Ausgabe 17 · Februar 2014

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80 Jahre Entwicklungsstillstand in der Fahrradindustrie

Eine leicht ketzerische und sehr persönliche Betrachtung der (Naben-)Schaltungsvarianten auf dem deutschen Markt

von Juliane Neuss

Bild 1: Explosionszeichnung einer Sachs-3-Gang-Rücktritt-Nabe aus den 60er Jahren.
Alle Zeichnungen dieses Artikels stammen aus Handbüchern und Broschüren der Firma Sachs, die Fotos stammen von der Autorin.

Mein Bericht hat keinen Anspruch auf historische Präzision, soll aber einen leicht lesbaren Einblick geben, was in den letzten hundert Jahren im Bereich der Schaltungstechnik passiert ist.

Mein erstes Fahrrad, 1968, war ein Klapprad mit einer Duomatic, weil unserer Eltern uns im Oberharz keine Fahrräder ohne Gangschaltung zumuten wollten. Danach kamen 3-Gang-Räder, 10-fach-Kettenschaltung mit Aufrüsten auf 12 Gänge, und später Rennrad, Faltrad und Liegerad. Ich habe die Entwicklung der Schaltungen auf dem deutschen Markt auch durch das ständige Reparieren von Nachbarschafts-Fahrrädern hautnah miterlebt. Mein Vater fuhr sogar ein »Tokaido« mit Frontfreilauf. Während meiner Zeit im Fahrradladen wurden die Erfahrungen dann durch die Probleme ergänzt, die die Kunden berichteten und 1998 war ich Teilnehmer im allerersten Workshop der Firma Rohloff (Montag früh, 9:00 Uhr in Hamburg). Barbara und Bernd Rohloff, gut vorbereitet auf alle Fragen aus dem Bereich des MTB-Sports, sahen sich plötzlich einem Haufen freakiger Alltags-Radfahrer gegenüber, die wissen wollten, ob die Nabe Tandem-, Liege- und Lastenradtauglich sei. Damit hatten sie (noch) nicht gerechnet.

Bild 2: Titelblatt des Handbuches über die 4-Gang-Nabe von Sachs

Warum 80 Jahre Entwicklungsstillstand? Die Rechnung ist ganz einfach: Nach meinem Kenntnisstand wurde im Jahre 1908 von Fichtel und Sachs eine 4-Gang-Nabe auf den Markt gebracht und die erste 5-Gang-Nabe (damals noch zweizügig) erblickte bei Fichtel&Sachs 1988 das Licht der Welt.

Tatsächlich, wenn man sich die Entwicklung der gängigen Nabenschaltungen anschaut, dann könnte es so aussehen, als ob sich in diesen 80 Jahre nichts getan hat. Für mich ist das symbolisch. Das sind 80 Jahre, in denen sich der Fahrradmarkt für die breite Masse scheinbar nicht verändert hat.

Bild 3: Anordnung der Hebelschaltung der 4-Gang-Nabe von Sachs

Die 4-Gang-Nabe wurde, weil zu teuer, ziemlich bald nicht mehr gebaut. 1925 kam die erste der bekannten Fichtel&Sachs-3-Gang-Naben auf den Markt, die in den nächsten Jahrzehnten mehrfach überarbeitet wurde. Auch eine echte, schaltbare 2-Gang-Nabe (nicht die Duomatik!) war noch bis in die 1950er Jahre zu haben. Den meisten Menschen waren Schaltungsnaben zu teuer. Die 4-Gang-Nabe dürfte Anfang des 20. Jahrhunderts ungefähr das Preisverhältnis der Rohloff gehabt haben. Doch nur sehr langsam kam ein Verständnis für Gangschaltungen auf. Das Fahrrad verlor dann allerdings rapide seine Bedeutung als Massenverkehrsmittel an die Autoindustrie und wurde erst nach der Ölkrise 1972/73 in bescheidenem Umfang wieder belebt. Anfang der 1980er Jahren (es zeichnete sich durch die beginnende Öko-Bewegung so etwas wie ein kleiner Fahrrad-Boom am Horizont ab) gab es an Rennrädern 10-gängige Kettenschaltungen, die sich aber nur mit etwas Übung schalten ließen, denn die Rasterung des Schalthebels war noch nicht auf dem Markt. Das Problem war aber bekannt, denn es gab mit der »Positron«-Schaltung schon erste, wenn auch einfache und wenig dauerhafte Lösungsversuche. Bei diesem, von Shimano in den unteren Qualitäten angesiedeltem System war die Indexierung im Schaltwerk verbaut, nicht wie bei späteren Systemen im Schalthebel.

Als die 5-Gang-Nabe 1988 den Dornröschenschlaf der Fahrradindustrie beendete, drängte bereits das Mountainbike mit deutlich verbesserter Kettenschaltung auf den Markt. Die gerastete Schaltung (z. B. SIS von Shimano) nahm vielen Menschen die Angst vor der »komplizierten« Kettenschaltung – um diese Kunden nicht an die Kettenschaltung nicht zu verlieren, musste etwas geschehen. Wer damals die 5-Gang-Nabe gefahren hat, weiß aber auch heute noch, wie anfällig die Ansteuerung mit den 2 Schaltzügen war. Auch der Schalter ging immer wieder kaputt; man kann ihn deshalb auch heute noch als Ersatzteil bekommen. Trotzdem war die 5-Gang-Nabe eine der am häufigsten gebauten Naben, denn sie gilt als eine der Wenigen als tauglich für Lastenräder und wurde besonders in Postfahrrädern eingesetzt. In England produzierte Sturmey Archer in der Zeit ebenfalls eine zweizügige 5-Gang-Schaltung, auch hier wurde von beiden Achsseiten aus geschaltet, aber SA hatte sich nicht die Mühe gemacht, einen entsprechenden Schalter zu entwickeln. Man schaltete mit zwei 3-Gang-Schaltern, wobei der eine links montiert verkehrt herum stand und auch nur eine Stufe schalten musste. Später wurde auch hier für die 5-Gang die einzügige Ansteuerung von einer Seite entwickelt.

Shimano hielt sich in dieser Zeit noch sehr zurück mit dem Nabenschaltungsbau. Es gab bereits in den frühen 80ern eine 3-Gang-Nabe, die über einen Hebelmechanismus auf der linken Nabenseite geschaltet wurde. Das Prinzip wurde dann aber aufgegeben. Alle anderen Naben, die Shimano später entwickelte, werden über eine Art Seiltrommel angesteuert. Damit blieb Shimano die empfindliche »Klickbox«, die von Sachs verwendet wurde, erspart.

Bild 4: 2-Gang–Nabe von Sachs Baujahr 1953

Bei Kunden im Fahrradladen konnte ich in den letzten 30 Jahren sehr gut die Akzeptanz von Schaltungen beobachten. Bei den meisten herrscht erst mal die Angst vor dem Hinterrad-Ausbau vor. Da ist zum einen die Kette (und womöglich die Erinnerung an einen geschlossenen Hollandrad-Kettenkasten) und dann noch die Schaltung mit einem Schaltkettchen, die man anschließend noch richtig einstellen musste. Also waren Schaltungsnaben »kompliziert«! Vielleicht war das auch nur eine Entschuldigung für »zu teuer«: Denn als die Kettenschaltung populär wurde, wurde diese oft auch als »kompliziert« abgewertet, wobei ja eigentlich der Ausbau des Hinterrades bei Kettenschaltung viel einfacher ist. Aber auch das Schalten der Kettenschaltung schien »kompliziert«, weil man sich mit zwei Schalthebeln zurecht finden und auch beim Schalten weiter treten musste. Es gab dann öfters mal hässliche Geräusche …

Eine Zwischenlösung hatte Ende der 1970er Jahren Shimano auf den Markt gebracht. Da das »Weitertreten« beim Schalten mit Kettenschaltung für 3-Gang-Gewohnte neu war, baute man einen Frontfreilauf in die Baugruppe Tretlager-Kettenblatt. Die Kette lief weiter, wenn man die Füße ruhig hielt und man konnte auf diese Weise trotzdem schalten. Durchgesetzt hat sich diese Technik nicht. Vor kurzem konnte ich aber auf der »Historischen Rennradbörse« in Rommerskirchen einen Händler überraschen, indem ich wusste, wofür dieser eigenartige starre Mehrfach-»FF«-Zahnkranz gedacht ist …

Als 1993/94 eine kombinierte Ketten-Nabenschaltung auf den Markt kam (Sachs 3×7), argwöhnten die meisten, dass man damit die Nachteile der Kettenschaltung (verschmutzungs- und wartungsanfällig) mit den Nachteilen der Nabenschaltung (schwer, komplizierter Einbau) kombiniert. Heute ist das System »Dual-Drive« mit 3×8 oder 3×9 Gangstufen auf dem Markt etabliert. Es füllt eine Lücke, wenn aus technischen Gründen nicht mehr als ein Kettenblatt montiert oder geschaltet werden kann. Die »Dual-Drive« wird gerne bei Falträdern und Sonderfahrzeugen eingesetzt.

Es hat den Anschein, dass die 5-Gang-Nabe 1988 den Weg für weitere Nabenschaltungen geebnet hat, denn die Einführung von 7-, 8-, 9-, 11- und 14-Gang-Naben stieß danach auf deutlich weniger Widerstand.

Bild 5: 5- und 8-Gang-Nabe von Shimano im Größenvergleich. Die 5-Gang-Nabe wird bisher nur im asiatischen Raum vertrieben

Auffallend war, dass letztes Jahr auf der Eurobike-Messe das Interesse an der Pinion-Schaltung (Getriebe im Tretlagergehäuse) am ehesten von Kunden kam, die bereits eine Rohloff-Schaltung fahren, also bereits hohe Gangzahlen und auch ein relativ hohes Preis- und Qualitätsniveau gewohnt sind.

Eine andere interessante Entwicklung im Bereich der Schaltungen hat mit der Gangzahl und dem verbauten Massen zu tun. Am Anfang scheuten die Kunden den hohen Preis, den die Naben aufgrund der aufwändigen Mechanik forderten. Spätestens bei der Einführung der 12-Gang von Sachs, 1996, zeigte sich, dass die bewegte Masse das Killer-Kriterium für die Akzeptanz von Nabenschaltung sein kann. Mit fast 3 kg Nabengewicht und entsprechend voluminöser Optik wurde die Elan-Nabe auch liebevoll »Waschmaschinen-Trommel« genannt. Sie wurde von der zeitgleich auf den Markt zustrebenden Rohloff-Nabe, die nur die Hälfte wog, aus dem Rennen geworfen, obwohl diese deutlich teurer war (was aber natürlich nicht der einzige Grund war!).

Was bei Kettenschaltungen in den letzten Jahren fast unbegrenzt funktionierte, war das Vermehren der Ritzelzahl durch immer schmalere Ketten und Ritzel, weil die Belastung im Rennbereich einigermaßen berechenbar ist und man Stahl eben doch zum Leichtbau verwenden kann. Ob bei 12 Ritzeln jetzt Schluss ist, wage ich zu bezweifeln. Bei den Kettenschaltungen hat die Vermehrung der Ritzel auf der Kassette kaum eine Gewichtszunahme gebracht, weil man den vorhandenen Platz und die bereits vorhandenen Massen einfach in kleinere »Scheibchen« aufteilte. Wenn man sich vorstellt, dass man 5fach-Ritzel noch mit einer breiten Nabenschaltungs-Kette fahren konnte …!

Parallel zu den zweistelligen Schaltungsnaben zeichnete sich auf Grund der Gewichtsproblematik eine andere Entwicklung ab, nämlich die, die Schaltung aus der bewegten Masse des Hinterrades heraus zu bekommen. Das ist nicht nur für gefederte Fahrräder von Bedeutung, sondern würde auch die Weiterentwicklung von geschlossenen Schaltsystemen weniger behindern. Schon die Verlagerung des Getriebes ins Tretlager in den 1990er Jahren (Mountain Drive-/Speed Drive- Getriebe von Schlumpf) zeigte in diese Richtung. Rohloff hat in meinen Augen den unglaublichen Spagat zustande gebracht, eine technisch annähernd perfekte Nabe zu einem annähernd akzeptablen Preis mit einem annähernd verträglichen Gewicht auf den Markt zu bringen. Sehr viel weiter wird man dieses Prinzip nicht ausreizen können. Entweder würde der Preis oder das Gewicht der Nabe eskalieren.

Der Vollständigkeit halber muss man natürlich noch die stufenlose NuVinci-Nabe erwähnen, die seit einigen Jahren ein eigenes kleines Marktsegment besetzt und die am individuellsten zu schaltende Nabe überhaupt ist. Da es keine vorgegebenen Gangstufen gibt, kann sich jeder seine persönlichen Lieblingsgänge entsprechend seiner Trittgewohnheit aussuchen. Der Nachteil könnte sein, dass man den Lieblingsgang nicht »festschreiben« kann, also jedes Mal auch ein bisschen probieren muss. Auch möchte ich noch auf die diversen Versuche hinweisen, Naben automatisch schalten zu lassen. Es gab bereits in den 50er Jahren eine Sachs-2-Gang-Nabe, die über Fliehkräfte geschaltet wurde, indem die Sperrklinken sehr groß und massiv ausgelegt waren und tatsächlich bei einer bestimmten Umlaufgeschwindigkeit der Nabe einen Schaltvorgang auslösten. Wie bei allen Automatik-Naben im Fahrrad-Bereich ist der Nachteil, dass sie erst schalten, wenn der Gang bereits dringend gebraucht wird, aber nicht vorher, wie es jeder normale Radfahrer zu tun pflegt. Daher hat sich die 4-Gang-Automatik von Shimano auch nicht durchsetzen können, obwohl sie ein gutes Mittel gewesen wäre, der weit verbreiteten »Schalt-Faulheit« im norddeutschen Flachland ein Ende zu bereiten.

Die Entwicklung von Schalt- und Getriebe-Systemen wird im Moment durch die Fokussierung auf die Entwicklung von elektrischen Antrieben überlagert oder verdrängt. Auch da werden sich neue Getriebe-Formen abzeichnen, die vielleicht sonst nicht erdacht worden wären.

Geschlossene Schaltsysteme für den rein mechanischen Antrieb werden meines Erachtens auch weiter an Bedeutung gewinnen. In den letzten Jahren gab es verschiedene Versuche, Nabenschaltungen als Zwischengetriebe zu verwenden, was besonders im Velomobil-Bau interessant geworden ist. Daher ist das »Pinion-Getriebe« (im Tretlagergehäuse) nicht nur etwas für »Freaks«, sondern es kennzeichnet den Anfang einer ganz neuen Denkweise im Fahrrad-Antriebsbau. In 10 bis 20 Jahren werden wir uns (hoffentlich) fragen, warum wir jemals mehr als 3 Gänge im Hinterrad untergebracht haben, statt sie vernünftig auszulagern.

Chronologie der Getriebeschaltungen
Baujahr Hersteller Ganganzahl
um 1900 Sachs 2
~ 1908 Sachs 4
ab 1925 Sachs 3
Sturmey-Archer
Shimano
60er Sachs 2 (Rücktrittsteuerung)
60er Sachs 2 (Automatik)
80er Sachs/Huret 2×3 (Ketten-Naben-Kombination)
1988 Sachs 5
Sturmey-Archer
90er Shimano 4 (Automatik)
~ 1993 Sachs 3×7 (Ketten-Naben-Kombination)
~ 1995 Sachs 7
1996 Sachs 12 (kein Erfolg)
1996 Rohloff 14
~ 1997 Shimano 7
~ 2005 Shimano 8
~ 2008 Sachs 9
~ 2009 Shimano 11
~ 2009 NuVinci Stufenlos
2011 Pinion 18 (Tretlagerschaltung)
2012 Shimano 5 (nur in Asien)

Zur Autorin

Juliane Neuß, von Beruf Technische Assistentin für Metallographie und Werkstoffkunde. Ihre Berufung: Fahrradergonomie. Betreibt seit 1998 nebenberuflich die Firma Junik-Spezialfahrräder und Zubehör, hat 6 Jahre lang die Filiale eines Fahrradladens in Hamburg geleitet und schreibt regelmäßig die »Tech Talks« für die Radwelt (ADFC). Lebt autofrei mit 8–12 Fahrrädern und 8 bis 10 Tkm pro Jahr.