Ausgabe 35 · Dezember 2022
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Grundlagen der Fahrradergonomie – Teil 2
In der Ausgabe 34 der Fahrradzukunft habe ich den ersten Teil der Fahrradergonomie (Der Antrieb von der Fußspitze bis zum Hüftgelenk) beschrieben. Dabei wurden die Sattelhöhe, die Fußposition, die Kurbellänge und die Tritttechnik beleuchtet. Diese Vorgehensweise entspricht dem üblichen Beratungsablauf. Der richtig eingestellte Sattel, als Kernpunkt des Antriebs, wird als Erstes festgelegt, danach kommen die anderen Anpassungen, die (fast) nicht mehr an der Sattelposition rütteln, sonst würde man die Optimierung des Antriebs wieder zunichte machen.
Ausgangspunkt für den zweiten Teil ist, dass die Einstellungen aus dem ersten Teil korrekt vorgenommen wurden. Das betrifft die Sattelhöhe und die Kurbellänge. Außerdem wird auf die richtige Tritttechnik geachtet.
Natürlich kann man die einzelnen Punkte eigentlich nicht wirklich trennen. Jede Anpassung zieht zwangsläufig andere Anpassungen nach sich, aber die hier beschriebene Vorgehensweise ist dabei am unkompliziertesten.
Zur Erinnerung an Teil 1 hier dessen Zusammenfassung:
- Ich trete mit dem Fußballen auf dem Pedal.
- Ich fahre mit angehobener Ferse/leicht gestrecktem Fußgelenk.
- Im tiefsten Punkt ist das Bein dabei fast gestreckt.
- Die Kurbellänge passt zu meiner Beinlänge.
- Die maximale Kurbellänge (in Millimetern) ist nicht größer als meine Körpergröße (in Zentimetern) (gilt nicht für disproportionierte Personen, z. B. Kleinwüchsige). Eine »zu kurze« Kurbel tut aber nicht weh.
- In der 11-Uhr-Position (von links gesehen) ist mein Knie nicht stärker als 90° angewinkelt.
Sattelposition und Beckenstellung
Zum Thema Sattelposition, und eben eigentlich noch zum direkten Antrieb, gehört die Position des Sattels überm Tretlager, besser als Knielotregel oder effektiver Sitzrohrwinkel bekannt. Die Knielotregel (und davon gibt es mehrere) soll die Position des Knies über dem Pedal beschreiben, wenn die Tretkurbel waagerecht in der vorderen Position steht. Die häufigste Regel heißt: Die Vorderkante des Knies soll senkrecht über der Pedalachse sein (Bild 2). Am besten kann man das mit einer senkrecht gehaltenen Wasserwaage kontrollieren, wenn die eine entsprechende »Libelle« aufweist (Bild 3). Man kann auch mit einem Lot (Senkblei) pendeln, aber in der Praxis dauert das zu lange. An anderen Stellen liest oder hört man, dass das Knielot von der Mitte des Knies aus gemessen werden soll (wo ist genau die Mitte?). Dann wäre ja die Vorderkante des Knies vor der Pedalachse. Warum wird das unterschieden?
Am einfachsten ist es, wenn man den Sinn hinter dieser Regel versteht. Das Knielot ist ein Hilfsmittel, um sicherzustellen, dass ich mit dem Oberkörper-Schwerpunkt über dem antreibenden Pedal bin. Das mag jetzt sehr vereinfacht klingen und die Biomechaniker haben bestimmt noch viele andere Gründe, aber für das Verständnis in der Beratung reicht diese Erklärung. Der Körperschwerpunkt wird uns auch noch an anderen Stellen beschäftigen. Voraussetzung für die korrekte Betrachtung des Knielots ist:
- Die korrekte und maximale Sattelhöhe
- Der passende Sattel, auf dem man vollflächig sitzt und der nicht hinter dem Fahrer hervorschaut
- Die richtige Fußposition (mit dem Vorfuß auf dem Pedal bzw. Zehengrundgelenk über der Pedalachse)
Alle drei Punkte können bei Nichteinhaltung eine Fehlinterpretation hervorrufen.
Wenn das Knielot am Anfang der Beratung auffallend abweicht, also sehr weit vorn oder sehr weit hinten liegt, müssen erst mal andere Faktoren ausgeschlossen werden. Das Knielot wird über die Sattelverschiebung in der Klemmung in der Sattelstütze oder mit der Wahl des Sattels verändert. Unveränderbar, weil meistens fix, ist der geometrische Sitzrohrwinkel im Rahmen. Stark einfedernde Parallelogramm-Sattelstützen erzeugen auch ein sehr weit hinten liegendes Knielot, was selten ausreichend korrigierbar ist (weswegen ich die in meiner Beratung nicht mag). Breite Sättel erzeugen durch das Sitzen auf der Sattelnase eine nach vorn verlagerte Sitzposition.
Hat der Rahmen einen sehr flachen Sitzrohrwinkel (z. B. 68° wie in Bild 4), kann ich davon ausgehen, dass ich die Knielotregel mit so einem Rahmen nicht erfüllen kann und der Körperschwerpunkt nicht aktiv am effektiven Antrieb beteiligt ist (Ausnahme: starkes Übergewicht oder Schwangere mit »Bauch«, dann ist der Schwerpunkt automatisch weit vorn).
Die üblichen Sitzrohrwinkel im Rahmenbau bewegen sich zwischen 71° und 74°. Je kleiner ein Mensch ist (je kürzer die Oberschenkel!) und je aufrechter er fahren möchte, desto steiler sollte der Sitzrohrwinkel sein. In meinen Beratungen liegen die Ergebnisse in der Regel zwischen 74° und 76°, ganz selten bei 78°. Das mit dem aufrechten Fahren erkläre ich weiter unten.
Die steilen Sitzrohrwinkel (mitunter 80°) kennen wir eigentlich von den frühen Rennradprofis und Triathleten. Bei den Hochleistungssportlern ermöglicht der steile Sitzrohrwinkel (und damit ein Knielot deutlich vor der Pedalachse) ein Öffnen des Oberkörperwinkels bei sehr aerodynamischer Haltung. Würden diese Sportler weiter hinten sitzen, würde das starke Abknicken des Oberkörpers die Hauptarterien in der Leiste beengen und die Blutzufuhr verschlechtern oder sogar unterbrechen. Da die aerodynamische Haltung von den Sportlern erwünscht ist, aber von den Ausrichtern der Rennen (z. B. UCI) gerne wegen Wettbewerbsgleichheit begrenzt wird, hat man festgelegt, dass bei internationalen Rennen, die durch die UCI reglementiert werden, die Sattelnase immer 5 cm hinter der Tretlagermitte liegen muss. Außerdem soll der Sattel waagerecht bzw. neuerdings max. 4° (nach vorn unten) geneigt sein. Die 5-cm-Regel benachteiligt kleinere Fahrer, weil diese automatisch wegen der geringen Sitzhöhe relativ weit hinten sitzen müssten, was ergonomisch und anatomisch katastrophal ist (Bild 5+6).
Die waagerechte Sattelstellung, die auch bei Nichtsportlern weit verbreitet ist, verhindert sowohl eine verstärkt aerodynamische Haltung als auch eine gesunde Oberkörperneigung, weil das Becken nicht nach vorn gekippt werden kann. Das erzeugt als Ausweichbewegung eine sehr runde Rückenform mit erheblichem Bandscheibenstress und benachteiligt Rad fahrende Frauen, weil deren tief nach unten gezogene Becken sowieso nicht viel Kippung zulassen.
Da der geometrische Sitzrohrwinkel (gemessen am Sattelrohr in Bezug zur Waagerechten) nur bei der Neukonzeption eines Rahmens berücksichtigt werden kann, aber bei fertigen Rädern unveränderbar ist, kann man meistens nur mit Sattel und Sattelstütze Veränderungen erzielen. Bezugspunkt ist dann der sogenannte effektive Sitzrohrwinkel, den man mit einer Linie zwischen Sattelmitte und Tretlagermitte erzeugt. Dieser effektive Sitzrohrwinkel ist durch die Wahl einer anderen Sattelstütze, dem nach vorn oder hinten Schieben des Sattels oder mit einer anderen Sattelauswahl veränderbar.
Der effektive Sitzrohrwinkel kann aber trotzdem gelogen sein, wenn man ihn nur über die gemessene Sattelmitte bestimmt. Entscheidend ist dann noch, wo genau der Fahrer sitzt (dann bekommt man den »effektiven effektiven« Sitzrohrwinkel). Das hat ausschlaggebend mit der Sattelauswahl zu tun und ob der Sattel wirklich passt. Auch hier haben wieder die Hochleistungssportler in die Trickkiste gegriffen. Die Triathleten, die heute keine Fahrräder mehr mit 80°-Sitzrohrwinkel fahren, haben mittlerweile Sättel, die eine breite Nase aufweisen und damit die eigentliche Sattelfläche schon sehr weit vorn definieren. Was bei herkömmlichen Sätteln noch Sattelnase ist, ist bei ihnen schon Sitzfläche fürs Becken. Die Sättel ragen deshalb weit hinter dem Fahrer raus. Über die Sattelauswahl später mehr.
Eine letzte Möglichkeit, das Knielot zu beeinflussen, ist, die Pedalachse weiter nach hinten zu verlegen, indem man kürzere Kurbeln verwendet. Das empfiehlt sich immer bei kleinen Menschen, die sowieso kürzere Kurbeln brauchen, weil ihre Oberschenkelknochen kürzer sind.
Zum ergonomischen Verständnis von Knielot und Sitzrohrwinkel muss man wissen, wie der Oberkörperschwerpunkt beim Pedalieren die Kraftentfaltung beeinflusst. Zum einen haben wir schon gesehen, dass eine tiefe Oberkörperneigung zwar aerodynamisch interessant ist, aber auch die Gefahr beinhaltet, die Blutversorgung der Beine zu verschlechtern. Auf der anderen Seite gibt es aber unter dem Leistungsaspekt keine ganz aufrechte Sitzhaltung. Auch für den Alltagsradfahrer ist eine Oberkörperneigung von 32°–48° erstrebenswert und wird vom Körper sogar unbewusst eingefordert. Am einfachsten erklärt sich das mit der Aussage, dass der Schwerpunkt des Oberkörpers über dem antreibenden Pedal (das, was nach vorn zeigt) liegen sollte. Das ist eine griffige Argumentation, die in der Beratung gut funktioniert und von jedem verstanden wird.
Etwas genauer betrachtet, sorgt die Masse des Oberkörpers dafür, dass das Becken leicht nach vorn gezogen wird und diese Position stabil halten kann, weil nämlich am hinteren Beckenknochen und an der Rückseite der Oberschenkel Muskeln ansetzen, die bei der Beinstreckung das Becken nach hinten ziehen wollen.
Damit diese Muskeln die Beinstreckung optimal unterstützen, darf das Becken nicht nach hinten kippen. Das erklärt auch, warum schwere Menschen (massiger Oberkörper) sich weniger weit auf dem Fahrrad nach vorn neigen als leichte Menschen.
Ebenso erklärt das jetzt, warum eine möglichst aufrechte Position nur erreicht und vom Körper akzeptiert wird, wenn der Sitzrohrwinkel relativ steil ausfällt, denn jeder flache Sitzrohrwinkel zwingt den Fahrer automatisch zu einer geneigteren Position, um die Schwerpunktlage auszunutzen. Mit einem steilen Sitzrohrwinkel ist dieselbe Person schon mit weniger Rückenneigung in der richtigen Position.
Eine senkrechte Rückenhaltung kann keiner auf dem Rad über längere Zeit durchhalten, vor allem, wenn es wirklich ums effektive Vorwärtskommen geht. Die viel gelobte »Hollandradposition« ist für Kurzstrecken geeignet, aber jeder echte Hollandradfahrer legt sich mit den Armen auf den Lenker, wenn der Gegenwind zu stark ist oder die Steigung einer Brücke überwunden werden muss.
Egal, wo man das Knielot misst, ob vorn oder in der Mitte, die Vorderseite der Kniescheibe sollte auf oder vor der Pedalachse ankommen, wenn alle anderen Einflussfaktoren, die das Knielot verfälschen können, ausgeschlossen worden sind. Die Verlagerung des Knielots nach hinten sollte wenn möglich vermieden werden. Als Grenze nach vorn gilt: das Knielot nicht über die Zehenspitzen hinaus zeigen lassen.
Es gibt eine Ausnahme: Ein sehr flacher Sitzrohrwinkel (65°–58°) kann bewusst verwendet werden, um sehr ängstlichen oder körperlich beeinträchtigten Menschen vom Sattel aus den vollständigen Bodenkontakt mit den Füßen zu ermöglichen, ohne dass die maximale Beinstreckung darunter leidet.
Solche Fahrräder sind dann schon an der Grenze zum Sesselrad zu sehen. Und ab einem bestimmten Winkel braucht man auch eine leichte Rückenabstützung am Sattel, weil der Pedaldruck eine starke waagerechte Komponente nach hinten bekommt. Natürlich sind diese Räder nicht mehr sehr effizient und die Fahrer keine Sprintmeister, aber man kann so eine Lücke schließen und diesen Menschen helfen.
Das heißeste Thema: der Sattel
Kein Teil des Fahrrades ist häufiger verändert, erfunden und diskutiert worden als der Sattel.
In den letzten 20 Jahren habe ich mich mit etlichen Sattelherstellern ausgetauscht, den Markt beobachtet und tausende von elektronischen Satteldruckmessungen in meinen Beratungen durchgeführt. Die elektronische Satteldruckmessung, bei der die gesamte Beckenunterseite auf dem Sattel abgebildet werden kann, gibt es für den praktischen Einsatz in der Beratung seit 2006.
Eine sattelförmige Folie, die mit über 60 Messpunkten versehen ist, wird über den Sattel gespannt und erfasst die Druckdaten während der Fahrer auf einem »Standfahrrad« (Rolle oder Messbock) in die Pedale tritt. Das System ist sogar so ausgelegt, dass man damit auf die Straße gehen und bei realer Fahrt messen kann, aber die Regel ist das nicht.
Am Anfang habe ich die armen Probanden ständig mit allen verfügbaren Sattelmodellen »gequält«, bis ich mit der Zeit ein Konzept gefunden habe, was die Beratung auf wenige Modelle beschränkt. Irgendwann war klar, dass von den geschätzt 3 Mio. Sattelmodellen, die auf dem Ausrüstungsmarkt angeboten werden, weniger als ein Dutzend für den Alltag jenseits der »Brötchenholer« geeignet ist.
Die erste Grundannahme bei der Sattelauswahl ist, dass der Fahrer die oben genannte geneigte Sitzposition kennt, das Fahrrad für diese Position die richtigen Abmessungen hat und eine rückenschonende Haltung auch wirklich angestrebt wird.
Die rückenschonende Haltung ist die Haltung, bei der der Rücken seine natürliche S-Form behält und bei der notwendigen Neigung nach vorn die Rücken- und Beckenachse eine Linie bilden. Die natürliche S-Form schützt die Wirbelsäule vor Überlastung, weil die umgebende Muskulatur zu dieser Haltung passt und optimal arbeiten kann. Auch die Bandscheiben werden entlastet. Die natürliche S-Form zeigt eine leichte Lordose im unteren Rücken, was gewährleistet, dass die Gruppe der langen Rückenstrecker den Oberkörper stabilisiert und die Hände entlastet (Bild 14).
Der Schlüssel für diese Haltung ist ein Sattel, der ein nach vorn Neigen des Beckens erlaubt, ohne im vorderen Schambereich schmerzhaften Druck zu erzeugen (Bild 15). Jeder zu starke Druck im vorderen Schambereich wird automatisch mit einem nach hinten Kippen des Beckens beantwortet und hat sofort eine Rundrückenhaltung mit allen Konsequenzen zur Folge (Bild 16).
Damit das nicht passiert, sollte man als Erstes bei jedem Fahrrad die Sattelnase neigen. Wer das schon mal ausprobiert hat (und dabei den falschen Sattel erwischt hat), wird sofort behaupten, dass man dann ja vom Sattel runterrutscht. Das stimmt insofern, weil fast alle Sättel zu breit sind bzw. zu früh zu breit werden.
Bei der vorher genannten und korrekt eingestellten Sattelhöhe zeigt der Oberschenkel bei der tiefsten Pedalstellung fast senkrecht nach unten. Dafür müssen die Sattelnase und der größte Teil der Sattelflanke sehr schlank gehalten sein (T-förmiger Sattel), damit der Oberschenkel noch am Sattel vorbeikommt. Wird der Sattel zu früh zu breit (kurze Sattelnase, dreieckige Sattelform), schiebt man sich mit der Rückseite des Oberschenkels vom Sattel runter nach vorn auf die Sattelnase und das tut weh!
Einen entsprechend schlanken Sattel kann man oft sehr stark neigen, ohne dass dieser Effekt auftritt.
Wofür braucht man dann die Messung der Sitzbeinhöcker-Abstände, die bei vielen Sattelberatungen angeboten werden? Eigentlich gar nicht!
Bei der oben genannten Sitzhaltung mit einer korrekten Beckenkippung nach vorn liegen die spitzen Sitzbeinhöcker nicht auf, sondern hängen mehrere Zentimeter über der Satteldecke in der Luft. Die eigentliche Sitzfläche wird von dem vorderen Bereich der V-förmig angeordneten Schambeine gebildet. Deren Fläche ist ca. dreimal so groß wie die der beiden Sitzbeinhöcker, sie verteilen also auch die Belastung besser, sodass der Druck geringer wird.
Die vordere Form und Anordnung der Schambeine, die beim Fahren tatsächlich belastet werden, unterscheidet sich kaum von Fahrer zu Fahrer (und auch nicht zu Fahrerin!). Frauensättel gehören für mich der Vergangenheit an. Frauensättel wurden vor hundert Jahren kurz und breit gestaltet, damit sich die Frau keine zu tiefen Falten in die Kleidung drückt. Die Steigerung des Frauensattels war der »Rocksattel« (auch Brotscheibensattel genannt), weil er keine Nase aufwies und nur aus einer kleinen ovalen Fläche bestand.
Viel wichtiger für die Sattelauswahl ist die Flexibilität der Sattelschale. Die Sattelschale soll sich (in Längsrichtung) einer vorhandenen Beckenwölbung anpassen. Die unterschiedliche Beckenwölbung ist das eigentliche Kriterium. Darin unterscheiden sich die Menschen wirklich. Männer haben tendenziell eher ein flaches Becken, Frauen das stärker gewölbte. Je nach Körpergewicht wird diese Wölbung im Sattel nachgebildet und angepasst oder nicht. Schwere Menschen formen einen Sattel leichter als leichte Personen. Dumm ist nur, dass fast alle Sättel so ausgelegt sind, dass man mindestens 80 kg wiegen muss, bis die Sattelschale reagiert. Frauen haben von Natur aus nicht nur ein stärker gewölbtes Becken, sondern gehören häufig auch zu der leichteren Fraktion, was doppelt nachteilig ist. Sie sitzen dann mit der Wölbung auf einer geraden Fläche wie ein Rad auf der Schiene. Der Druckschmerz ist vorprogrammiert.
Abgeformte Beckenstrukturen auf Sattel-Gips-Abdrücken:
Eine Polsterung hat keinen entlastenden Effekt, weil auch das Polster (egal ob Schaumstoff oder Gel) punktuell zusammengedrückt wird. Sowieso sollte man weiche Sättel (Gel, Schaumstoff, Luftpolster oder entsprechend stark gepolsterte Radfahrhosen, was denselben Effekt hat) vermeiden. Weiche Materialien erzeugen den Eindruck, dass es keinen punktuellen Druck gibt. Das weiche Material nimmt die Körperstruktur vollflächig auf und sinkt unter der Belastung ein. Beim Pedalieren kommt es aber rhythmisch zu abwechselnder Be- und Entlastung im Sekundentakt. Das eben noch eingesunkene Material steigt mit der Entlastung auf und hält den Kontakt zum Körper und erzeugt einen Gegendruck in den Strukturen, der dann Blutgefäße, Lymphbahnen und Nerven ununterbrochen belastet. Die Versorgung ist dadurch dauerhaft unterbrochen, was bei einer härteren Satteloberfläche nicht der Fall wäre.
Damit Sättel sich in Längsrichtung anpassen können, ist es sinnvoll, dass die Sattelschale in der Mitte offen ist (Lochsattel). Allerdings dürfen die Ränder von diesen Aussparungen nicht dann noch extra verstärkt werden, sonst geht dieser Effekt gleich wieder verloren. Sättel ohne Öffnung (z. B. Ledersättel) können sich nicht in Längsrichtung durchbiegen, ohne dass die Flanken auseinander gedrückt werden, damit wären wir wieder beim zu breiten Sattel.
Fazit und Ausblick
Die Beckenstellung ist der Schlüssel zur Rückenhaltung. Der geneigte Sattel unterstützt die Beckenkippung und entlastet die Bandscheiben. Die korrekte Beckenkippung mit der Beibehaltung der S-förmigen Wirbelsäule entscheidet zusammen mit der Lage des Oberkörperschwerpunkts über die Oberkörper- und Armhaltung und damit wären wir bei der Lenkerposition. Die Position des Lenkers ist das Produkt der bisher genannten Regeln und kann nicht beliebig verändert werden. Im dritten Teil (nächste Ausgabe der Fahrradzukunft) geht es um den Abstand zwischen Sattel und Lenker und vor allem um die richtige Lenkerhöhe.
Zur Autorin
Juliane Neuß, von Beruf Technische Assistentin für Metallographie und Werkstoffkunde. Ihre Berufung: Fahrradergonomie und Fahrräder für kleinwüchsige Menschen. Betreibt seit 1998 die Firma Junik-Spezialfahrräder, hat sechs Jahre lang die Filiale eines Fahrradladens in Hamburg geleitet und viele Jahre den Techtalk in der ADFC-Radwelt geschrieben. Sie ist seit 2016 Inhaberin der »Fahrradschmiede 2.0« in Clausthal-Zellerfeld, ihrem Heimatort, und hat dort auch eine Brompton-Spezialwerkstatt.