Ausgabe 29 · Oktober 2019

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Wider den Konsum

von Robert Niestroj-Pahl

Ich ärgere mich immer öfter darüber, wie das Fahrrad in den Medien mehr und mehr zum Objekt für Technikschwärmereien wird. Es geht oft nur darum, welche Scheibenbremse nun die beste ist oder welche neue Carbonfelge welche Eigenschaften besitzt. Mit den steigenden Verkaufszahlen für E-Bikes wird dies weiterhin zunehmen und ohne Batterien geht beim E-Bike ja fast nichts mehr. Es ist fast alles Mikrochip-gesteuert. Die »Fixies« sind dagegen ein angenehmer Gegenpol, die Reduktion auf einen Gang und möglichst wenig komplizierte Technik.

Die eigentliche Tätigkeit des Fahrradfahrens wird beim Technikgeplauder jedoch völlig unter den Tisch gekehrt. Das freie Gefühl, dahinzugleiten, die mühelose Geschwindigkeit (zumindest auf geraden Strecken) und die Ungezwungenheit, mit der man unterwegs ist. Schneller als zu Fuß, flexibler als mit dem Auto. Das Fahrrad dient als Transportmittel, als Mobilitätsbeschleuniger oder als reines Genussmittel. Mir ist es dabei egal, ob ich auf einem 10.000-Euro-Rennrad sitze oder auf Omas altem Drahtesel. Es ist ein geniales Fortbewegungsmittel gerade in der Stadt.

Richard Löwenherz, ein Berliner Weltreisender und Russland-Spezialist (lonelytraveller.de) reiste bis vor kurzem etwa mit einem 25 Jahre altem Mountainbike, welches er sich als Schüler zur Jugendweihe gekauft hat. Damit fuhr er über 100.000 km, durch Sibirien im Winter (bis -37°C) über die Pässe des Pamir oder durch Steppen in Zentralasien. Gründe dafür waren pragmatischerweise Geldmangel und auch weil es einfach funktioniert hat und überall reparierbar ist. Man braucht also durchaus kein High-Tech um richtige Abenteuer zu erleben! Nicht das Gefährt zählt, sondern die Erlebnisse auf der Reise.

Ich bin in Berlin geboren und aufgewachsen und habe immer hier gelebt, jedoch wird es langsam immer mehr zum Problem, dass sich mit den steigenden Mieten auch die zur Verfügung stehenden monetären Einheiten verringern. Sprich: man gibt eigentlich alles Geld für Miete und Nahrung aus und lebt von der Hand in den Mund. Die Arbeit wird jedoch immer noch schlechter bezahlt als im Süden der Republik. Autos fressen Benzin (und damit auch Geld), zerstören das Klima und Parkplätze gibt es sowieso immer weniger. Der öffentliche Nahverkehr ist auch nicht umsonst (wie in einigen anderen europäischen Städten), also ist das Fahrrad eine gute und preiswerte Alternative um die täglichen Wege zu erledigen. In meinem Fall auch den Weg zur Arbeit von 14 km pro Strecke.

In diesem Artikel möchte ich beschreiben, wie ich ohne viel Geld auszugeben zu einem wunderbar klassischen, bequemen Fahrrad gekommen bin, mit dem ich mich durch den Berliner Verkehr bewegen kann. Es hat das »Dahingleiten«, welches ich oben beschrieben habe. Und: Ich habe mir mit meinen eigenen Händen ein Unikat gebaut!

Dafür habe ich mir ein Fahrrad vom Schrott geholt. Überall in Berlin stehen »Fahrradleichen« herum. Bitte nehmt keine Teile von angeschlossenen Rädern, denn obwohl noch so vergammelt wäre das Diebstahl wenn man euch erwischt. Einfach mal aufmerksam durch die Stadt gehen, ich habe schon alte Fahrräder, total überwachsen aus Gebüschen gezogen und habe Teile davon wiederverwendet! Vielleicht gibt es auch im Verwandten- und Bekanntenkreis Leute, die noch ein altes, fast fahrbereites »Oma-Rad« im Keller zu stehen haben?
In meinem Fall hatte meine Wohnungsbaugesellschaft den Hof von angeschlossenen und schon mehrere Jahre vor sich hin rostenden Fahrradleichen befreit und stellte diese für einige Tage zur freien Verfügung ab. Dort schlug ich dann zu und stellte mir aus ungefähr drei Teilespendern ein komplettes Fahrrad zusammen. Einige Teile musste (und wollte) ich kaufen, dank Internet gibt es aber zig günstige Quellen für gebrauchte und neue Teile.

Schutzbleche und Gepäckträger waren noch erhalten. Hinterradfelge mit Rücktrittnabe, Kettenblatt mit Kurbel und Pedalen kamen von einem alten DDR-Damenfahrrad von MIFA. Der Kettenschutz und die vordere Felge kamen von einem dritten Rad.
Alles was ich gekauft habe waren ein Sattel, ein gebrauchter Nabendynamo und Lampen. Als Kleinteile Gummigriffe für den Lenker (Marke Billo), eine Kette, und Speichen. Schläuche wurden die dreimal geflickten aus einem anderen Fahrrad verwendet.
Dies wurde alles zusammengebastelt und ich habe so Einiges gelernt. Alle Lager wurden gereinigt und geschmiert, die Rücktrittnabe gewartet und einige Speichen getauscht. Eine große Hilfe war mir dabei Christian Kuhtz Heft »Rad kaputt« aus der Reihe „Einfälle statt Abfälle“, von denen ich auch die anderen Hefte mit Anleitungen empfehlen kann.

Rahmen

Den Kern bildet ein alter Gazelle-»Gelria«-Rahmen mit einem typischen Hollandradlenker. Den Rahmen erst einmal auf Risse oder starken Rost prüfen. Einem Rahmen mit Rissen oder verbogenen Rohren sollte man nicht trauen. Dann reinigen mit einem Lappen mit Wasser und Spülmittel.
Falls der Rahmen von innen sehr verrostet ist, kann man Leinöl hineinlaufen, den Überschuss herauslaufen und das ganze einige Tage trocknen lassen. Das stoppt die Bildung von weiterem Rost. Rost außen am Rahmen kann man entweder so lassen oder abschmirgeln und mit Rostschutz überstreichen. Es kommt darauf an, ob das Rad meist draußen im Regen steht oder in einem trockenen Keller. In meinem Fall stelle ich das Fahrrad im Keller unter, daher lasse ich diese Stellen vorerst in Ruhe und beobachte, ob sich der Rost ausbreitet.

Lager

Bewegt sich alles leichtgängig? Wenn nicht: aufschrauben, Lager reinigen und fetten. Häufiger Fehler: Auf die richtige Richtung des Kugelkäfigs achten; die »geschlossene« Seite muss zum Konus zeigen. Sind die Konen und Lagerschalen intakt oder haben sie Rillen? Dann austauschen. Kugellagerfett ist nicht unbedingt nötig, ein Mehrzweckfett tut es auch. Grundsätzliche Regel: Alle Schrauben und Gewinde fetten, dann löst sich bei einem späteren Auseinanderbauen alles wieder gut.

Gangschaltung oder Rücktrittnabe

Hat das Rad eine Ketten- oder Nabenschaltung? Oder gar eine einfache Rücktrittnabe? Die alten Torpedo-Rücktrittnaben von Fichtel&Sachs (hießen in der DDR »Renak«, sind aber baugleich) sind eigentlich unkaputtbar und leicht zu reinigen und zu zerlegen. An Schaltnaben habe ich mich noch nicht versucht, Christian Kuhtz hat aber auch dazu gute Anleitungen geschrieben. Eine Kettenschaltung bietet mehr Gänge, verrottet aber auch schneller.

Bild 1: Die Renak-Rücktrittnabe

In meinem Fall habe ich eine einfache Renak-Rücktrittnabe verwendet. Ausgebaut, gereinigt und geschmiert und zusammen mit einer neuen Kette fährt sich diese Nabe völlig problemlos. Und ich liebe inzwischen die Einfachheit, um das Schalten muss ich mir keine Sorgen mehr machen.
Die meisten Ritzel, außer die ganz alten Schraubritzel, sind mit Eingang- oder Schaltnaben kompatibel. Man erkennt sie an den drei »Nasen«.

Durch ausprobieren bin ich auf eine optimale Zahl von 17 Zähnen am Ritzel gekommen. In Kombination mit dem 48-Zähne-Kettenblatt ist die Übersetzung für mich am angenehmsten. Ein Gang reicht im Berliner Flachland vollkommen, einzig wenn man mal einen Fahrradanhänger ziehen will könnte das zum Problem werden.
Ritzel kann man sich auch vom Schrott holen oder auch bei eBay ersteigern. Originale Ritzel für DDR-Naben gibt es als »New Old Stock« (NOS) bei radgeber-brieselang.de.

Bremse

Ein sicheres Fahrrad benötigt zwei unabhängig voneinander funktionierende Bremsen. Besonders die Rücktrittbremse kann auch ausfallen – falls die Kette plötzlich reißt, kann auch nicht mehr gebremst werden.
Daher habe ich aus dem alten MIFA-Fahrrad eine einfache Felgenbremse angebaut (eine »Rasant Typ 200«). Bremsklötze hatte ich noch herumliegen. Ist das Vorderrad gut zentriert und die Bremse richtig eingestellt, zeigt sie eine ziemlich gute Bremswirkung.

Bild 2: Rahmen und Bremse von vorn.

Kettenblatt und Kurbeln

Am Kettenblatt sollte man kontrollieren, ob die Zähne noch keine »Haifischzähne« sind, sondern annähernd dreieckig. Es sollten auch keine Zähne ausgebrochen sein.

Bild 3: Ein schöner alter Kettenschutz, komplett aus Metall.

Reifen und Schläuche

Kleine Risse in der Flanke sind nicht schlimm, problematischer ist ein gerissener Draht. Selbst der lässt sich aber notfalls reparieren.
Die Schläuche sind meist durch die Reifen gut geschützt und können noch viele Male geflickt werden. Durch Glück kam ich zu mehreren guten Reifen: Zum einen verschenkte ein Fahrradladen gebrauchte Reifen, die von Kundenfahrrädern gewechselt wurden. Das andere Mal lehnte an einer Mülltonne ein halbes Dutzend wenig gefahrener Reifen, aus denen ich mir drei sehr gute herausgesucht habe. So ein etwas abgenutzter Schwalbe Marathon kann gut und gerne noch einige Tausend Kilometer fahren bis gar nichts mehr geht. Immer mal nachfragen bei Fahrradläden, oft verschenken sie ausgewechselte Verschleißteile, die sie eh nur wegwerfen würden!

Felgen und Speichen

Die Felgen auf Risse prüfen und, falls eine Felgenbremse vorhanden ist, die Bremsflächen reinigen. Sind die Speichen sehr verrostet, können sie schnell brechen, dann lieber austauschen. Einzelne Speichen auszutauschen bringt meist nicht viel, dann bricht bald die nächste. Also lieber komplett gegen neue austauschen. Im Internet gibt es Standard Edelstahl-Speichen für 7 € für 38 Stück. Eine sehr gute Anleitung zum Einspeichen von Felgen findet sich bei Sheldon Brown.
Nur Mut, es ist nicht so schwer, wie man es sich vorstellt! Mit etwas Geschick und Geduld klappt das!

Sattel und Sattelstütze

Ich habe mir nach langem Überlegen einen Brooks B17-Sattel gekauft, der einzige Luxus, den ich mir erlaubt habe. Auf lange Sicht rechnet sich diese Anschaffung jedoch, denn dieser Sattel hält bei richtiger Pflege Jahrzehnte. Falls weniger Geld ausgegeben werden soll: Auf den Fahrradleichen sind meist auch noch Sättel drauf. Risse können mit Gewebeklebeband geklebt werden, falls er zu hart ist kann eine Schaumstoffunterlage darauf und eine Pastikhaube darüber gestülpt werden.
Die Sattelstütze sieht sehr verrostet und gebraucht aus, tut aber ihren Dienst.

Bild 4: Sattelstütze mit Patina :-)

Pedalen

Die meisten Pedalen haben heute gekapselte Lager (schon seit etwa den 1950ern), das bedeutet, man kann Kugeln, Konen und Lagerschalen nicht mehr komplett auseinandernehmen. Falls etwas knarzt oder klappert hilft es manchmal, mit einer Spritze etwas Fett zwischen Konus und Achse zu quetschen. Die an meinem Fahrrad verbauten sind leider auch gekapselt.

Licht

Einen einfachen, gebrauchten Nabendynamo habe ich für 15 € bei den Kleinanzeigen ergattert und in die bestehende Felge eingespeicht. Die Speichen müssen durch die geänderte Nabe kürzer sein; die richtige Länge habe ich mit einem Speichenrechner im Internet ausgerechnet.
Ein Seitenläuferdynamo wäre die klassische Wahl gewesen, da ich aber den ganzen Winter hindurch fahre, ist ein Nabendynamo sicherer und hat mehr Laufruhe. Ein sicheres und ausreichend helles Lichtsystem ist wichtig im Berliner Stadtverkehr, besonders in der Dämmerung und im Winter. LED-Leuchten leben länger und sind für Nabendynamos gemacht. Daher habe ich mich für die Busch und Müller »Classic«-Leuchte entschieden, die zum restlichen Fahrrad passt. Die Lampe bietet auch ein gutes Preis-Leistungsverhältnis.

Bild 5: Der Nabendymano, fertig eingespeicht und verkabelt.

Schutzbleche und Gepäckträger

Sehr stabil, original und aus Stahlblech. Wenn die Schutzbleche gut festgeschraubt sind, klappert hier nichts. Eine Daumenregel lautet: Nichts sollte klappern, wenn man das Fahrrad aus etwa 30 cm Höhe fallen lässt.
Wenn die Gepäckträgerfedern ausgeleiert sind, kann man sie übrigens auch nachziehen. Oder austauschen von einem anderen Gepäckträger.

Bild 6: Das fertige Rad!

Inzwischen habe ich ein großes Sammelsurium an gebrauchten Teilen und immer wenn etwas kaputt geht kann ich es umgehend tauschen oder reparieren.
Ich kann damit als Fazit sagen, dass ein Fahrrad eigentlich nichts (oder kaum etwas) kosten muss. In der Großstadt kann man – mit etwas Geduld – fast alle Teile für ein komplettes Rad finden. Man muss nur Lust am Schrauben und Basteln haben.
Den Abschluss bildet eigentlich nur noch die Taufe: Meine Fahrräder bekommen einen Namen! Das aus bunt zusammengewürfelten Teilen gebaute Stahlross heißt jetzt: »Crazy Horse«. Vielleicht bekommt es auch noch eine Kriegsbemalung.

Christian Kuhtz

Bild 7: Titelseite des Werkes »Rad kaputt«

Der geniale Tüftler, Erfinder und Recyclingenthusiast lebt in Kiel und veröffentlicht seit über 40 Jahren Bau- und Reparaturanleitungen in seiner »Einfälle-statt-Abfälle«-Reihe. Er lebt in einem Haus welches nur mit Holz und Sonnenwärme geheizt wird und 12V-Strom aus einer (natürlich selbstgebauten) Windkraftanlage bezieht. Er besitzt weder Computer noch Telefon und ist nur per Post oder eben persönlich zu erreichen. Neben den Fahrrad-Reparatur und Eigenbau-Heften gibt es auch Anleitungen zum Bau von Sonnenkollektoren oder Windrädern, meist alles aus Schrott und wiederverwerteten Teilen. Aber auch Anleitungen zum Bau von Wärmetauscher-Heizungen für ganze Häuser, energieeffizient und nur mit Holz befeuert. Die Hefte sind detailreich und schön bebildert, alles handgezeichnet und mit einer Prise Humor versehen.

Zum Autor

Robert Niestroj-Pahl. In randomisierter Abfolge: Utopist, Familienvater, Berliner, Fahrradverrückter, Ingenieur, Humanist, Draußen-Leber, Umweltschützer, Helmträger.