Ausgabe 37 · Januar 2024
Selbstverwaltete Fahrradläden im Ruhrgebiet – das Beispiel »Balance«
Interview mit Michael Schulz
Wie bist du überhaupt zum Fahrrad gekommen? Hattest du eine fahrradspezifische Ausbildung oder warst du Autodidakt? Wie ist es bei den anderen Leuten im Betrieb?
Sowohl die Gründerväter 1983 als auch alle nachfolgenden Geschäftsführer/Gesellschafter waren Autodidakten – geeint durch den Spaß am Radfahren und den Wunsch, selbstständig, aber nicht selbst- und fremdausbeuterisch zu arbeiten.
Ich persönlich habe ein Diplom in Sozialwissenschaften, habe u. a. in Theorie und Praxis der selbstverwalteten Betriebe geforscht … sic! Meine Frau Ulrike ist Theologin. Wir hatten/haben Volkswirte, Philosophen, Pädagogen, Elektriker, Lkw-Mechaniker u. v. a. Während der Selbstständigkeit wurden Meisterausbildung und Ausbildungsqualifikation für Werkstatt und Verkauf von einigen Kollegen erworben. Einige brachten technische Vorkenntnisse aus »Berufsvorleben« mit, andere nur den Enthusiasmus.
Wieso einen Laden in Selbstverwaltung aufziehen, statt z. B. in einem »normalen« Laden zu jobben?
Einen Laden in Selbstverwaltung aufzumachen hatte mehrere Gründe:
- Die Arbeit und Verantwortung auf mehrere Schultern aufzuteilen bedeutet eine deutlich geringere mentale und finanzielle Belastung. Ein Leben neben der Arbeit sollte noch möglich sein. Wir wollten nie der klassische Einzelunternehmer sein, der mit Eigenheim, dickem Auto und Herzinfarkt mit 60 abdankt.
- Normale Fahrradläden wurden damals noch von piefigen Graukitteln geführt. Dort zu jobben war unvorstellbar.
- Es gab auch früher schon Ideen von anderen Fahrradtypen, die nur durch Selbstgründung anbietbar wurden. Bessere Rennräder, haltbare Stadträder, Spezialräder ...
- Zusammenarbeit auf Augenhöhe kann einfach auch Spaß machen ...
- Möglichst flache Besitz- und Einkommensstrukturen waren auch ein politisches Ziel (der Laden hieß nicht ohne Grund anfangs »Radial«).
Die ersten Jahre war »Balance« noch ein reinrassiger selbstverwalteter Betrieb. Ausschließlich mitarbeitende Gesellschafter/Geschäftsführer und keine Angestellten. Von zu Beginn vier wuchs das ganze Projekt auf zeitweise 13 Eigentümer, schrumpfte dann zwischenzeitlich wieder auf sieben. Das Ganze funktionierte »rollierend«. Wenn jemand ausschied, aus welchen Gründen auch immer, füllten wir uns je nach Marktsituation und Bedarf wieder mit Eigentümern auf.
Wieso gab es später Angestellte und nicht einfach mehr neue Teilhaber:innen?
Um die Jahrtausendwende (der Laden und die Nachfrage der Kunden war nach Umzug in die Fußgängerzone von Bochum stark gestiegen) fanden sich plötzlich keine Volleinsteiger mehr. Keiner wollte mehr das Risiko eingehen und es wurde schnell Verstärkung gebraucht. Auch hat die Zusammenarbeit mit 13 Teilhabern emotional nicht immer gut funktioniert. Konfliktpunkte waren u. a. Modernisierungsprojekte, z. B. die Einführung eines Warenwirtschaftssystems, neue Unternehmensziele, Expansion und auch generelle Sinnfragen. Dies führte in dieser Zeit auch zur Abspaltung und Gründung zweier anderer »konventioneller« Läden. Die Angestellten waren meistens Studenten, die die Selbstständigkeit gar nicht suchten, aber gern im Projekt mitarbeiten wollten. Danach durften wir das erste Mal ausbilden. So gibt’s im Moment zum 40-jährigen Bestehen sechs Häuptlinge, drei Azubis und 15 angestellte Menschen in Teil- oder Vollzeit.
Wir sind übrigens 1992 aus Protest aus dem VSF (Verbund selbstverwalteter Fahrradbetriebe) ausgetreten, da auch Betriebe mit Angestellten aufgenommen wurden – »wir waren die Fundis«! Mittlerweile sind wir wieder VSF-Mitglied.
Wie wichtig ist euch der ausschließliche Besitz des Ladens in der Hand der Belegschaft? Hattet ihr genug Eigenkapital? Wie war euer Verhältnis zu Banken?
Sehr wichtig. Reine Investments von Außenstehenden sind auch heute nicht gern gesehen. Eigentum an den Betriebsmitteln bedeutet für uns auch erhöhte Motivation bei jedem Einzelnen. Kapital hatte keiner. So war die Erstfinanzierung extrem mühsam. Die einzige Bank, die damals kurioserweise auf das Projekt gesetzt hat, war die Deutsche Bank. Das war uns auf der einen Seite unangenehm, auf der anderen Seite alternativlos. Nachdem alle Kredite abgezahlt waren, war der Wechsel zur GLS Bank in Bochum vor ca. zwölf Jahren ein logischer Schritt.
Die Schuldenlast war in den ersten vier Jahren ziemlich erdrückend, sodass die ersten Einkommen unter dem Sozialhilfesatz lagen und mit Wohngeld, BAföG etc. aufgestockt wurden. Die initial tiefen Einkommen lagen z. T. auch an einer »amateurhaften Betriebsführung« und dem Gefühl, »sich schämen zu müssen, wenn man Geld nimmt«. Seit 10, 15 Jahren zahlen wir gute Löhne.
Wie war das soziale und politische Umfeld bei der Gründung eures selbstverwalteten Fahrradladens?
Es gab eine Art Aufbruchsstimmung in der selbstverwalteten Szene, statt eines einzelnen Fahrradladens war eigentlich ein alternatives Kaufhaus mit vielen verschiedenen Einzelformen geplant worden. Ist wohl in endlosen Diskussionen »zerplant« worden, nur der Fahrradladen ist übrig geblieben. An anderen Standorten entstanden später weitere kleine Unternehmen wie z. B. die Hutzel Bäckerei und die Kreissäge (Frauen-Stahlverarbeitungskollektiv), der Möbelladen Form in Form u. a.
Gibt es/gab es Beziehungen zu neuen sozialen Bewegungen bzw. zu anderen linken, anarchistischen etc. Gruppen oder war die Ladengründung schlicht eine pragmatische Möglichkeit, einen Job zu haben?
Beides, wir waren alle links/grün sozialisiert und teilweise politisch aktiv. Damit Geld zu verdienen war aber auch ein Ziel. Die linke Szene hat allerdings oft nicht bei uns eingekauft, weil uns vorgeworfen wurde, mit unseren Produkten zu viel Geld zu verdienen. Was kompletter Quatsch war (die linke Band »Ton Steine Scherben« musste ja damals auch immer gratis auftreten, damit sie angeblich ihre »politische Solidarität« zeigt).
Gibt es nur gleichberechtigte Mitbesitzer:innen oder doch auch »nur Angestellte«? Gibt das Probleme?
Unser erster Angestellter startete irgendwann um die Jahrtausendwende. Er verdiente mehr als die Geschäftsführer und wir haben ihn alle 5 Minuten gefragt, ob er sich noch wohlfühlt. Wir wollten auf keinen Fall in Lohnausbeutung geraten. Noch heute sind die Einkommensdifferenzen zwischen Eigentümern und Angestellten deutlich geringer als in herkömmlichen Betrieben, aber es gibt sie mittlerweile. Die Diskussion damals über die Einführung von reinen Angestellten war scharf – dann wurde aber ein Konsens gefunden und die Entscheidung war problemlos. »Faire Verhältnisse für Angestellte« war uns immer wichtig.
Wie laufen schwierige Entscheidungsfindungen: Sind alle an allen Diskussionen gleichberechtigt beteiligt? Gilt das Konsensprinzip?
Initial, in der reinen Selbstverwaltungsphase, waren manchmal Entscheidungsprozesse anstrengend, »Bedenkenträgerei« führte dazu, dass Entscheidungen manchmal zu langsam getroffen wurden und neue Gelegenheiten verpasst wurden.
Heute gilt innerhalb des Geschäftsführerplenums, das einmal pro Woche bis zu 5 Stunden tagt, das Konsensprinzip. Hier liegt auch die finale Entscheidungskompetenz, auch aus Effizienzgründen. Im Plenum mit allen 25 Leuten (mindestens zweimal im Jahr) wird mehrheitlich entschieden. Ein Diskussionspunkt war z. B.: Sollen Reparaturen nur für Räder angeboten werden, die bei uns gekauft wurden? Dies wurde schließlich wegen der immer knapper werdenden Reparaturkapazitäten so beschlossen. Aufgrund der zwei Ebenen und der Größe der Gruppe sind Entscheidungsfindungen oft langwieriger, aber fundierter. Eine reinrassige basisdemokratische Gleichberechtigung gibt es aber nicht.
Alltag in einem selbstverwalteten Radladen – was ist anders als in einem »normalen« Laden? Was hebt sich positiv von der Arbeit in einem konventionellen Laden ab?
Flache Hierarchien, Eigenverantwortung, angstfreies Arbeiten, menschenwürdige Arbeitszeitregelungen und Vergütungen. Bei uns arbeitet niemand in der Saison sechs Tage, was in der Branche Standard ist. Mehr Spaß miteinander!
Gibt es spezielle Ansprüche an die verkauften Räder/Komponenten wie z. B. Qualität, Nachhaltigkeit, »faire Produktionsbedingungen« etc.?
Wir tun, was wir können ... möglichst viele deutsche/europäische Anbieter. Wir verfolgen die Anstrengungen unserer Lieferanten in Sachen Nachhaltigkeit genau. Da fliegt schon mal einer raus, wenn er uns nicht gefällt. Allerdings ist das Produkt Fahrrad auch in der Globalisierung der Produktion gefangen.
Wie wird der Ertrag verteilt? Gibt es eine gemeinsame Kasse, einen Einheitslohn oder einheitlichen Stundenlohn?
Unter den Eigentümern: gleicher Lohn für gleiche Arbeitszeit. Kinder werden im Einkommen mit Mehraufwand berücksichtigt. Angestellte Mitarbeiter: Der Firmengewinn wird am Ende des Jahres offengelegt, wenn es passt, gibt es eine Prämie, in Jahren ohne Gewinn nicht.
Alle Mitarbeiter verdienen mit kleinen Differenzen den gleichen Stundenlohn. Die Differenzen entstehen aus längerer Betriebszugehörigkeit oder größerem Verantwortungsspektrum. Der Mitarbeiter, der seit Jahren mit Spezialwissen fast alle Bestellungen organisiert, verdient etwas mehr als der, der für uns Pakete oder Räder mit dem Lastenrad ausfährt.
In manchen Läden galt »Entprofessionalisierung« und Arbeitsplatzrotation als wichtiger Grundsatz. Gab/gibt es solche Ansätze bei euch oder habt ihr euch schnell spezialisiert, sodass einer nur Verkauf, der nächste nur Werkstatt, ein anderer in erster Linie Einkauf oder nur Buchhaltung macht?
Rotation als Projekt haben wir versucht, das hat aber nicht gut funktioniert. Spezialisierung scheint von jedem Einzelnen gewollt und ist scheinbar auch effektiv. Zwischendurch gibt’s mal ne einzelne Wanderung eines Kollegen in einen anderen Arbeitsbereich, das ist aber eher die Ausnahme.
Wie läuft das im Laufe des Bestehens des selbstverwalteten Betriebs mit dem Einstieg neuer Kolleg:innen oder dem Ausstieg? Müssen neue Kapital mit einbringen, werden Aussteiger:innen ausbezahlt?
Das Unternehmen wird zum Ausstiegs-/Einstiegszeitpunkt mit seinem Firmenwert neu bewertet. Aussteiger bekommen Geld (ist ja auch ein Teil unserer Form der Altersvorsorge), Einsteiger bringen Geld mit. Im Idealfall kauft der eine dem anderen den Anteil ab.
Wie ist die Zusammenarbeit unter den selbstverwalteten Läden? Hilft man sich oder konkurriert man eher?
Es gibt ja außer uns kaum noch Exoten wie wir. Zusammenarbeit gibt es seit Jahren mit auf ganz Deutschland verteilten »sympathischen« Fahrradläden im Rahmen einer sogenannten Erfa-Gruppe (13 teilnehmende Läden, Treffen dreimal im Jahr).
Gibt es überhaupt noch »selbstverwaltete« Fahrradläden? Wir haben bei unseren Recherchen nur noch »Radau« in Marburg gefunden.
Mir fallen da »Velophil« (Berlin) und »Das Rad« (Dortmund) ein.
Welche Perspektiven siehst du für die Selbstverwaltungsidee – im Fahrradladen »Balance«, aber auch gesamtgesellschaftlich?
Bei »Balance« sind wir gerade auf der Nachfolgersuche, da die Gründergeneration bald endgültig ausscheidet. Es gibt schon Menschen, die passen würden, aber insgesamt weniger Bereitschaft, sich längerfristig zu binden. Auch sind Menschen, die bereit sind, das Risiko zu übernehmen, selten. Der Handel ist weniger attraktiv als andere Branchen.
Perspektiven sehe ich eher in anderen Branchen: Gastronomie, Mode … das Grundprinzip hat Zukunft, es hat einen Riesenbenefit: Verantwortung kann man verteilen – alle gewinnen mehr Lebensraum und Freiheit.
Wir danken Michael Schulz, Mitarbeiter von »Balance«, für das Interview.
Das Interview führte Stefan Buballa.