Knie zu stark gebeugt ist, nämlich unter 90°, treten erhebliche Kräfte senkrecht zur Kniescheibe auf, die die Knorpelflächen zerstören können und es auch tun. Wenn man es merkt, ist es meistens zu spät. Man kann eigentlich immer davon ausgehen, dass Radfahrende, die Knieschmerzen haben, entweder zu tief sitzen oder zu lange Pedalkurbeln fahren (oder beides). Wenn man auf dem Sattel sitzend mit den Fußspitzen den Boden berühren kann, sitzt man schon fast 10 cm zu tief, denn diese Haltung sollte ja eigentlich auf dem Pedal stattfinden. Das Pedal ist aber im tiefsten Punkt immer mindestens 10–11 cm vom Boden entfernt, sonst würde das Pedal in der Kurve aufsetzen, wenn es in der unteren Position ist. Vorgeschrieben ist, dass man mindestens 25° Seitenneigung bei unten stehendem Pedal fahren können muss. Das erzeugt die genannte Mindesthöhe. Bei Mountainbikes mit Federungssystemen oder E-Bikes mit Mittelmotor können das auch mal 5–8 cm mehr sein.

Man könnte jetzt annehmen, dass sehr große Menschen (>190 cm), die eine Beinlänge von 95–100 cm haben, bei normalen 170er-Kurbeln das Problem nicht haben. Der Pedalhub (Abstand von der tiefsten zur höchsten Pedalstellung) mit seinen 34 cm macht bei ihnen nur einen Bruchteil der Beinlänge aus. Ganz im Gegensatz zu einer kleinen Person, die vielleicht gerade mal 70 cm Innenbeinlänge hat. Der Kniewinkel sollte also theoretisch bei großen Menschen deutlich größer ausfallen und dann nicht mehr im kritischen Bereich liegen.

In einer kleinen Messreihe habe ich folgendes Experiment gemacht. Meine Probanden, die Schüler des Meister-Vorbereitungskurses in Frankfurt, wurden auf dem Velochecker (verstellbarer Messbock von PATRIA mit 170er-Kurbel) in der Sattelhöhe so eingestellt, wie es der landläufigen Meinung entsprach: Ferse auf unten stehendes Pedal, dabei das Bein durchgestreckt. Mit dieser Sattelhöhe wurde dann der Kniewinkel in der 11-Uhr-Position gemessen und selbst die »ganz Langen« konnten die 90° dabei kaum überschreiten, der kleinste Proband hatte dabei einen Kniewinkel von knapp 70°. Ursache war die Schuhgröße! Sobald mit angehobener Ferse gefahren wurde und das Bein seine effektive Länge ausnutzen konnte, war der Sattel immer viel zu tief, denn bei den sehr großen Teilnehmern musste man auch mit einer großen Schuhgröße rechnen. Die Gegenprobe haben wir auch gemacht: Fußballen auf unten stehendes Pedal, Ferse angehoben, Bein fast gestreckt. Fast alle Probanden konnten dabei in der 11-Uhr-Position die 90° überschreiten, nur der, der vorher bei 70° war, lag noch etwas drunter. Der wäre ein Kandidat für eine kürzere Kurbel.

Bild 9: Kniewinkelmessung nach unterschiedlichen Sattelhöhenregeln

Eine einfache Grundregel für die Kurbellänge lautet: Die Kurbellänge darf die Körpergröße in Millimetern nicht überschreiten. Für eine 170er-Kurbel sollte man also mindestens 1,70 m groß sein. Natürlich hängt die Kurbellänge dann noch von den Proportionen des Radfahrenden ab. Sind diese sehr verschoben (langer Oberkörper, kurze Gliedmaßen), gilt ungefähr ein Fünftel der Beinlänge oder ein Sechstel der Sitzhöhe als Maß für die Kurbellänge. Grundsätzlich ist es gesünder, eher kürzere Kurbeln zu fahren.

Warum fährt man dann nicht einfach mit der Ferse oder mit dem Mittelfuß, dann braucht man doch die hohe Sattelhöhe gar nicht, denn das Bein ist effektiv kürzer? Genau das ist die klassische Ausweichbewegung, die man überall beobachten kann, wo mit zu tiefen Sätteln gefahren wird. Im Leistungssport, wo Systempedale verwendet werden, ist es dann das Nach-unten-Durchdrücken der Ferse, weil die Fußposition sich ja nicht verändern lässt.

Beim Radfahren ist dem Körper sehr viel daran gelegen, die maximale Beinstreckung zu erreichen, auch wenn andere Strukturen darunter leiden könnten. Hier kommt ein wichtiger Arbeitswinkel ins Spiel: Die maximale Kraftentfaltung bei der Beinstreckung findet in den höheren Winkelbereichen statt, bis kurz vor der größten Streckung bei ca. 170°. Um das ausnutzen zu können, wird instinktiv eine Haltung eingenommen, die das ermöglicht. Ist der Sattel zu niedrig eingestellt, wird die Fußlänge eingespart (Mittelfußtreten, Fersentreten) oder der Sattel wird sehr weit hinten belastet oder weit nach hinten geschoben. Dadurch entsteht ein flacherer effektiver Sitzrohrwinkel und der Abstand zum Pedal verlängert sich. Die Nachteile, die durch den flachen Sitzrohrwinkel entstehen, werde ich später erläutern.

Wird mit Systempedal (Vorfuß ist durch Klicksystem auf dem Pedal fixiert) und zu tiefem Sattel gefahren, kann man beobachten, dass die Ferse sehr oft tief nach unten gedrückt wird, um die Beinstreckung zu erreichen. Dabei kommt es typischerweise zur Überlastung der Achillessehne.

Es gibt noch einen wichtigen Aspekt für das Treten mit dem Vorfuß/Fußballen, und der betrifft das Kniegelenk. Das Kniegelenk ist kein einfaches Scharnier, was auf- und zuklappt, sondern es hat schräge Gelenkflächen, sodass die schlichte Beugebewegung gleichzeitig eine Taumelbewegung des Knies erzeugt, wenn dieses angewinkelt und wieder gestreckt wird. Von vorne gesehen beschreibt die Knieschiebe dabei eine in der Senkrechten gestreckte Acht. Die anderen beiden Gelenkpunkte, die das Knie einrahmen, sind das Fußgelenk und das Hüftgelenk. Das Hüftgelenk hat genug Freiheit in seiner Beweglichkeit und stört die notwendige Bewegung des Kniegelenks nicht wesentlich. Anders ist das beim Fußgelenk (Sprunggelenk). Der Fuß wird ja durch das Pedal zu einer Bewegung »gezwungen«, die sich in einer festgelegten senkrechten Ebene abspielt. Wenn dabei der Vorfuß auf dem Pedal steht, kann das Sprunggelenk die notwendige Gegenbewegung für das Knie anbieten, denn das Sprunggelenk ist dann frei. Wenn mit dem Mittelfuß oder mit der Ferse getreten wird, ist das Sprunggelenk in seiner Bewegung stark eingeschränkt und kann dem Knie nicht den notwendigen Ausgleich der Taumelbewegung ermöglichen. Die Folge sind Knieschmerzen und möglicherweise Entzündungen der Bandstrukturen.

Runder Tritt oder paddeln?

Der Fuß sollte während des gesamten Trittvorgangs in einer möglichst ruhigen und weitgehend angehobenen Position bleiben, das spart Kräfte. Bei mir wird nicht »gepaddelt«. Paddelbewegungen sind starke Auf-und-ab-Bewegungen während eines Tretvorgangs. Sie entstehen, wenn der Körper immer versucht, an verschiedenen Stellen eine Beinstreckung zu erzeugen, wo ihn die Sattelhöheneinstellung dran hindert (z. B. Absenken der Ferse am tiefsten Punkt). Viele verwechseln Paddeln mit dem runden Tritt. Beim runden Tritt ist die Winkelgeschwindigkeit in jedem Bereich der Kurbelumdrehung möglichst gleich oder gleichmäßig.

Bei vielen Radfahrenden kann man eine starke, sich absenkende Fußbewegung beobachten, wenn das Pedal nach vorne unten bewegt werden soll (maximale Krafteinleitung von 11 Uhr bis 9 Uhr bzw. auf der anderen Seite von 13 bis 15 Uhr). Dieses Absenken entsteht durch mangelnde Muskelspannung (Kraft!) in Wade und Fußmuskulatur. Um die Antriebskräfte gelenkschonend zu übertragen, sollte Muskelspannung vorhanden sein. Fehlt diese, werden die knöchernen Strukturen so lange aufeinander zubewegt, bis der direkte Kontakt von Knochen zu Knochen die Kraft übertragen kann (hohes Verschleißrisiko). Dabei kommen die Gelenkflächen von Unterschenkel und Fußgelenk, also das obere Sprunggelenk, in fast ungeschütztem Kontakt zu nah aufeinander.

Das typische und ergonomisch nicht sinnvolle Absenken der Ferse zwischen 11- und 9-Uhr-Position stoppt die Pedalbewegung oder verlangsamt sie deutlich, weil ja erst mal die Bewegung der Ferse erfolgt. Danach dauert es, bis der Fuß die Position wieder eingeholt hat und weiter tritt. Übertriebene Fußbewegungen wurden in den 1990er Jahren gerne propagiert (Fußposition immer im richtigen Winkel zur Kraftrichtung). Bei Systempedalen ist eine angehobene Ferse von Vorteil, weil der Übergang von der »Nach-unten-Drück-Bewegung« zur »Nach-oben-Zug-Bewegung« keine Veränderung der Fußstellung mit sich bringt und übergangslos ohne Verzögerung funktioniert. Die einfachste und sicherste Methode, die Fußfehler zu verhindern, ist eine hohe Trittfrequenz. Bei Frequenzen zwischen 80 und 100 Umdrehungen pro Minute kann man sich keine unnötigen Bewegungen erlauben.

Ein Beispiel zum Verständnis der Fußstellung: Wenn man eine lange Treppe (z. B. die Kapitol-Treppe) in einem zügigen Tempo, mit einer dem Radfahren ähnlichen Frequenz hochlaufen müsste, würde man den Fuß immer in der angehobenen Position behalten, weil ein ständiges Absenken der Ferse unnötig viel Kraft kosten würde.

Logischerweise müsste jetzt noch die Betrachtung des Knielots und des Sitzrohrwinkels anschließen. Diese beiden Punkte haben aber mehr mit der Schwerpunktlage des Oberkörpers zu tun als mit dem Antrieb (wobei die Schwerpunktlage selbstverständlich einen wichtigen Aspekt des Antriebs darstellt). Deshalb werde ich diese Punkte im nächsten Block behandeln.

Zur Autorin

Juliane Neuß, von Beruf Technische Assistentin für Metallographie und Werkstoffkunde. Ihre Berufung: Fahrradergonomie und Fahrräder für kleinwüchsige Menschen. Betreibt seit 1998 die Firma Junik-Spezialfahrräder, hat sechs Jahre lang die Filiale eines Fahrradladens in Hamburg geleitet und viele Jahre den Techtalk in der ADFC-Radwelt geschrieben. Sie ist seit 2016 Inhaberin der »Fahrradschmiede 2.0« in Clausthal-Zellerfeld, ihrem Heimatort, und hat dort auch eine Brompton-Spezialwerkstatt.