Ausgabe 20 · Juni 2015
Diesen Artikel als PDF
Tobis Fahrradgeschichten
Erinnerung: Flüchtlingsgeschichten, verbotenes Radfahren und Anne Frank
Dieser Text wurde ursprünglich auf Tobias Krölls Blog Tretmühle im Mai 2015 veröffentlicht.
Erinnerungszentrum Kamp Westerbork
Diese »Fahrradgeschichte« ist etwas nachdenklicher gehalten. Bei der Arbeit in einem Fahrradladen wird man manchmal unwillkürlich auch mit Geschichte konfrontiert. In meinem Fahrradladen freue ich mich immer, wenn ich KundInnen aus den Niederlanden habe (Diese wiederum wundern sich, in Süddeutschland einem niederländisch sprechenden Fahrradmechaniker zu begegnen). So kam im vergangenen Oktober eine niederländische Studentin aus dem Wohnheim nebenan vorbei. Sie hatte ein praktisches Gazelle-Stadtrad. Auf dem Kettenschutz stand »Herinneringscentrum Kamp Westerbork«. Nun muss ich zugeben, dass ich mich zwar mit den Schandtaten der deutschen Besatzer in den Niederlanden ein bisschen beschäftigt hatte, aber die Namen von Orten aus der Infrastruktur des Wahnsinns waren mir nicht geläufig. Da ich etwas Zeit hatte recherchierte ich im Internet. Kamp Westerbork in der niederländischen Provinz Drenthe wurde vor allem als Durchgangslager für die Deportation niederländischer Juden und sich in den Niederlanden aufhaltender deutscher Juden bekannt (siehe bei Wikipedia: Durchgangslager Westerbork). Heute ist an diesem Ort ein Erinnerungszentrum eingerichtet. Dort kann man auch Fahrräder leihen und das Gelände mit Umgebung erkunden.
Die Studentin hatte das Rad gebraucht gekauft. Ich nehme an, dass es eine Zeit lang in Kamp Westerbork im Einsatz war und dann routinemäßig durch ein neues Fahrrad ersetzt wurde und so auf den großen niederländischen Gebrauchtfahrradmarkt kam.
Das Durchgangslager Westerbork hatte eine Vorgeschichte als Flüchtlingslager, so ist es auf der Webseite des Erinnerungszentrums zu lesen. Nach der Machtergreifung Hitlers flohen viele Juden ins Ausland. Bis zum Beginn des zweiten Weltkriegs wurden in den Niederlanden lediglich 10.000 Flüchtlinge aus Deutschland aufgenommen. Andere kamen illegal ins Land. Die Regierung wollte eigentlich kein Geld für die Flüchtlinge ausgeben, alle Unterstützungs-Initiativen kamen von privater Seite. Die Flüchtlinge wurden von einem Lager ins andere verschoben. Ständig mussten die Koffer bereitstehen. Die Obrigkeit sah aber langsam ein, dass es so nicht weitergehen konnte. Der große Zustrom jüdischer deutscher Flüchtlinge und die mangelhafte Versorgung der Flüchtlinge in den Niederlanden brachte die niederländische Regierung dazu, die Planung für ein zentrales Flüchtlingslager aufzunehmen. Eine Lösung schien in Sicht, als ein Flüchtlingslager in Veluwe (dem größten zusammenhängenden Waldgebiet der Niederlande in der Provinz Gelderland) in der Gegend von Elspeet ins Auge gefasst wurde. Doch Anwohner protestierten gegen das geplante Lager. Letztlich ausschlaggebend war aber der Protest von Königin Wilhelmina. Ihr Sekretär ließ Innenminister Van Boeyen wissen, dass ein geplantes Flüchtlingslager in der nächsten Umgebung des königlichen Palastes t’ Loo nicht mit »königlicher Zustimmung« rechnen könne. So richtete die Regierung den Blick nach Drenthe, wo bei Westerbork ein größeres Stück nicht erschlossenen Landes lag – einsam, wild und öde: »ideal für ein Flüchtlingslager«. So wurde Kamp Westerbork von August 1939 an als zentrales Flüchtlingslager ausgebaut und ab dem 9. Oktober kamen die ersten Flüchtlinge an.
Radfahren verboten
Am 10. Mai 1940 begann der Angriff der deutschen Wehrmacht auf die Niederlande, die darauf überhaupt nicht vorbereitet waren. Am 14. Mai ließ Hitler Rotterdam bombardieren und drohte Utrecht mit dem gleichen Schicksal, woraufhin Oberbefehlshaber General Winkelmann am frühen Morgen des 15. Mai 1940 beschloss, zu kapitulieren. Für den Fall eines deutschen Angriffs hatten die jüdischen Flüchtlinge geplant, nach England auszureisen. Ein Evakuierungsplan wurde aufgestellt, aber im Chaos konnte dieser nicht durchgezogen werden und die Flüchtlinge wurden bei Zwolle aufgehalten, weil eine Brücke gesprengt war. Manche kamen bei Verwandten unter, andere wurden auf Geheiß der Regierung wieder in Kamp Westerbork untergebracht. Im Justizministerium wurde beschlossen, alle bei der Flucht gescheiterten Juden dorthin zurück zu bringen. Nach deren Rückkehr war es mit der Freiheit vorbei. Grenzschilder wurden an den Grenzen des Landstücks aufgestellt. Der neue Kommandant J. Schol nahm die Überwachung des Lagers sehr ernst. Morgens und mittags wurde zum Appell gerufen, die Briefzensur wurde verschärft und Radfahren wurde verboten. Immerhin bestand auf der anderen Seite für die Flüchtlings-Kinder noch Schulpflicht.
»Stadt in der Heide«
Als aber die Nazis Anfang 1942 die systematische Vernichtung der Juden beschlossen, hatte dies auch Folgen für das Lager Westerbork. Es wurde um eine große Zahl kleinerer Baracken erweitert. Am 1. Juli 1942 wurde das Lager in »Polizeiliches Durchgangslager« umbenannt. Die deutsche Sicherheitspolizei übernahm die Lagerleitung. Lagerleiter Gemmeker benahm sich als absoluter Herrscher und sorgte für ein reibungsloses Funktionieren des Durchgangslagers. Die interne Bewachung war Sache der jüdischen Gefangenen. Das Leben im Lager sollte normal erscheinen. Es wurde sogar »Stadt in der Heide« genannt. Normalität wurde im wahrsten Sinne vorgegaukelt: In Westerbork entstand zu dieser Zeit – ohne Übertreibung – vom Niveau des Programms und der Auftretenden her das beste Kabarett der Niederlande. Sportwettkämpfe, Theateraufführungen und Konzerte wurden organisiert. Andererseits wurde im Lager alles darauf ausgerichtet, bei den Flüchtlingen den Eindruck zu erwecken, sie würden bald in Arbeitslager nach Osteuropa geschickt werden. »Das Leben dort sollte hart und eintönig werden, aber immerhin ein Leben sein«. Familien sollten zusammen bleiben, so die Informationen. Manche Flüchtlinge ahnten jedoch, was ihnen drohte, aber dass ihnen das Schlimmste bevorstand, glaubten die wenigsten.
Der Ausgang ist bekannt. 93 Züge fuhren von Kamp Westerbork in Richtung der osteuropäischen Vernichtungslager. Nachdem Anne Frank und ihre sieben mit ihr in der Amsterdamer Prinsengracht versteckten Leidensgenossen verraten worden waren, wurden sie am 8. August 1944 in einem Personenzug nach Kamp Westerbork gebracht. Da sie sich nicht freiwillig gemeldet hatten, wurden sie in »Strafbaracken« untergebracht. Von dort wurden sie dann nach Osteuropa deportiert.
Im März 1945 starben erst Anne Franks Schwester Margot und ein paar Tage später Anne Frank im Konzentrationslager Bergen-Belsen, wo verschiedenste Krankheiten und Epidemien ausgebrochen waren – einen Monat vor Befreiung des Lagers durch britische Truppen.
Anne Frank und heutige Flüchtlinge
Im Februar reiste ich dieses Jahr routinemäßig in die Niederlande, um das neue Fahrradprogramm meines Hauptlieferanten zu besichtigen und auch um Fotos für meine Webseite zu machen. Am 15. Februar besuchte ich mit meiner Tochter das empfehlenswerte Amsterdamer Tropenmuseum. Hier wurde ich unwillkürlich mit der Flüchtlings-Gegenwart konfrontiert. Hinter einer Glasscheibe ist dort eine Modell-Wüstenstadt aufgebaut. Wenn das Modell verdunkelt ist, kann man auf Knöpfe drücken, die für verschiedene Teile der Stadt stehen, wie den Basar oder das Neubauviertel, die dann jeweils beleuchtet werden. In kleiner Schrift stand am Rand des Modells »Aleppo« … Dort ist buchstäblich das Licht ausgegangen.
Am Folgetag, dem 16. Februar in Amsterdam reisten wir mit Zwischenstation beim Fahrradhersteller Azor in Hoogeveen zurück nach Deutschland. Zufälligerweise wäre dies der 89. Geburtstag von Anne Franks älterer Schwester Margot Betti gewesen. Am Anne Frank Haus in der Prinsengracht war an diesem Tag schon wieder ab dem frühen Morgen eine lange Warteschlange.
Mit über 1,2 Millionen Besucherinnen und Besuchern verzeichnete das Museum im Jahr 2014 einen neuen Besucherrekord. Ein kleiner Tipp für Amsterdam-Reisende: Wer es besuchen möchte, muss sich auf lange Wartezeiten einstellen, oder den Besuch am Abend ab etwa 18 Uhr einplanen. Dann wird es meist etwas ruhiger.
Zum Autor
Tobias Kröll, Jahrgang 67, Fahrradmechaniker und Sozialwissenschaftler, betreibt einen kleinen Fahrradladen in Tübingen. Daneben engagiert er sich für einen sozialökologischen Umbau der Gesellschaft und ist Mitglied im Institut Solidarische Moderne.