Ausgabe 14 · April 2012

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Notwendigkeit von Fahrradhelmen

Ist Radfahren wirklich so gefährlich?

von Wolfgang Strobl

»Radfahren ist gefährlich, man sollte sich als Radfahrer schützen, wo man kann. Ein Fahrradhelm ist obligatorisch, selbst wenn man nur Brötchen holen fährt, denn auch da kann man stürzen oder von einem Auto angefahren werden. Wenigstens Kinder sollten auf jeden Fall zum Helmtragen gezwungen werden.« So oder so ähnlich liest man es in zahllosen emotional gefärbten Texten zum Thema oder hört es in Diskussionen. Es klingt überzeugend. Aber – trifft es auch zu? Stimmen die Annahmen, die da gemacht werden und sind die Schlußfolgerungen richtig?

Schau’n wir doch mal. Es gibt da nämlich ein paar offene Fragen:

  • Ist Radfahren wirklich so gefährlich? Gefährlicher als andere Aktivitäten?
  • Gibt es nur eine Gefahr, oder unterschiedliche? Wie groß sind die im Einzelnen? Unüblich groß?
  • Wer verursacht die Gefahr, wer hat sie zu verantworten, wer kann sie abstellen?
  • Warum ausgerechnet Radfahrer? Kommen andere Verkehrsteilnehmer nicht ums Leben?
  • Kann ein Sturzhelm helfen, wo Knautschzone, Gurt und Airbag versagen? Warum heißt ein Sturzhelm Sturzhelm?
  • Wenn schon Sturzhelme – warum dann für Radfahrer? Sind es die Radfahrer, die vornehmlich durch Stürze ums Leben kommen und an Kopfverletzungen sterben?
  • Steigt das allgemeine Lebensrisiko, wenn jemand normal gekleidet Rad fährt, statt denselben Weg in derselben Kleidung per Kfz oder zu Fuß zurückzulegen?
  • Sinkt das allgemeine Lebensrisiko, wenn der Behauptung »Fahrradhelme sind notwendig« geglaubt wird? Was hat das für Folgen und was haben diese Folgen zur Folge?

Wenn man all diese Fragen sorgfältig und korrekt untersucht und beantwortet, bleibt im Grunde nur eine Frage offen: Warum sind Fahrradhelme nicht verboten? Eine einfache Antwort auf diese Frage wäre: Weil es eine Sache der persönlichen Freiheit ist – auch der Gebrauch von Hasenpfoten ist erlaubt. Eine etwas kompliziertere Antwort ergäbe sich entlang der Regel »follow the money«. Aber das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll …

In diesem Artikel wollen wir zunächst nur die erste Frage untersuchen. Vergessen wir darüber aber nicht, daß auch die Frage der Wirksamkeit zur Debatte steht und vermutlich negativ zu beantworten ist.

Ist Radfahren wirklich so gefährlich? Gefährlicher als andere Aktivitäten?

»Keine Entwarnung für Radfahrer und Fußgänger« übertitelt die DEKRA ihre Pressemitteilung vom 15.4.2011 zum Verkehrssicherheitsreport 2011 und schreibt einleitend (Zitat):

  • EU-weit sind Fußgänger und Radfahrer innerorts am meisten gefährdet
  • 2010 kamen in Deutschland 895 Fußgänger und Radfahrer ums Leben
  • Großes Unfallvermeidungspotenzial durch höhere Sicherheitsstandards

Sie begründet dies u. a. mit (Zitat):

In der EU haben Fußgänger und Radfahrer das zweithöchste Risiko im Straßenverkehr getötet zu werden – hinter Fahrzeuginsassen.

Auch die obligatorische Forderung nach »Erhöhung der Fahrradhelmtragequote« fehlt hier nicht. Da muß aber die Idee aus einem alten Standard-Witz Pate gestanden haben: »A und B laufen um die Wette. A gewinnt. Die Presse schreibt: B wird Zweiter, A nur Vorletzer«. Fakt ist nämlich:

  • In Deutschland stellen die Benutzer von Pkw die mit Abstand meisten Verkehrstoten
  • Nach den Pkw-Benutzern (1.840 getötete Benutzer), den Fahrern von motorisierten Zweirädern (635 Getötete) und Fußgängern (476 Getötete) stellen die Radfahrer mit 381 die kleinste einzelne Gruppe.
    (Quelle: Statistisches Jahrbuch 2011 für die Bundesrepublik Deutschland, Kapitel 16)
  • Die motorisierten Zweiräder produzieren am Bestand gemessen das größte Risiko für seine Nutzer: Auf eine Million Fahrzeuge kamen im Jahr 2010 in Deutschland siebzehn Tote bei den Motorradfahrern, weniger als vier Tote bei den Fahrern von Zweirädern mit Versicherungskennzeichen und noch nicht einmal ein Todesfall bei den Radfahrern. Die besonders gefährdeten Verkehrsteilnehmer sind in der DEKRA-Risikobetrachtung also ausgeklammert.
    Bild 1: Getötete Zweiradfahrer nach Fahrzeugart pro 1 Million Fahrzeuge 2010
    Quelle: Verkehrsunfälle, Zweiradunfälle im Straßenverkehr 2010, Statistisches Bundesamt 2011, Bestandsschätzung des ZIV und eigene Berechnungen
  • Der durchschnittliche Besitzer eines Motorrades hatte 2010 verglichen mit dem durchschnittlichen Fahrradbesitzer also ein gut dreißig mal so hohes Risiko, im Straßenverkehr ums Leben zu kommen. Sogar bei den gedrosselten Zweirädern mit Versicherungskennzeichen (Mofa, Moped) lag das Risiko noch sechs mal so hoch wie bei Fahrrädern mit Muskelantrieb.

Die richtige Antwort lautet also: Nein, Radfahren ist viel sicherer als andere alltägliche Weisen der Fortbewegung.

Die Prioritätensetzung der DEKRA ist, vorsichtig ausgedrückt, befremdlich. Mangelndes Faktenwissen kann es nicht sein. Denn in einer schon etwas älteren, nur noch per Suchmaschine auffindbaren Pressemitteilung hieß es (Zitat):

Junge Autofahrer tragen mit Abstand das größte Unfallrisiko. Im Jahr 2008 gehörten in Deutschland rund 20 Prozent aller im Straßenverkehr Getöteten der Altersgruppe 18 bis 24 Jahre an. Dabei beträgt der Anteil dieser Gruppe an der Gesamtbevölkerung nur 8,3 Prozent.

Warum keine Helme für junge Autofahrer?

Anders als bei den Radfahrern, von denen ganz pauschal das Helmtragen verlangt und für die zwischen den Zeilen auch eine Helmpflicht gefordert wird, verzichtet man bei jungen Autofahrern ohne Not völlig auf entsprechende Vorschriften oder Empfehlungen zum Tragen einer ungewöhnlichen Schutzkleidung wie z. B. Schutzhelmen. Man beschränkt sich stattdessen auf ein harmloses »Bündel von Maßnahmen«, welches auf früheren Umstieg auf motorisierte Fahrzeuge sowie auf Ausbildung und Prävention hinausläuft: Führerschein mit 17, Maßnahmen gegen Alkoholfahrten. Die Förderung des eigenen Geschäfts (Kurse, »Safetycheck für ältere Fahrzeuge«, das »vorgeschriebene Sicherheitstraining«) steht aber an erster Stelle.

Festzuhalten ist hier jedenfalls, dass trotz des offenbar sehr hohen Unfallrisikos junger Autofahrer ein zusätzlicher Schutz durch einen Helm für so entbehrlich gehalten wird, dass dies nicht einmal zur Diskussion gestellt wird oder sogar eine entsprechende Empfehlung abgegeben würde. Dabei wäre es so einfach: Anders als bei Radfahrern, die für den eigenen Antrieb sorgen müssen und infolgedessen ein Wärmeabfuhrproblem bekommen, ist, wie jede Rallye mit Serien-Pkw beweist, im Auto das Mitführen und Tragen eines gut isolierenden stabilen Integralhelms kein Problem. Spätestens wenn laut über obligatorische Sicherheitstrainings für Anfänger nachgedacht wird, wird gefragt werden dürfen, warum man nicht auch obligatorische Integralhelme für Führerscheinneulinge fordert.

Es kann hier nur eine Erklärung geben: So hoch und beklagenswert die Unfallrisiken von Autofahrern in den ersten sieben Jahren auch sein mögen, hoch genug für einen massiven Eingriff in die alltägliche Lebensführung sind sie dann nach allgemeiner Einschätzung offenbar doch nicht.

Und das liefert eine Norm, an der man sich auch bei der Bewertung des Unfallrisikos von Radfahrern orientieren kann.

Wie sicher ist das Fahrrad, im Vergleich zu Kraftfahrzeugen?

Das absolute Risiko eines Verkehrsmittels wird häufig auf den jeweiligen Fahrzeugbestand bezogen. Umgekehrt lässt sich die absolute Sicherheit einer Personengruppe bezüglich eines Verkehrsmittels durch die Überlebensrate in dieser Gruppe ausdrücken, indem man errechnet, wie viele Überlebende es für jeden Todesfall bei der Nutzung des jeweiligen Verkehrsmittels gibt.

Grundlage dieser Betrachtung ist die Annahme, dass alle jungen Erwachsenen in Deutschland die Möglichkeit haben und nutzen, am Verkehr teilzunehmen, sei es als als Fahrer oder Mitfahrer eines motorisierten Verkehrsmittels oder eines Fahrrades oder als Fußgänger. Dies schließt die Möglichkeit ein, als jugendlicher Nutzer des entsprechenden Verkehrsmittels ums Leben zu kommen, zum Glück aber auch die sehr viel größere Chance, zu überleben. Wie ist diese Chance aber nun zu beziffern?

Um die Sicherheit der Verkehrsteilnahme zu illustrieren, wurde in der nachfolgenden Grafik aufgetragen, wie viele Überlebende der betrachteten Altersgruppe auf jeweils einen verkehrsmittelbedingten Todesfall kommen, und zwar getrennt nach Art der Verkehrsteilnahme.

Wie man sieht, hat die Sicherheit der Kfz-Benutzung zwischen 1991 und 2010 deutlich zugenommen. Während 1991 auf einen im Verkehr als Fahrer oder Mitfahrer eines Kfz getöteten jungen Erwachsenen nur rund 3.000 Überlebende kamen, waren es 2010 immerhin fast 11.000.

Die Sicherheit bei der Benutzung von Verkehrsmitteln hat sich in den letzten Jahrzehnten generell deutlich erhöht. Tatsächlich lag die Sicherheit von jungen Erwachsenen auf dem Rad bereits 1991 auf einem zehn mal so hohen Niveau wie die der Autofahrer heute. Ihre Sicherheit hat sich bis 2010 noch weiter erhöht: 2010 kommen auf einen Todesfall nun 566.327 Überlebende.

Hohes Sicherheitsniveau bei Radfahrern

Bild 2: Pro Todesfall überlebende junge Erwachsene in der Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen, nach Art der Verkehrsbeteiligung, 1991 bis 2010
(Lesehilfe: Auf einen gezählten Todesfall im Kfz kamen im Jahr 1991 3.037 Überlebende in der 7,9 Mio Personen umfassenden Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen)
Quelle: Statistisches Bundesamt: Zweiradunfälle, 2010; Statistik der Straßenverkehrsunfälle; Fortschreibung des Bevölkerungsstandes und eigene Berechnungen

Das Fahrrad als Verkehrsmittel ist in der betrachteten Altersgruppe also sehr viel sicherer als das Verkehrsmittel Kraftfahrzeug.

Aufmerksamen Lesern wird aufgefallen sein, dass in diese Betrachtung die Expositionsdauer nicht eingeht. Wäre das Risiko einer Tätigkeit nicht danach zu bewerten, wie häufig bzw. wie lange man sich ihm aussetzt? Dies ist sicher richtig, wenn es darum geht, eine Aktivität durch eine andere zu substituieren. Für das allgemeine Lebensrisiko und für die gesellschaftliche wie für die individuelle Entscheidung geht es aber auch und gerade darum, wie sich die jeweiligen Risiken tatsächlich manifestieren.

Halten wir der Einfachheit halber fest, dass selbst dann, wenn junge Radfahrer – bei angenommen konstantem Risiko pro Zeiteinheit – fünfzig mal so viel radfahren würden, erst Gleichstand der Risiken erreicht würde. Schon weit vor einer derart enormen Steigerung würde aber der als »SafetyInNumbers« bekannte Effekt die Risikozunahme begrenzen.

Trotzdem möchte ich etwas für meine Sicherheit tun!

Trotz des, wie gezeigt, sehr hohen Sicherheitsniveaus auch von jungen Radfahrern wäre ein dem DEKRA-Vorschlag analoges »Bündel von Maßnahmen« durchaus in Erwägung zu ziehen, wenn man die eigene Sicherheit oder die von Radfahrern generell weiter verbessern möchte.

Bild 3 (Quelle)

Statt das Fahrrad nur als Spiel- und Sportgerät und als Übergangsverkehrsmittel zur Überbrückung zum Kfz-Führerschein mit 17 zu behandeln, wären Konzepte zu fördern, die kompetentes Radfahren im Alltagsverkehr zum Ziel haben. Dies kann mit dem frühen, von den Eltern begleiteten verkehrsmäßigen Radfahren von Kindern beginnen und sollte bei einer Ausbildung von Jugendlichen nicht aufhören, die das zügige Fahren im Mischverkehr auf der Fahrbahn und einen routinierten, selbstbewußten Umgang mit dem Kfz-Verkehr, orientiert an den verkehrsmittelübergreifend geltenden Regeln, zum Ziel hat.

»Radfahren für Erwachsene« mit spezifischem Gewicht auf »Fahrbahnfahren für Erwachsene« wird man allerdings kaum auf der Agenda von Überwachungsvereinen für deutsche Kraftfahrzeuge finden. Eine Professionalisierung des Bemühens um noch mehr Verkehrssicherheit von Radfahrern ist aber wünschenswert, unter welcher Trägerschaft auch immer.

Bild 4

Diese Professionalisierung könnte dazu beitragen, Irrtümer und Fehler zu vermeiden. Mit erhobenem Zeigefinger verbreitete Peinlichkeiten (»Armleuchter«), das Propagieren überschätzer Ausstattungsdetails (Reflektoren), das Unterschätzen von weniger auffälligen, aber sicherheitsrelevanten Ausstattungsdetails (glattgetretene Pedale) sind der Sicherheit kaum zuträglich. Auch wären rechtliche Folgerungen aus der Erkenntnis anzustreben und baulich umzusetzen, dass Separierung nach Art des Antriebs verkehrstechnisch nicht funktioniert, dass »Schutzstreifen« ihren Namen keineswegs verdienen und dass straßenbegleitende Radwege (»aus den Augen, aus dem Sinn« ) kein funktionierendes Verkehrssicherheitskonzept oder überhaupt ein solches sind.

Es geht darum, Radfahrer nicht in Schonräume zu verdrängen, sondern sie für die gleichberechtigte Teilnahme am Fahrzeugverkehr auf der Fahrbahn noch besser fitzumachen.

Material findet sich zum Beispiel in Kursvorschlägen des Amerikaners John Forester zu »vehicular cycling«, in dem schon etwas älteren Buch »Effective Cycling« (siehe auch EffectiveCycling), oder, neuer und mehr auf europäische Verhältnisse zugeschnitten, in der Literatur (Cyclecraft) und den Kursvorschlägen des englischen Experten John Franklin (»National Cycle Training Project«, »bikeability«).

Fazit

Fahrradhelme vermitteln die falsche und gefährliche Botschaft »fahr’ lieber gar nicht Rad als ohne Helm«. Leitmotiv sollte aber sein: Vorbeugen, Unfälle vermeiden. Das ist besser als sich mit untauglichen Mitteln auf Unfälle einzurichten, die vermeidbar wären.

Eine Förderung der Fähigkeiten von Radfahrern als Verkehrsteilnehmern im Mischverkehr würde neben der Sicherheit auch die Leistungsfähigkeit des Fahrrads als alltägliches Verkehrsmittel weiter steigern und indirekt über die Freude am Fahren und »SafetyInNumbers« auch positiv auf die Sicherheit rückwirken.

Quellen und Materialien

Zum Autor

Wolfgang Strobl ist Diplom-Informatiker und arbeitet als wissenschaftlicher Angestellter einer deutschen Großforschungseinrichtung. Er fährt seit fast dreißig Jahren mit dem Rad (nicht nur) zur Arbeit.