Ausgabe 42 · Dezember 2025
Tobis Fahrradgeschichten
Eine Kneifzange der Menschlichkeit. Von kollegialer Verteidigung der Würde, von Menschen- und Stadtbildern oder warum es manchmal hilft, die Züge zu lösen
von Tobias Kröll
In der Werkstatt erlebt man ja so einiges. Es gibt Tage, an denen alles rund läuft, und andere, an denen die Luft schon mittags raus ist. Kundschaft aller Art: dankbar, wortkarg, überfordert, freundlich, anstrengend. Und manchmal alles zugleich. Auch wenn ich in Deutschland eher »neutrale« oder nette Kundinnen und Kunden hatte: Die Kundschaft in Amsterdam erlebte ich noch einmal als deutlich freundlicher. Doch keine Regel ohne Ausnahme.
Es war ein grauer Vormittag vor 22 Jahren in der Fahrradwerkstatt (Fietsenmakerij), in der ich damals im Amsterdamer Stadtteil Jordaan arbeitete. Es roch nach Öl und Kaffee, das Radio lief, als ein Mann hereinkam. Beide Bremszüge seines Hollandrads gerissen, … ob ich helfen könne. Ich sah auf die Uhr, eigentlich war der Zeitplan voll. Ich überlegte kurz … es könnte noch zeitlich reichen – sagte ja und nannte ihm den recht günstigen Listenpreis für die Reparatur. Er nickte und ich machte mich nach der letzten planmäßigen Reparatur an die Arbeit. Die Züge waren bald ersetzt, sie liefen leicht, die Hebel griffen sauber.
Als der Mann zurückkam, nannte ich den vereinbarten Preis. Er legte einen Geldschein auf die Theke und als ich das Wechselgeld aus der Kasse holen wollte, fing er plötzlich an, über den zuvor vereinbarten Preis zu schimpfen. Erst leise, dann lauter. Ich war völlig überrumpelt. Ich hatte doch klipp und klar den Preis gesagt. War er mit dem falschen Bein aufgestanden? Ich versuchte, ruhig zu bleiben, zu erklären. Mein Niederländisch hielt bald nicht mehr Schritt mit seiner Wut. Sein Geldschein lag noch auf der Theke, das Wechselgeld in meiner Hand …
Da kam plötzlich meine Kollegin Anne mit ruhigen festen Schritten nach vorn. Ich hatte in der Erregung ihre Anwesenheit gar nicht mehr auf dem Schirm gehabt. Sie hatte alles mit angehört.
Sie hatte eine Kneifzange in der Hand und schnitt einfach die beiden frisch montierten Bremszüge wortlos wieder durch. Zack, zack. Der Mann verstummte, erstarrte fassungslos. Sie drückte dem Mann sein Geld in die Hand und sagte kurz und knapp: »Jetzt ist alles wie vorher, tschüss und kommen Sie nie mehr wieder!« Der Mann war vollkommen verdutzt, nahm das Geld, murmelte etwas vor sich hin und verschwand.
Ich stand da, sprachlos – und plötzlich sehr ruhig. Es tat gut, diese klare, entschiedene Unterstützung zu bekommen. Gut zu merken, dass eine da ist, die dich unterstützt, dir ohne viele Worte hilft. Oft musste ich später an diese Szene denken und ich habe mir vorgenommen, wenn möglich andere Menschen in solchen Situationen ebenso zu unterstützen. Anne hatte dem Mann klare Grenzen aufgezeigt und mit einer einfachen Geste meine und unsere Fietsenmaker-Würde verteidigt.
Ich fühlte mich in dieser Amsterdamer Werkstatt einfach als Mensch anerkannt. Das war damals noch nicht selbstverständlich als Deutscher. Eine Studienfreundin hatte mir ein paar Jahre zuvor erzählt, dass während der deutschen Besatzung im Zweiten Weltkrieg alle Fahrräder in Amsterdam beschlagnahmt werden sollten.
Für viele »Amsterdamers« war das, als würde man ihnen die Beine nehmen. Die Freundin hatte auch gesagt, es könne vorkommen, dass man auf einer Party gefragt werde, wann man denn das Fahrrad zurückbringe, das der Großvater (im Sommer 1942) gestohlen habe. Erinnerung als Schmerz, der weitervererbt wird.
Eine deutsche Freundin hatte sich in Amsterdam einmal mit einem jungen Mann auf einer Party auf Niederländisch unterhalten, als er sie unvermittelt fragte, woher sie komme. Auf ihre Antwort »Deutschland« sagte er: »Du bist ja ganz nett, aber deutsch«, drehte sich um und ließ sie stehen. Wie oft werden Menschen einfach nach einem Etikett oder dem Aussehen verurteilt, weil es nicht ins geliebte Welt-(oder Stadt-?)Bild passt? Manchmal trifft es eben auch Deutsche. Orientierung ist sinnvoll, aber einen Menschen, mit dem man sich gut unterhalten hat, der einem nichts getan hat und den man gerade kennenlernt, anhand einer starren Gruppenzugehörigkeit pauschal zu verurteilen und stehen zu lassen trägt wahrlich nicht zum gesellschaftlichen Miteinander bei:
»Du bist ganz nett, aber die Gruppe, der du angehörst, mag ich halt nicht!« Ein Armutszeugnis hinsichtlich menschlicher Reife. Solche willkürlichen Demütigungen wie der Freundin blieben mir in Amsterdam erspart. Von meinen Kolleginnen aus der Fahrradwerkstatt bekam ich später sogar ein gerahmtes Bild mit Zeitungsausschnitten zu der Fahrradklaugeschichte geschenkt, damit ich den Hintergrund kenne und auf entsprechende vorwurfsvolle Fragen mit Geschichtskenntnis antworten kann.
Die Philosophin Martha Nussbaum schreibt, dass Vergebung nichts mit Vergessen zu tun hat, sondern mit der Entscheidung, den anderen als Menschen zu sehen. Vielleicht ist das der eigentliche Sinn von Haltung: nicht Zorn, sondern Bewusstsein und Versöhnungsbereitschaft. Pete Jordan, Schriftsteller und Mann einer (US-amerikanischen) Amsterdamer Fietsenmaker-Kollegin, beschrieb die Episode des »deutschen Fahrradklaus« später in seinem Buch »De Fietsrepubliek« (2013), in dem er ansonsten mit vielen Details die »Geschichte der Fahrradmetropole Amsterdam« erzählt. Die dort beschriebene Amsterdamer Mentalität, die ich nicht zuletzt durch meine Kolleginnen kennengelernt habe, ist mir ans Herz gewachsen.
Und aus der Geschichte mit Anne habe ich gelernt: Manchmal muss man etwas lösen, um wieder festen Halt zu finden. Und manchmal hilft tatsächlich nur eins: eine Kneifzange der Menschlichkeit, um die eigene Würde deutlich zu verteidigen.
Zum Autor
Tobias Kröll, Jahrgang 1967, Wangen/Allgäu, Diplom-Pädagoge, Sozialwissenschaftler und gelernter Fahrradmechaniker. Fellow des Berliner Instituts für kritische Theorie (InkriT). Im November 2025 erschien sein Buch Bis jetzt hat es doch funktioniert! Tobis Fahrradgeschichten aus der Fahrradzukunft bei Books on Demand (BoD). TÜpedia