Ausgabe 26 · Januar 2018

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ABS für das Fahrrad?

Zwischen Mensch und Technik

von Ralf Stein-Cadenbach

Stand der Technik

Bremsunfälle sind so alt wie das Fahrrad selbst. Es waren Überschläge, die die Periode des Hochrads beendeten und die Entwicklung des Fahrrads in seiner heutigen Form einleiteten. Neben der Verbesserung der Bremsen in den letzten Jahrzehnten gab und gibt es Versuche, mittels einer raffinierten selbsttätigen Steuerung Unfälle zu reduzieren, die wegen menschlichen Unvermögens in unübersichtlichen und schnellen Bremsmanövern unvermeidlich sind oder erscheinen.

Neben einfachen Bremskraftbegrenzern und anderen wenig ernstzunehmenden Erfindungen hat in der Vergangenheit eine Entwicklung Aufmerksamkeit erregt – jedenfalls in der Fahrradszene: Die Erfindung der Gebrüder Beck 1987 (Jahn 1989, Biria 2003) beruht auf korrespondierenden Hinter- und Vorderradbremsen. Die Reaktionskraft der Hinterradbremse wird zur Steuerung der Vorderradbremse benutzt. Wenn das Hinterrad abheben zu droht, blockiert es und die Reaktionskraft der Bremse lässt nach. Sie wird zur Steuerung der Vorderradbremse eingesetzt. Folge: Auch die Bremskraft des Vorderrads gibt nach, ein Überschlag kann verhindert werden. Auf unterschiedliche Bodenverhältnisse geht das System ebenfalls ein.

Dieses mechanische »ABS« setzte sich nicht durch. Anti-Blockier-Systeme von PKWs und Motorrädern sind dagegen umfangreiche elektrohydraulische Anlagen. Das Prinzip: Sensoren nehmen beim Bremsen die Winkelgeschwindigkeiten der Räder auf. Nimmt der errechnete Schlupf einen zu hohen Wert ein, wird über Ventile die Bremse entlastet und das gefährliche Gleitreiben unterbunden. Das Ziel: Die Räder und damit das gesamte Fahrzeug bleiben auch in der Bremsphase voll kontrollierbar. Für Fahrräder ist die Anti-Überschlag-Funktion allerdings wesentlich wichtiger, weil Schwerpunktlage und Sitzposition sehr viel ungünstiger sind als beim Motorrad (siehe Bild 1). Lange Bremswege außerhalb von Gefällen finden normalerweise bei Unfällen nicht statt. Das attraktive Akronym »ABS« ist insofern irreführend. Die Patentliteratur führt zusätzliche Sensoren an, die die Größen »Beschleunigung« und »Radlast« aufnehmen.

Beim Pedelec steht im Gegensatz zum rein muskelbetriebenen Fahrrad Fremdenergie in größerem Umfang zur Verfügung, was die einzelne Erfinder und bekannte Firmen wie Continental, Bosch und Magura anregte, für elektrifizierte Zweiräder ebenfalls ein ABS zu entwickeln. Die Erfahrungen aus dem Motorrad-ABS sind für ein Fahrrad-ABS nicht anwendbar: Das Motorrad spielt massekräftemäßig in einer anderen Liga. Anders das Pedelec. Eine Pedelec-ABS-Anlage wäre potentiell auf Fahrräder übertragbar. Mit dem Nabendynamo steht eine relativ schwache, aber konstante Energiequelle zur Verfügung.

Aktuell sind zwei Entwicklungen im Gespräch:

  • Das relativ leichte ABS für Vorder- und wahlweise zusätzlich Hinterrad der Fa. BrakeForceOne arbeitet mit einer neuartigen elektrohydraulischen Steuereinheit (»Aktivator«), die über Volumenänderungen innerhalb einer geschlossenen hydraulischen Leitung den Druck auf die Bremse regelt.
  • Das Ein-Kanal-ABS der Fa. Bosch orientiert sich dagegen an konventionelle Bremsanlagen, wie sie auch bei Motorrad und PKW umgesetzt werden. Im offenen hydraulischen System wird das Öl, das durch das Entlastungsventil entwichen ist, dem Ölreservoir des Geberzylinders (Handbremse) zugeführt. Das ABS soll im Herbst 2018 im Handel sein.

Anforderungen an ein elektronisch gesteuertes Bremssystem für Fahrräder

Radfahrer im städtischen Verkehr bewegen sich mit einer Geschwindigkeit von durchschnittlich etwa 15 km/h, Freizeitradler liegen darunter, Pendler etwas höher. Pedelec-Fahrer sind nur wenig schneller. Sie überschreiten selten 20 km/h. In der folgenden Betrachtung beschränke ich mich auf den durchschnittlichen Radfahrer, der sich nicht als Sportler versteht. Die gewählten Gefälle bewegen sich in einer Größenordnung, die mit mäßig hoher Bremsverzögerung bewältigt werden. Ein MTB-Fahrer, der die Herausforderung sucht, wird sich ganz gewiss kein 800 g schweres Trumm unter den Lenker schrauben, das aller Welt verkündet, dass er nicht richtig bremsen kann.

Welche Aufgaben muss ein Bremssystem für ein Fahrrad bewältigen, um den hohen Anspruch zu erfüllen, in kritischen Fällen dem Fahrer unmittelbar zur Seite zu stehen, sodass er gleichzeitig Fahrstabilität und kürzesten Bremsweg erreicht? Vorgang: Ein Radfahrer bremst scharf. Je größer seine Verzögerung a, desto mehr wird das Vorderrad belastet und das Hinterrad entsprechend entlastet. Folge: Die Vorderradbremse ist die wesentlich stärkere Bremse. Der alleinige Gebrauch der Hinterradbremse (z.B. einer Rücktrittbremse) führt zu einem Bremsweg, der rund drei Mal so groß ist. Wenn Hinter- und Vorderradbremse gleichzeitig betätigt werden, wird der Bremsweg im Vergleich zu einer reinen Vorderradbremsung fast nicht reduziert. Wenn die maximale Verzögerung amax0 erreicht ist, hebt das Hinterrad ab. Unter schlechten Bodenverhältnissen ist amax0 nicht erreichbar, weil das Vorderrad blockiert und ohne Richtkraft abschmiert: Der Fahrer stürzt. Für das effiziente Bremsen mit der Vorderradbremse sind also zwei unterschiedliche Szenarien denkbar, die zu Stürzen führen.

Fall »Überschlag«

Ein Bremsüberschlag ist für den Betreffenden ein schockierendes Erlebnis, zumal es schon bei niedrigen Geschwindigkeiten ausgelöst werden kann. Die Angst davor ist u.a. eine Ursache für die Beliebtheit der Rücktrittbremse – eine fatale Reaktion. Denn eine scharfe Vorderradbremse schützt. Als die griffigen V-Brakes aufkamen, wurde in zahlreichen Publikationen prompt gewarnt: Kinder könnten besonders gefährdet sein. Dummerweise lesen diese Warnungen die erwachsenen Käufer, die sich selbstredend ebenfalls bedroht fühlen. Richtig ist, dass Kinder früh scharfes Bremsen lernen. Wenn sich erst die Vorstellung der Vorderradbremse als gefährlich eingenistet hat, wird sich das in der Regel auch nicht ändern. Simple Bremskraftbegrenzer sind abzulehnen, weil sie nicht auf unterschiedliche Ansprüche (Boden, Feuchte, Gewicht) eingehen können: Sie begrenzen zu früh.

Der Überschlag wird eingeleitet, wenn die Verzögerung amax0 erreicht. Im Gegensatz zu anderen Darstellungen ist zum Abheben eine Blockade des Vorderrads nicht notwendig. Bei günstigen Verhältnissen kann also ein hochsteigendes Fahrrad noch kontrolliert werden (»Stoppie«). Günstige Verhältnisse sind: gerade Lenkerhaltung, Bremsung auf Beton oder Asphalt – auch nass, ohne schmierende Verunreinigungen. Die Grenzverzögerung amax0 liegt bei 5,5–6,5 m/s2 – im Grunde ein befriedigender Wert.

Bild 1: Am Motorrad: Die resultierende Kraft FR schneidet den Boden weit hinter dem Aufstandspunkt (roter Punkt) – es sind größere Verzögerungen (Fa) möglich. Der Fahrer sitzt tief und fest im Sattel.

Allerdings finden nach Ansicht von Fahrradexperten Überschlagunfälle schon bei weit geringeren Verzögerungen statt. Zur Erklärung: Die Beinstellung des Fahrers eines Fahrrads (siehe Bild 2 und 3) ist im Gegensatz zu dem eines Mopeds/Motorrads/Motorrollers (Bild 1) nach vorne offen. Er muss schließlich die Kurbel bewegen. Er sitzt also in einer halb stehenden Position. Außerdem versinkt er nicht im Sattel, weil die Schenkel frei bleiben müssen. Die träge Masse des Motorradfahrers kann sich unter Verzögerung nur schwerlich nach vorne bewegen. Dagegen schleudert der gesamte Körper des Radfahrers ungehindert nach vorne gegen Rahmen, Vorderrad und Lenker. Der Schwerpunkt wird verschoben und die Grenzverzögerung amax reduziert. Die Folge ist, Fahrer samt Fahrrad kippen gemeinsam kopfwärts vornüber. In einer Variante davon wird der Lenker verrissen wird, womit der Kipppunkt von der Vorderachse zum Aufstandspunkt wechselt.

Bild 2: Stabiler Vollbremsvorgang auf dem Fahrrad mit der Vorderradbremse. Das Hinterrad ist fast völlig entlastet. Der gesamte Oberkörper steht unter starker Anspannung.

Um den vorzeitigen Überschlag zu vermeiden, ist es also notwendig, dass der Fahrer seine relative Position beibehält, indem er sich am Lenker beidseitig gleichmäßig abstützt (Bild 2). Dabei können Kräfte von mehreren hundert Newton auftreten – auch bei niedrigen Geschwindigkeiten! Bei starken Bremsmanövern übernehmen Arme/Oberkörper damit die Funktion des Fahrradrahmens. Die zur Verfügung stehende Reaktionszeit ist allerdings derartig gering, dass dem Fahrer keine Zeit bleibt, die Körperspannung erst aufzubauen. Es ist deswegen sinnvoll, dass seine Arme schon vorgespannt sind: Mit einer geneigten Sitzposition stützt er einen Teil seines Eigengewichts aktiv auf dem Lenker ab.

Wenn die Verzögerung zu groß ist und er trotz Abstützen über den Lenker geht, stürzt er nicht zwangsläufig kopfüber. Ich selbst fand mich einmal nach – notwendigem – Überbremsen stehend vor meinem Fahrrad wieder. Der unfreiwillige und ungeübte Hocksprung war keine turnerische Leistung, sondern ausschließlich der Vorspannung durch die mäßig geneigten Sitzposition zu verdanken. Der einzige »Bremsunfall« meines Lebens war keiner. Dem Jungen direkt vor mir ist nichts passiert.

Das Abheben selbst frisst Energie. Bei einer Geschwindigkeit bis etwa va = 11 km/h kann theoretisch die gesamte Bewegungsenergie in Hubarbeit umgewandelt werden. Anders ausgedrückt: Die Bremse darf unbegrenzt zubeißen! Im städtischen Verkehr nimmt man in kritischen Situationen ohnehin Geschwindigkeit heraus. Ein geübter »Stoppie« kann also einen wichtigen Beitrag zu Sicherheit liefern.

Die positiven Eigenschaften einer geneigten Sitzposition sind stabile Geradeausfahrt, bessere Absorption von Stößen, Schonung des Rückens, Verbesserung der Atmung, Erhöhung der Leistung. Negativ wird auf längeren Strecken die Belastung von Händen und Schultern empfunden.

Bild 3: Vollbremsvorgag bei entspannter Körperhaltung (»Kartoffelsack«). Der Körper schleudert nach vorne, schlägt auf und kippt (seitlich) vorne über.

Im Gegensatz zu mehr oder weniger geneigten Sitzpositionen ist eine aufrechte Sitzhaltung jedoch sehr beliebt, vorzugsweise mit hochgelegten Lenker und entspanntem Oberkörper (»Cityrad-Position«): Die Muskeln des Fahrers sind oberhalb der Hüfte kaum am Arbeitsprozess des Radfahrens beteiligt – ein Verhalten bzw. eine Sitzposition, die im Widerspruch zu jeder bekannten ergonomischen Lehre steht. Theoretisch wäre in der Cityrad-Position auch die Aufnahme großer Kräfte in den Armen möglich. Die zugrunde liegende muskelentspannte Einstellung widerspricht aber der notwendigen athletischen Aufnahme einer Vollbremsung.

Wenn der Fahrer sich nicht abstützt, ergibt sich für den ABS-Konstrukteur ein unlösbares Dilemma: Wenn die Steuerung auf den allzu entspannten Fahrer eingeht bzw. eingehen kann (unmöglich bei Verriss des Lenkers), dann nur um den Preis einer entlasteten Bremse! Im Ernstfall kann es aber günstiger sein, sich vor dem LKW samt Fahrrad wie in Bild 3 unten zusammenzufalten, als unter die Zwillingsräder zu geraten.

Pedelec-Fahrer sind fast ausschließlich in der Cityrad-Position unterwegs, weil Entspannung einschließlich Muskelentspannung das primäre Motiv ist. Ein zusätzliches Aggregat »ABS« kann diesen inneren Widerspruch eines hybriden Konzepts nicht lösen.

Radstürze aufgrund von Bremsfehlern haben etwas slapstickhaftes an sich: Der Fahrer hat keine Macht mehr über sich und sein Gefährt. Kleine Einzelheiten können den Sturzverlauf entscheidend verändern. Die These von Bremsunfällen dank allzu entspannter Sitzhaltung beruht auf der Meinung von erfahrenen Radfahrern, nicht auf wissenschaftlich erfassten Unfällen. Derartige nachträgliche Analysen sind nur schwer zu erbringen: Selbst ein direkter Beobachter wird bei solchermaßen schnell ablaufenden Vorgängen nicht alles erfassen. Die Entwicklung von ABS geht – jedenfalls bis jetzt – weitgehend von Vermutungen aus (siehe Anhang).

Fall Blockieren

Glatte und rutschige Untergründe werden normalerweise von Radfahrern gemieden. Trotzdem wird man ab und zu mit Untergründen konfrontiert, deren Grip ein scharfes Bremsen unmöglich macht: gesandete Pflaster, Split, schlammige Pfützen, nasses Kopfsteinpflaster u.a. In diesen Fällen lauten die Empfehlungen: beide Bremsen benutzen (z.B. im Gefälle) oder ausschließlich nur die Hinterradbremse – letzteres, wenn hartes und plötzliches Bremsen zu erwarten ist. Ein durchrutschendes Hinterrad ist relativ leicht aufzufangen oder mit dem ausstehenden Bein abzustützen. Schon kleine Kinder lernen den »Powerslide«. Auch ein seitlicher Sturz kann weniger folgenreich sein, denn der Fahrer hat sein Fahrrad zwischen sich und dem Hindernis. (vgl. auch Sheldon Browns Einschätzung dazu)

Die weitaus häufigste Ursache für ein wegrutschendes Vorderrad sind Kurven: Die entsprechenden Zentripetalkräfte greifen am Reifen an. Bremskräfte und Zentripetalkräfte am Reifen können sich vektoriell addieren. Vereinfacht ausgesprochen: Je schärfer man auf unsicheren Bodenverhältnissen in die Kurve geht, desto weniger kann man bremsen.

Das Bosch-ABS kann eine Bremsblockade in der Kurve nicht verhindern – angesichts der Vielzahl der Einflüsse und der relativ großen Masse des Fahrers mit seinem wenig berechenbaren Verhaltens nicht gerade verwunderlich (vgl. auch). Dominierende träge Größen wie bei der Maschine Motorrad fehlen hier.

Selbst wenn man optimistisch von einer zukünftigen Entwicklung ausgeht, die das spezielle Problem des Bremsens in Kurven des Fahrrad-ABS löst, ist das kurvenbedingte Wegrutschen nach wie vor sehr leicht möglich. Es stellen sich damit neue Fragen: Wie ändert sich das Fahrverhalten unter dem Anspruch, möglichst jede Art von Sturz zu vermeiden? Oder: Wird häufiger Rad gefahren, wenn unter schlechten Bodenverhältnissen ein besseres Bremsen garantiert ist?

Die mit Abstand meisten Unfälle passieren an Knotenpunkten (Kreuzungen, T-Zufahrt usw.). Dabei können gleichzeitig Brems- und Lenkvorgänge stattfinden, wobei die Planer häufig sehr viel Phantasie walten ließen, den Radweg mit zusätzlich engkurvigen Verschlingungen und Absenkungen auszustaffieren (vgl. Bild 4). Auch bei wenig komplexen Unfallverläufen (z.B. Dooring) muss mit zusätzlichen Lenkmanövern gerechnet werden. Schließlich ist die ausweichende Lenkreaktion schneller umzusetzen als der Bremsvorgang.

Unter eingegrenzten räumlichen Verhältnissen – üblich innerhalb geschlossener Ortschaften – vollzieht der Radfahrer sehr häufige Lenkbewegungen: Bögen sind bei Geschwindigkeiten unter 15 km/h der Normalzustand, mit dem ein Radfahrer nicht nur ausweicht, sondern auch sein Gleichgewicht hält. Wenn er ausrutschen sollte, ist es wahrscheinlich, dass es in einem Kurvenabschnitt passiert.

Der Fall »Ausrutschen in Kurven« als Unfallursache ist weit häufiger als Schleudern nach starken Bremsvorgängen. Kontrolliertes Hinterradbremsen mit absichernd ausgestrecktem Fuß verhindert in dieser Situation viele Stürze.

Anderer Fall: Ein Radfahrer fährt mit 20 km/h einigermaßen geradlinig auf ebenem Weg. Nun sieht er, dass sich vor ihm die Wegoberfläche massiv verschlechtert. Als verständiger Fahrzeugführer wird er sich darauf einstellen, die Geschwindigkeit zu reduzieren, ausrollen statt bremsen, sich möglichst aufrecht/geradlinig bewegen und seine Aufmerksamkeit auf den Weg konzentrieren. Eine rechtzeitig erkannte Gefahr ist eine gebannte Gefahr.

Anders, wenn er von der Verschlechterung überrascht wird, also in Kurven und beim Abbiegen: Im kritischen Augenblick befindet er sich noch in der Kurvenbewegung oder führt schon eine Gegenbewegung aus: S-Wegschlenker, Wegversatz, Ausweichmanöver vor Personen oder Hindernissen wie Schilder, abgestellten Gegenstände, nassem Laub usw. Natürlich kann er so langsam fahren, dass ihn nichts überraschen kann – dann braucht er aber auch nicht bremsen.

Bild 4: Typische Umschlingung eines Radwegs um eine Kreuzung: Der Weg geradeaus führt zunächst nach rechts und jenseits der Kreuzung links herum. Dazu Schilder »benutzungspflichtiger Radweg« plus »Mofa frei«. Vordergrund: Ort meines einzigen Sturzes, bei dem ich mich in ärztliche Behandlung geben musste.

Die beschriebenen Gefahren sind recht häufig, insbesonders im Herbst und Winter. Die entsprechende Wegführung in Deutschland nennt sich: Radweg. Überflüssige Schlenker, aufgebrochene zu dünne Fahrbahndecke, Verunreinigungen jeglicher Art, Knicke und Absätze, Wechsel des Oberfläche, Moosbewuchs, Wegführung unter Bäumen (Pflege unbekannt) usw. – diese Fallen sind üblich und werden immer wieder neu geplant und ausgeführt.

Es ist ratsam, die rechtlich zulässige Ausnahme »unzumutbar« der Radwegbenutzungspflicht selbstbewusst auszulegen. Dazu ein weiser Radschlag von Andreas »let-it-be« Oehler: hupende und wild fuchtelnde Autofahrer freundlich zurückgrüßen.

Auf wassergebunden Wegen in Wald und Feld bin ich relativ häufig unterwegs, meist mit recht hoher Geschwindigkeit. Ich kann mich nicht erinnern, dort jemals zu einem unerwartet scharfen Bremsmanöver gezwungen worden zu sein. Nächtliche Begegnungen mit galoppierenden Wildschweinen haben allenfalls Vertreter der motorisierten Fraktion zu befürchten.

Fazit

Im Bewusstsein der meisten Menschen ist die Technik motorisierter Fahrzeuge qualitativ höher einzustufen als die des Fahrrads. Einer Übertragung technologischer Entwicklungen stehen sie prinzipiell positiv gegenüber. Das Akronym »ABS« suggeriert Erfolg bei der Unfallverhütung. Tatsächlich haben Fahrradunfälle mit Bremsbeteiligung kaum Ähnlichkeit mit Unfällen von PKWs oder Motorrädern. Die Probleme sind nicht geringer, sondern anders.

Entsprechend der ungenannten Rangordnung wird der Lernprozess »Radfahren« recht nachlässig gehandhabt. Dagegen gilt Motorradfahren nach eigener Einschätzung geradezu als hohe Kunst. Folge: Die meisten Radfahrer haben richtiges Bremsen nie gelernt. Viele Unfälle sind auf Bremsfehler zurück zu führen - siehe hierzu auch den Anhang.

Auch bei einem ABS gilt: Für effektives scharfes Bremsen in Notsituationen ist es bei stabilen Untergründen notwendig, dass die Vorderradbremse statt der Rücktrittbremse benutzt wird und der Fahrer sich beidseitig kontrolliert am Lenker abstützt. Anders ausgedrückt: Die wichtigsten Ursachen für Bremsunfälle müssen erst beseitigt werden. Und die liegen zwischen beiden Ohren. Unsicheren und unerfahrenen Rad- oder Pedelec-Fahrern kann ein ABS nicht den Lernprozess ersetzen.

Pedelec-Fahrer bevorzugen eine aufrechte Sitzposition mit muskelentspannten Oberkörper und Armen. Ein schnelles Abstützen bei Notbremsungen ist nicht vorgesehen. Ein ABS kann bei derartigen Verhalten nicht unfallverhindernd reagieren. Wenn die Sorge um die Sicherheit tatsächlich vorrangig wäre, müsste der Gesetzgeber die Motorunterstützung des Pedelecs auf eine niedrigere Geschwindigkeit begrenzen (vgl. auch).

Für den erfahrenen Radfahrer ist eine elektronische Überschlagsicherung nur für seltene Grenzfälle interessant. Schließlich kann es jedem einmal passieren, dass er im Schreck zu stark bremst. Vielleicht wird einmal ein leichtes Steuerungsgerät angeboten, dessen hydraulische Entlastung durch einen Sensor für Lastverschiebung (Dehnungsmesstreifen) ausgelöst wird. Die namensgebende Anti-Blockier-Funktion ist ohnehin nur bei leicht beherrschbaren Fahrsituationen wirksam.

Unerfahrene und freizeitorientierte Radler sind selten auf rutschigen Böden unterwegs. Ein ABS kann kaum eine Hilfe bieten, weil es keine Auswirkung auf die Kurvenstabilität hat. Auf die notwendige konzentrierte Fahrweise kann und darf nicht verzichtet werden.

Sicheres Radfahren und effektives Bremsen ist erlernbar. Denen, die dazu nicht fähig/willens sind, andererseits unter chronischem Geldbeutelüberdruck leiden, ist angesichts des Aufwands (ABS mit Scheibenbremsen) eine grundsätzliche Lösung nahe zu legen: Trikes (=Liegedreiräder) sind attraktiv und inzwischen auch weit entwickelt.

Nachbemerkung

Just an dem Tag, als ich diesen Artikel begann, ist eine Straße weiter eine Verwandte meines Nachbarn auf ihrem Pedelec getötet worden. Die rammende PKW-Fahrerin hatte sie nicht gesehen – so die Zeitung. »Nicht sehen« oder »übersehen« ist die Standarderklärung, wenn Radfahrer überfahren werden: Wahrgenommen wird nur das, worauf man sich konzentriert. Solange die Fahrbahn als Terrain des Autos gesehen wird, wird das Fahrverhalten dem auch entsprechen. Die Prioritäten sind in Deutschland gesetzt, zuerst in der Verkehrsplanung.

Anders in den Niederlanden und im Großraum Kopenhagen. Dort ist eindeutig und ungeheuchelt das Radfahren gefördert worden, wobei pragmatisch ökonomische Ansätze eine wichtige Rolle spielen. Auch sie setzen auf den Radweg (worüber man streiten kann), aber die Unterschiede in der Gestaltung des Verkehrsraums sind mehr als deutlich.

Es ist anzuraten, sich dieses Video neben anderen ähnlichen aus der Röhre anzusehen – und sich dann die Frage zu stellen: Warum haben diese Radfahrer so wenig Unfälle, wenn ihr ganzes Verhalten und ihre technische Ausrüstung so gar nicht den Anweisungen und dringenden Ratschlägen entspricht, die bei uns so verbreitet sind? Sie widersprechen sogar den Prämissen, die hier vorangestellt sind: Mit den locker herabhängenden Armen ihrer bevorzugten Sitzposition ist eine Vollbremsung nicht möglich. Es besteht aber auch wenig Anlass: Es kommt zu selten vor.

Erst, wenn man darüber ausreichend meditiert und die Prioritäten klar ausgesprochen hat, kann man sich der Sicherheitstechnik der Fahrradausrüstung widmen.

Vorher nicht.

Zum Autor

Ralf Stein-Cadenbach, Dahlenburg, geb. 1952, Ingenieur für Maschinenbau/Konstruktion

Aus der Presseveröffentlichung »ABS für Pedelec-Fahrer« der Fa. Bosch

»… Zwei von der Bosch Unfallforschung durchgeführte Studien gelangen zum Ergebnis, dass sich mit einer Blockierverhinderung am Pedelec die Unfallquote senken ließe. In der ersten Studie untersuchten Forscher mehr als 500 Fahrradunfälle in Deutschland. Zentrale Erkenntnis: Mit dem richtigen Bremsverhalten ließen sich viele Unfälle vermeiden oder deren Folgen vermindern. Denn bei jedem fünften der untersuchten Fahrradunfälle erfolgte der Sturz schon vor der eigentlichen Kollision. Viele dieser Stürze sind auf ein falsches oder fehlendes Bremsverhalten zurückzuführen. Durch das ABS ist ein kontrollierteres und stabileres Abbremsen auch in kritischen Situationen möglich. Auch die zweite Studie, die auf Daten von mehr als 5.400 Fahrradkollisionen und -stürzen basiert, bestätigt, dass in bis zu drei von vier Kollisionen keine Bremsung erfolgte. Hier können ABS-Systeme Abhilfe schaffen …«

Anmerkung von Ralf Stein-Cadenbach

Mit einem Vorderrad-ABS sollen Bremsunfälle vermieden werden, wenn keine oder nur die Rücktrittbremse benutzt wird?

Beide Studien sind nicht veröffentlicht. Sie beziehen sich zwar auf Fahrräder, man kann aber davon ausgehen, dass das Bremsverhalten wohl ähnlich sein wird – leider mit einem Ergebnis, mit dem man nicht viel damit anfangen kann. Mein Eindruck: Die Hoffnung auf eine detaillierte Begründung für die Entwicklung eines ABS hat sich auch im zweiten Anlauf nicht erfüllt. Es gibt keine logische Verknüpfung zwischen der technischen Lösung auf der einen Seite und den Unfallverläufen auf der anderen.

Die verkehrsbedingten Ursachen bleiben ohnehin außen vor.

Ein Käufer dieses zukünftigen ABS investiert Vertrauen – und genau das ist das Pfund, mit der der Hersteller wuchern kann und muss: Denn der Erfolg wird weniger von der Technik abhängig sein als vom Verhalten des Nutzers: Er muss den Mut haben, endlich scharf zu bremsen.