Ausgabe 5 · April 2008
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Überholverhalten von Kraftfahrzeugen
Eine Feldstudie in Berlin
In der 2. Ausgabe berichtete Dr. Horst Basler von seinen Beobachtungen bezüglich des Überholverhaltens von Kraftfahrzeugen gegenüber Radfahrern. Dabei spielte insbesondere das Vorliegen eines »Radweges« eine besondere Rolle in seinen Beobachtungen. Unter »Radweg« verstand er dabei eine bauliche Maßnahme im Straßenbild, die auf einen Radweg schließen ließ, aber durch fehlende Beschilderung von Radfahrern nicht benutzt werden muss. Sie dürfen dort auch auf der Fahrbahn verbleiben. Er konnte in seinen Untersuchungen aufzeigen, dass Kfz-Fahrer erzieherisches Verhalten an den Tag legten, mit welchem sie den Radfahrer aus ihrem »Territorium« auf seinen ihm zugedachten Platz verweisen wollten.
In der letzten Ausgabe wurde von Ian Walkers Studien zum Überholverhalten von Kraftfahrzeugen gegenüber Radfahrern berichtet. Ian Walker untersuchte dieses mit Hilfe eines Messfahrrads. Ein Fahrrad wurde mit einem Ultraschallsensor, einer Videokamera und einem Laptop ausgerüstet, um Messungen des zentimetergenauen Abstands der Kraftfahrzeuge von den Radfahrern bei den Überholvorgängen aufzeichnen zu können. Über die Variation der Parameter Geschlecht, Tragen eines Helmes und Abstand des Radfahrers vom Fahrbahnrand, wurde untersucht welche möglichen Faktoren einen Einfluss auf das Überholverhalten der Kfz-Fahrer haben. Durch Analyse der aufgezeichneten Videos wurden zusätzlich die Parameter Fahrzeugtyp und Fahrzeugfarbe untersucht. Seine Ergebnisse legen eine unterbewusste Bewertung des Radfahrers durch den Kfz-Fahrer bezüglich des Fahrkönnens und Sicherheitsbedürfnisses des Radfahrers nahe. Helmträger wirken weniger verletzlich, somit wird ihnen weniger Abstand beim Überholen gelassen. Ähnlich verhält es sich beim Geschlecht. Frauen wird weniger Fahrkönnen zugetraut und sie werden als verletzlicher eingeschätzt, somit wird ihnen während des Überholvorgangs mehr Platz gelassen.
In einer an der Technischen Universität Berlin durchgeführten Feldstudie wurden diese beiden Untersuchungen kombiniert. Ein Team von sieben Studenten unterschiedlicher Studienrichtungen, errichtete mit Betreuung seitens des Lehrstuhls für Mensch-Maschine Systeme ein Messfahrrad, das denselben Anforderungen wie das von Ian Walker errichtete gerecht werden sollte. Anschließend wurden Testfahrten durchgeführt, bei denen die untersuchten Parameter das Vorliegen eines Radweges ohne Beschilderung, das heißt ohne Radwegbenutzungspflicht, das Geschlecht des Radfahrers sowie das Tragen eines Helmes waren.
Das Messfahrrad
Das von den Berliner Studenten errichtete Messfahrrad verfügte über Spezifikationen, die mit denen Ian Walkers vergleichbar waren. Es wurde ein Damen-Cityrad mit stabilen Fahrradtaschen versehen in denen der Laptop zur Datenaufzeichnung, sowie eine Brennstoffzelle zur Energieversorgung verstaut wurden. Eine Kamera für Videoaufnahmen der Überholmanöver wurde unterhalb des Sattels angebracht. Hinter den links und rechts am Gepäckträger befestigten Taschen wurde ein Ultraschallsensor angebracht. Dieser diente zur Bestimmung des Überholabstands während der Testfahrten.
Die Testfahrten
Die Testfahrten wurden auf einer vorher fest definierten Teststrecke gefahren. Es handelte sich dabei um Strecken mit Geschwindigkeitsbeschränkung auf 50 km/h. Die Straßen waren allesamt einspurig je Fahrtrichtung. Auf der Hälfte der Strecke lag ein »Radweg« (siehe Einleitung) vor. Der Verlauf der Teststrecke in Berlin ist auf dem folgenden Bild dargestellt.
Sie wurde je Testfahrt wiederholt in beide Richtungen befahren. Dabei wurde darauf geachtet, dass die Testfahrer ähnlich gekleidet waren und einen ähnlichen Fahrstil, beispielsweise Geschwindigkeit und Fahrverhalten betreffend. Insgesamt fuhren während der Testfahrten zwei männliche und ein weiblicher Testfahrer.
Ergebnisse
Zur Auswertung wurden nur Überholereignisse verwendet die nicht Verfälschungen wie, Überholmanöver des Radfahrers oder das Überqueren von Kreuzungsbereichen unterlagen. Daraus resultierend ergaben sich bei 19 Testfahrten mit einer Gesamtdauer von rund sieben Stunden 702 Überholereignisse die gleichmäßig auf die untersuchten Parameter verteilt.
Die Analyse der gewonnen Daten bestätigte weitestgehend die Ergebnisse der Untersuchungen Ian Walkers. Die Ergebnisse sind der folgenden Abbildung zu entnehmen. Dabei sind die angegebenen Werte, die Überholabstände der Kraftfahrzeuge bezogen auf das äußerste Ende des Lenkers in mm.
Es zeigt sich, wie schon bei Ian Walker, dass Frauen mehr Platz beim Überholen gelassen wird als Männern. Dabei treten unter den männlichen Testfahrern jedoch auch erhebliche Unterschiede auf. Es scheint, dass Henrik in seinem Erscheinungsbild, beziehungsweise in seiner Fahrweise Unterschiede zu Boris aufwies.
Trägt der Radfahrer einen Helm, so wird ihm weniger Platz gelassen. Jedoch sind hier die Unterschiede gering. Dies resultiert daraus, dass bei Henrik ein nicht den Erwartungen entsprechender Effekt auftrat. Trug er während seiner Testfahrten einen Helm, so wurde ihm mehr Platz beim Überholen gelassen. Bei den anderen beiden Fahrern trat der prognostizierte Effekt der Verringerung des Überholabstands deutlich auf.
Bei Vorliegen eines »Radweges«, verringert sich der Überholabstand. Es scheint, dass die Autofahrer die Radfahrer auf diesen Strecken erziehen wollen. Immer wieder wurden die Testfahrer durch Hupen, Winken oder extremes Rechtsfahren auf ihren »Fehler« bezüglich der Fahrbahnwahl aufmerksam gemacht. Leider scheiterten Versuche, die entsprechenden Fahrer bezüglich ihres Verhaltens zu befragen.
Statistische Analyse
Die Versuchsdaten wurden anschließend zwei Varianzanalysen unterzogen. Eine in der die Fahrer nach ihrem Geschlecht unterschieden wurden und eine bei der die Unterscheidung über die einzelnen Fahrer erfolgte.
Bei der Unterscheidung nach Geschlecht ergaben sich zwei statistische Haupteffekte. Sowohl das Geschlecht als auch das Vorliegen eines »Radweges« wirken sich direkt auf den Überholabstand aus. Alle anderen Effekte sowie die Interaktionseffekte erwiesen sich als statistisch nicht signifikant.
Bei der Unterscheidung in die einzelnen Fahrer traten die vergleichbaren Haupteffekte als statistisch signifikant hervor. Sowohl die Fahrer als auch das Vorliegen des »Radweges« haben einen direkten Einfluss auf das Überholverhalten. Zusätzlich zu den Haupteffekten waren bei der fahrerspezifischen Auswertung noch zwei Interaktionseffekte statistisch signifikant. Die Interaktionen der Fahrer und des Vorliegen eines Radweges interagierten signifikant mit dem Tragen eines Helmes.
Zusammenfassung
Durch die experimentelle Untersuchung des Überholverhaltens von Autofahrern gegenüber Radfahrern konnte festgestellt werden, dass verschiedene Fahrer an verschiedenen Orten unterschiedlich viel Platz beim Überholen gelassen wird. Dabei erscheint der Mittelwert der einzelnen Ausprägungen akzeptabel, jedoch lagen die Abstände des häufigen unter 80 cm.
Ausgehend vom Erklärungsmodell Ian Walkers lässt sich festhalten, dass Frauen entweder weniger Fahrvermögen von den Autofahrern zugetraut wird oder ihr Sicherheitsbedürfnis größer ist. Somit wird ihnen mehr Platz gelassen. Das Tragen des Fahrradhelmes scheint sich auch auf diese Ebenen auszuwirken. Trägt ein Radfahrer einen Fahrradhelm, so wirkt er weniger verletzlich und braucht weniger Sicherheitsabstand. Die Ausnahme bei Henrik scheint sich auf einer anderen Ebene auszuwirken. Durch das Tragen eines Helmes scheinen die Autofahrer ihm weniger Fahrkönnen zuzutrauen. Somit lassen sie ihm mehr Platz, auch wenn er an sich weniger verletzlich zu wirken scheint.
Das Vorliegen eines »Radweges« wirkt sich jedoch auf einer vollständig neuen Ebene aus. Die Autofahrer scheinen den Radfahrer nicht in ihrem Reich zu akzeptieren. Daher machen sie ihm dies durch weniger Überholabstand deutlich. Manchen reicht dieses Mittel jedoch nicht und sie werden deutlicher. Die Aufklärung der Autofahrer über ihr Fehldenken ist absolut wünschenswert.
Insgesamt konnte aufgezeigt werden, dass der Überholvorgang von Fahrzeugen gegenüber Radfahrer ein von vielen Effekten beeinflusster Vorgang ist. Viele verschiedene Einzelfaktoren wirken sich auf eine Abschätzung der Radfahrer durch die Autofahrer aus. Statt wie in der Fahrschule gelernt ein standardisiertes Verhalten abzurufen, passen sie ihr Überholverhalten an die verschiedenen Fahrer an. Um Radfahrer sinnvoll im Straßenverkehr zu schützen, gilt es dieses Phänomen in Zukunft genauer aufzuschlüsseln.
Zum Autor
Henrik Imhof, Student des Wirtschaftsingenieurwesens, nahm am Projekt Psych-Bike als studentischer Projektleiter und Testfahrer teil. Dieses Projekt wurde im Frühjahr 2007 von Studenten der TU Berlin unter Betreuung von Boris Gauss am Institut für Mensch-Maschine-Systeme durchgeführt.