Fahrradzukunft

Ausgabe 41 · Juli 2025

Tobis Fahrradgeschichten

Raus aus der Tretmühle

von Tobias Kröll

»Tretmühle« war in meiner Jugendzeit das Synonym für ein einfaches altes Fahrrad, mit dem man zuverlässig von A nach B fahren konnte. Nachdem ich später einige Zeit in Amsterdam verbracht hatte, gute Hollandräder und Transportfahrräder lieben gelernt hatte, fand ich es daher nur logisch, als Existenzgründer im Jahr 2012 meinen kleinen Laden im Französischen Viertel in Tübingen »Tretmühle« zu nennen. Bei der Namenswahl habe ich nicht daran gedacht, dass Tretmühle von vielen Menschen mit Hamsterrad gleichgesetzt wird. Immerhin etwas tröstlich fand ich den Hinweis im Wikipedia-Artikel, dass im Mittelalter »Windenknechte« auf Baustellen hochbezahlte Arbeitskräfte waren. Nicht so in meiner Tretmühle … Ich war nach einem befristeten Forschungsprojekt (über Solidarität in der Arbeitswelt) arbeitslos, bezog Hartz IV und hatte kein Eigenkapital.

Bild 1: Tretkran mit Windenknechten – Ausschnitt aus dem Gemälde »Großer Turmbau zu Babel« von Pieter Bruegel im Kunsthistorischen Museum Wien

Die Bewegung in einem Hamsterrad hat keinen tieferen Sinn. Immerhin hatte ich in meiner Tretmühle das Gefühl, vor Ort einen kleinen Beitrag »zum großen Ganzen« zu leisten, da ich Menschen unterstützen konnte, die im Alltag kein Auto benutzten.

Spannend waren die Reaktionen vieler Mitmenschen, als ich meinen kleinen Laden 2012 eröffnet hatte. Ein Gewerkschafter sagte bei der Maikundgebung auf dem Tübinger Marktplatz allen Ernstes zu mir, er sei sich nun unsicher, ob er mir das Flugblatt überhaupt noch geben könne. Ein sich »links« gebender Bekannter sagte, ich hätte ja jetzt die Seiten gewechselt.

Ganz viele Menschen meinten, ich würde ab sofort im Geld schwimmen. Nichts dergleichen. Die hohe Entlohnung gab es nur in der naiven Vorstellung vieler Mitmenschen.

Ich wollte ja nicht massenhaft Fahrräder über das Internet verscherbeln und dafür billige Arbeitskräfte einstellen, um den von ihnen erbrachten Mehrwert abzuschöpfen. Ich wollte einfach eine gute Werkstatt anbieten und Lastenräder auch in Deutschland populärer machen. Im Rückblick war ich einer der Pioniere in Süddeutschland.

Dass ich als Einzelunternehmer vom Finanzamt nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Unternehmen betrachtet werde (in dem aber schon alle Beschäftigten ihren Lebensunterhalt haben, bevor die Steuern und Abgaben berechnet werden), war mir nicht klar. »Angeschmiert im Angestelltenland« beschrieb Sascha Lobo einst in SPIEGEL-Online die Situation von Solo-Selbstständigen ...

Was soll’s? Seit vier Jahren bin ich buchstäblich »raus aus der Tretmühle«.

Die Metapher »raus aus der Tretmühle« ist aber auch ein möglicher Wegweiser in den heutigen Zeiten. Wir sollten alle raus aus der Tretmühle eingefahrener Gedanken und mancher Feindbilder. Ansonsten droht die Wiederholung geschichtlicher Katastrophen, wie der Soziologe und Philosoph Oskar Negt schon lange eindringlich gewarnt hatte. Spätestens seit der Corona-Zeit und den bei uns sichtbarer werdenden neuen Kriegen haben sich Feindbilder und Polarisierungen verstärkt. Auch ich muss mich immer wieder aufrütteln, offen zu bleiben für das Gespräch mit Andersdenkenden und ‑fühlenden.

Wer im Hamsterrad steckt, hat jedoch kaum eine Gelegenheit, einmal innezuhalten, Mitgefühl bleibt immer mehr auf der Strecke. Die Eigendynamik eines Schwungrades lässt uns kaum Chancen. In meiner Tretmühle schaffte ich es immerhin, ab und zu mittags mit guten Freunden vor dem Laden einen Kaffee mit süßen Stückchen zu genießen. Ironischerweise kam ein UPS-Fahrer in einem Monat genau an den einzigen drei Tagen vorbei, als ich in der Sonne mit Freunden und Kaffee und Kuchen vor dem Laden saß. Den Neid konnte er nicht verhehlen. Er wolle auch so einen Job haben, meinte er ... Doch ein erster Eindruck kann ziemlich täuschen. Von meinem eigenen Einkommen hätte ich mir kein einziges Fahrrad kaufen können, das ich im Laden stehen hatte. Im Februar 2021 habe ich meinen kleinen Fahrradladen aufgegeben, meine »Tretmühle«.

Bild 2: Tretmühle: »Im Ende – der Anfang« (nach einem Buchtitel von Jürgen Moltmann)

Als ich kurz vor dem Burnout war, telefonierte ich privat mit einem Bekannten, der Psychiater ist. Er bekam fast einen Lachkrampf, als er zu meinem ausgebrannten Zustand den Namen meines Ladens hörte ...

Doch wie kommt man raus aus dem Hamsterrad? Ich mag keine einfachen Weisheiten von mir geben. Wer unter Druck steht und dazu gar noch Existenzängste hat, empfindet einfache »Weisheiten« einfach als oberflächliches Gelaber. Und doch ist etwas dran an einfachen Weisheiten. »Von der Eile, die krank macht, und der Zeit, die heilt« heißt ein Buch der Sozialpsychologin Christine Morgenroth. Der Titel deutet meines Erachtens die empfehlenswerte Richtung an. Ich selbst vermeide inzwischen allzu viele Social-Media-Inputs und treffe mich lieber persönlich mit Menschen, nehme meine Gitarre mit an einen See und bin auch gern allein in der Natur. Es muss nicht immer geredet werden. Immer öfter lasse ich sogar das Fahrrad stehen und gehe zu Fuß. Statt ständig mit dem Smartphone zu fotografieren, genieße ich inzwischen gern einfach im Augenblick den »Live-Anblick« der Natur und spüre dazu die Atemzüge, höre bewusst auf das Vogelgezwitscher. Denn wie der »heimliche Held des Pariser Klimaabkommens«, Thich Nhat Hanh, einst sagte: Das lebendige Leben kann ich nur im Augenblick er-leben. Wenn ich den Augenblick nicht bewusst erlebe, verpasse ich mein Leben.

Zum Autor

Tobias Kröll, Jahrgang 1967, Wangen/Allgäu, Diplom-Pädagoge, Sozialwissenschaftler und gelernter Fahrradmechaniker. Fellow des Berliner Instituts für kritische Theorie (InkriT). Mitte 2025 erscheint sein Buch »Bis jetzt hat es doch funktioniert! Tobias Fahrrad-Geschichten« bei Books on Demand (BoD).