Ausgabe 10 · Februar 2010

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Radfahren? »Aber du bist doch schwanger!«

Schwanger radeln aus ärztlicher Sicht

von Stefan Buballa

Radfahren ist für viele Frauen etwas ganz Selbstverständliches, als Transportmittel oder als Freizeitsport ist es fester Bestandteil des Alltags. In der Schwangerschaft allerdings, so habe ich es in meiner eigenen klinischen Tätigkeit erfahren, ist dann auf einmal nichts mehr »selbstverständlich«. Schon gar nicht mehr die flotten 25 Minuten per Rad zur Arbeit. Frauen sehen sich in der Schwangerschaft plötzlich einem gehörigen Druck ausgesetzt, alle ihre Alltagsaktivitäten auf Kompatibilität mit dem (imaginierten) Wohlbefinden des Ungeborenen abzuklopfen zu müssen. Der angehende Nachwuchs wird dabei häufig als extrem fragil wahrgenommen. Wie immer man zu dieser verbreiteten Sichtweise steht, Fragen wie: »Was geht? Was geht nicht? Was ist noch normal?« schießen vielen Schwangeren natürlich nicht nur beim Thema »Radfahren in der Schwangerschaft« beständig durch den Kopf.

Dieser Artikel versucht daher, Vor- und Nachteile des Radfahrens »mit Passagier« aus medizinisch-naturwissenschaftlicher Sicht zu erläutern.

Inhaltlich stütze ich mich u. a. auf die Empfehlungen der gynäkologisch/geburtshilflichen Fachgesellschaften der USA, Großbritanniens und Kanadas, die sehr detaillierte Leitlinien zum Thema »Körperliche Aktivität in der Schwangerschaft« herausgegeben haben. Bei den schweizer, östereichischen bzw. deutschen Fachgesellschaften bin ich leider nicht fündig geworden, habe jedoch auch einige deutschsprachige Artikel zum Thema ausgewertet. Aber angesichts der gigantischen Entschädigungssummen im Falle von Fehlbehandlungen in Nordamerika werden die jeweiligen Empfehlungen sicher nicht unvorsichtiger als die in der Schweiz, Österreich oder in Deutschland sein.

Zusätzlich habe ich eine Recherche in der medizinischen Online-Datenbank »Medline« durchgeführt, um ganz aktuelle Forschungsarbeiten zu Einzelaspekten des Themas zu finden. Die hier zusammengetragenen Informationen beziehen sich jeweils auf eine normale Schwangerschaft ohne besondere Riskofaktoren. Vieles gilt dabei für Ausdauersportarten im Allgemeinen und nicht nur fürs Radfahren.

Von: Tina Maas

Natürliche Veränderungen in der Schwangerschaft

Kreislauf/Herz/Flüssigkeit

Im Verlaufe der Schwangerschaft erfährt der mütterliche Organismus eine Reihe von Veränderungen. In Bezug auf körperliche Aktivitäten sind hierbei insbesondere herz – und kreislaufbezogene Umstellungen interessant.

So nimmt das Blutvolumen bei Schwangeren um fast die Hälfte (40 %) zu. Dies geschieht hauptsächlich über die vermehrte Einlagerung von Wasser, da hormonell bedingt in der Schwangerschaft u. a. die Muskulatur der Blutgefäße erschlafft. Es ist also »mehr Platz« da, den der Körper mit Blut »füllen« muss, um einen adäquaten Blutdruck aufrecht zu erhalten. Dies trägt (zusammen mit dem erhöhten Eisenbedarf) zu einer relativen Schwangerschaftsblutarmut bei, die bei einigen Frauen festgestellt werden kann. Sinnvollerweise erhöht sich dabei die Durchblutung der Gebärmutter, aber auch die von Haut und Nieren. Dementsprechend hat das Herz mehr zu tun und muss sein Minutenvolumen beträchtlich steigern. All das führt dazu, dass eine schwangere Frau »von Natur aus« schneller außer Puste ist.

Durch die erschlaffte Gefäßmuskulatur kommt es zusammen mit dem durch die größer werdende Gebärmutter behinderten Blutrückfluss in der Schwangerschaft vermehrt zu »Krampfadern«. Dies trägt wiederum zusammen mit der hormonell bedingten erhöhten Gerinnungsfähigkeit des Blutes zu einem höheren Risiko für Thrombosen in den Beinvenen bei.

Skelettsystem

In Verbindung mit der Wassereinlagerung wird in der Schwangerschaft auch der Bandapparat, der die Gelenke stützt (und schützt) lockerer. Theoretisch birgt dies ein leicht erhöhtes Risiko für Gelenkverstauchungen. Relevant ist dies aber vermutlich nur bei Kontaktsportarten, die in der Schwangerschaft eher ungünstig sind, und beim Joggen. Für das Radfahren in der Schwangerschaft ist dies kaum von Bedeutung. Auf Grund der Schwerpunktverlagerung v.a. im letzten Schwangerschaftsdrittel kommt es zu unbewussten Ausgleichsvorgängen im Bereich der Wirbelsäule, die zu den häufig beobachteten Rückenschmerzen in der Schwangerschaft beitragen können. Die Wassereinlagerung kann gegen Ende der Schwangerschaft in seltenen Fällen zu einer schmerzhaften Schwellung der Sehnen im Handgelenkbereich führen (»Karpaltunnelsyndrom«), die dann neben anderen Aktivitäten auch das Radfahren beeinträchtigt.

Auswirkungen von körperlicher Aktivität auf die Schwangerschaft

Was spielt sich bei moderater, körperlicher Aktivität im Organismus ab?

Die Durchblutung der Muskulatur erhöht sich natürlich. Dieses Blutvolumen leitet der Körper aus anderen Regionen um, die dann dementsprechend weniger stark durchblutet werden. Typischerweise ist das der Bereich der inneren Organe, wie z.B, Magen, Darm oder eben auch die Gebärmutter.

»… There can be no doubt that bicycling … during pregnancy will in many women involve a special liability to the occurence of miscarriage and or of premature labor. …«
(Aus der auch heute noch sehr renommierten Zeitschrift Lancet, May 16, 1896. Frei übersetzt: Es besteht kein Zweifel, dass Rad fahren … während der Schwangerschaft bei vielen Frauen die Wahrscheinlichkeit von Fehlgeburten und Frühgeburten erhöht …)

Daher befürchtete man früher, der Fötus könnte durch Sport einem Sauerstoffmangel ausgesetzt werden. Man neigte deshalb dazu, schwangeren Frauen von stärkerer körperlicher Aktivität abzuraten. Begründet wurde dies mit einem vermeintlich höheren Risiko von Fehlgeburten oder von Frühgeburtlichkeit (Entbindung vor der abgeschlossenen 37. Schwangerschaftswoche). Diese Empfehlungen stützten sich oft auf Analogieschlüsse aus tierexperimentellen Resultaten. Dabei wurden jedoch z. B. trächtige Ratten regelmässig bis zur völligen Erschöpfung belastet, was mit körperlichen Aktivitäten von Schwangeren nicht vergleichbar ist. Einige Beispiele zu diesen Studien finden sich in einem älteren Übersichts-Artikel der »Physiological Reviews« [Lotgeriing et al. 1985].

Heutzutage kann man feststellen, dass moderate körperliche Aktivität (2–4 Mal/Woche) keine erhöhte Frühgeburtlichkeit zu Folge hat. In Bezug auf die Blutumverteilung haben z. B. Forscher von der Uniklinik im Saarland schwangere Frauen auf einem Fahrradergometer untersucht. Die Durchblutungsverhältnisse beim Kind, die ein Indikator für akute Minderversorgung mit Sauerstoff sind, änderten sich nach der Belastung nicht [Ertan et al. 2004]. Eine dänische Studie von 2008, die gesunde Frauen in Bezug auf ihre körperliche Aktivität in der Schwangerschaft vergleicht, kommt sogar zu dem Ergebnis, dass moderate bis stärkere körperliche Aktivität im 2. Schwangerschaftsdrittel sogar mit niedrigeren Frühgeburtsraten assoziiert ist [Hegaard et al. 2008]. In einigen kleineren Studien wurde auch der Einfluss von Leistungssport auf die Schwangerschaft untersucht – hier waren die Ergebnisse widersprüchlich, sowohl in Bezug auf die Frühgeburtlichkeit als auch in Bezug auf das Wohlbefinden des Neugeborenen. Zumindest kurzfristige Maximalbelastung auf dem Fahrrad scheint sich jedoch nicht negativ auszuwirken [van Doorn et al. 1992].

Radfahren in gemäßigter Liegeradposition (Lehnenneigung 45°)ist dabei einer niederländischen Studie zu Folge gegenüber der aufrechten Sitzposition ohne Nachteile für das Ungeborene [O’ Neill et al. 2006].

Insgesamt wird daher von den einschlägigen medizinischen Fachgesellschaften eine moderate körperliche Aktivität in der Schwangerschaft empfohlen, und zwar auch für diejenigen, die sich vor der Schwangerschaft bisher kaum bewegt haben.

Von: Mikael Colville-Andersen

Die Vorteile im Einzelnen

  • In der Schwangerschaft besteht ein erhöhtes Risiko, eine bestimmte Form der Zuckerkrankheit (»Gestationsdiabetes«) zu entwickeln. Regelmäßiges Radfahren kann dem nicht nur vorbeugen helfen, sondern auch bei bestehendem Schwangerschaftdiabetes den erhöhten Blutzuckerspiegel senken.

  • Radfahren schützt auch in der Schwangerschaft vor der Bildung von Krampfadern.

  • Die Schwangerschaft bringt für viele Frauen körperliche Beschwerden wie Rückenschmerzen und Verstopfung mit sich. Auch hier wirkt sich regelmäßige Aktivität günstig aus. Radfahren ist dabei besonders gelenkschonend.

  • Nicht zuletzt kann Radfahren (und andere sportliche Aktivitäten) auch dazu beitragen, dass depressive Verstimmungen, die für einige Frauen in der Schwangerschaft ein Problem darstellen, gemildert werden.

Apropos, was heißt »moderate Aktivität«? Als Faustregel gilt hier: Die Schwangere sollte sich während des Radfahrens noch unterhalten können, dann stimmt es. Wenn es »schweißtreibend« wird, ist aufgrund des generell erhöhten Thromboserisikos (siehe oben) ausreichende Flüssigkeitszufuhr wichtig.

Risiken?

In der Schwangerschaft verändert sich der Körperschwerpunkt. Gerade in den letzten Monaten kann es daher etwas schwerer sein, dass Gleichgewicht zu halten. Daher empfehlen einige Autoren, das Sturzrisiko beim Radfahren im Auge zu behalten. Und natürlich sollte man im Falle eines Unfalls mit direktem Aufprall auf den Bauch einen Gynäkologen aufsuchen. Allerdings ist Radfahren trotz gegenteiliger Gerüchte als Aktivität nicht gefährlicher als viele andere Arten der Fortbewegung (z. B. Auto fahren, zu Fuß gehen) und zählt daher generell zu den empfohlenen Sportarten. Sich in der Schwangerschaft aus Angst vor Unfällen (oder den vermeintlich negativen Folgen von Erschütterungen) vom Radfahren abhalten zu lassen, scheint daher unbegründet.

Diese Einführung dient lediglich der Erläuterung des medizinischen Hintergrunds und ersetzt natürlich nicht ein Gespräch mit dem jeweiligen Frauenarzt, der eventuelle individuelle Risikofaktoren in seine Beratung mit einbeziehen kann.

Zum Autor

Stefan Buballa, Arzt, Alltags- und Reiseradler, Selbstbau eines Reiserades und eines Alltags-Kurzliegers. Er ist fasziniert von der Schlichtheit und ökologischen Effizienz muskelkraftbetriebener Fahrzeuge. Besondere Interessen: Ergonomische und leistungsphysiologische Aspekte. Besondere Schwächen: Radreisen in Afrika und Nahost …

Literatur

Ertan et al. 2004
A. K. Ertan et al.: Doppler examinations of fetal and uteroplacental blood flow in AGA and IUGR fetuses before and after maternal physical exercise with the bicycle ergometer. In: Journal of Perinatal Medicine, Bd. 32, 2004. S. 260–265
Hegaard et al. 2008
H. K. Hegaard, M. Hedegaard, P. Damm et al.: Leisure time physical activity is associated with a reduced risk of preterm delivery. In: American Journal of Obstetrics & Gynecology, Bd. 198, 2008. 180.e1–180.e5
Lotgeriing et al. 1985
Frederik K. Lotgeriing et al.: Maternal and Fetal Responses to Exercise during Pregnancy. In: Physiological Reviews, Bd. 65, 1985, Nr. 1
O’ Neill et al. 2006
M. E. O’Neill et al.: Postural effects when cycling in late pregnancy. In: Woman Birth, Bd. 19, 2006. S. 107–111
van Doorn et al. 1992
M. B. van Doorn, F. K. Lotgering, P. C. Struijk: Maternal and fetal cardiovascular responses to strenuous bicycle exercise. In: American Journal of Obstetrics & Gynecology, Bd. 166, 1992. S. 854–859

Weitere verwendete Literatur

  • Position der Kanadischen Fachgesellschaft: Joint SOGC/CSEP Clinical Practice Guideline: No. 129, June 2003, Exercise in Pregnancy and the Postpartum Period
  • Position der Britischen Fachgesellschaft: Statement No. 4, January 2006, Exercise in pregnancy
  • Position der US-amerikanischen Fachgesellschaft
  • Rundum Schwangerschaft und Geburt, Juni 2006, Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), 51101 Köln
  • Schwangerschaft und Sport, Korsten-Reck U, Marquardt K, Wurster KG, Jahrgang 60, Nr. 5 (2009) Deutsche Zeitschrift für Sportmedizin
  • Pro Velo 28, 1992, Schwerpunkt: Frauen fahren Fahrrad
  • Martin Roos, Radfahren und Schwangerschaft, Trekkingbike 2/04
  • Myra VanInwegen’s: Cycling in Pregnancy