Fahrradzukunft

Ausgabe 42 · Dezember 2025

Dieses eine Lieblingsrad

von Norbert C. Korte

Ja, es gibt wirklich dieses eine Lieblingsrad – in Gedanken stelle ich alle sieben Räder, die ich in den letzten 70(!) Jahren mein Eigen nennen konnte, nebeneinander auf: wie »Schauspieler« beim Schlussapplaus auf der Bühne meines Fahrradlebens.

An meinem ersten Rad, auf dem ich mich zwischen meinem 7. und 11. Lebensjahr schon ganz »zu Hause« fühlte, »flickte« und reparierte mein Vater das Notwendige. Ich machte zum ersten Mal die Erfahrung, dass sich mein Wirkungskreis erheblich erweiterte.

Bild 1: Vaterland-Rad

An allen anderen Rädern, und nicht nur an den eigenen, flickte und reparierte, probierte und experimentierte ich vieles aus. Von der Radlaufklingel angefangen bis zu einer gefederten Vordergabel, die aus einem Fahrrad mit Hilfsmotor stammte, und schließlich der in Eigenbau entstandenen 2 x 3-Naben- und Kettenschaltung am zweiten Rad, das ich im Alter von 12 bis 19 Jahren fuhr. Auf diesem Rad machte ich meine ersten Radreisen an Wochenenden und auch die über mehrere Wochen in den großen Ferien.

Bild 2: Heliodor-Rad

Das dritte Fahrrad schafften sich »die jungen Eltern« an und beide Räder bekamen Kindersitze, bei denen die Kinder nach vorne schauen und vor den Eltern auf der Stange sitzen. »Die Welt entdecken im Schutz von Vater oder Mutter.« Niemals ist bei all unseren Fahrten ein Unfall geschehen oder dass die Kinder sich verletzten. An diesem Rad fand auch ein Donkey-Anhänger von Winther seinen beständigen Platz. Und nicht nur bei Ausflügen und Einkäufen tat er gute Dienste: Ich »sehe« auch heute noch meinen Sohn darin stehen und wie Ben Hur hinter seinen Pferden mit anderen um die Wette galoppieren.

Bild 3: Steiger-Rad

Das vierte Rad outet sich hier schon als das Lieblingsrad, doch mehr wird erst weiter unten erzählt.

Bild 4: Moulton AM7

Das fünfte Rad, ein »Brommi«, fiel mir aus einem Nachlass zu und war bis dahin über 20 Jahre hinweg so gut wie nie gefahren. Mir kam es damals sehr gelegen, da ich es im Arbeitsalltag für die kurzen Strecken von der Eisenbahn zur Arbeit und nach Hause einsetzen konnte. Auch heute noch nehme ich es manchmal mit, wenn es in den Tagesplan von Bahn und Termin passt. Vor zwei Jahren habe ich dieses wenig gefahrene und sehr einfach ausgerüstete Rad bei »Juliane« auf den sinnvoll neuesten Stand gebracht; seitdem wird es auch von anderen aus unserer Hausgemeinschaft genutzt.

Bild 5: Brompton

Das sechste Rad, erworben 2015, erstmals elektrisch motorisiert. Verschiedene Programme, ob sparsam oder sportlich ausgerichtet, ob für bergiges Gelände oder die norddeutsche Tiefebene, eine wirksame Unterstützung, die sich niemals in den Vordergrund drängt. Das Fahren damit lässt mich so radeln, wie ich es im Alter zwischen 20 und 30 erinnere - und ich bin erleichtert und glücklich. Mit diesem Rad habe ich wieder Radreisen unternommen (unternehmen können). Und noch etwas: Ich genieße auf diesem Rad das »Citroën-Gefühl« des Vorderradantriebs.

Bild 6: Utopia Velo, Modell Kranich

Das siebte Rad ein Tandem, ein Stufentandem - vorn einem Liegerad ähnlich -, das mir und meiner Frau besonders ans Herz gewachsen ist. Das Beieinander-unterwegs-Sein, ein wenig wie seinerzeit mit den Kindern vorn auf dem Rad: gemeinsam schauen, gemeinsam spüren und doch verschieden wahrnehmen. Seien es Reisen über mehrere Tage oder spontane Ausflüge, dieses Gefährt ermöglicht ein Miteinander-Fahren, das auf zwei einzelnen Rädern nicht mehr möglich wäre - ein besonderes Geschenk in der jetzigen Lebensphase. Allein gefahren ist es, für den alltäglichen Einkauf, auch eine Art Lastenrad. Und da es durch Zusammenschieben zweier Rahmenkomponenten nicht länger als ein normales Rad ist, passt es auch ins Auto und nicht nur auf den Fahrradträger.

Bild 7: Hase Bikes, Modell Pino

Und jetzt zu meinem Lieblingsrad: ein Moulton AM7. Am 9. November 1983 wurde in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf der »Motor«-Seite ein Fahrrad gezeigt und beschrieben, das mich schon begeisterte, bevor ich den Artikel gelesen hatte: das Moulton AM7, damals eher eine Neu- statt eine Weiterentwicklung des Erfinders Alex Moulton. Auch wenn im Artikel stand, dass in Deutschland noch kein Händler gefunden sei, der legendäre Dieter Meyer in seiner Fahrradgesellschaft in Offenbach hatte es schon. Als ich es dort sah und fuhr, war ich überwältigt; nicht nur von der Ästhetik und Schönheit des Gefährts mit seinem raumgreifenden teilbaren Gitterrohrrahmen aus »Reynoldsrohr 531«, sondern eben auch von den Fahreigenschaften. Heute würde man es ein »Fully« nennen, die kleinen 17″-Räder und Spezialreifen von Wolber erzeugten ein feinfühliges Fahrgefühl, wie ich es bisher nicht kannte. (und es bis heute so manches Mal vermisse). Doch gut 2.500 DM für ein Rad waren damals viel Geld.

Während dieser gut 30 Jahre hatte ich das Rad so gut wie immer dabei. Oft hat es in Hotel- oder Bildungshauszimmern gestanden, um mir in den freien Zeiten bei Erkundungsfahrten zu dienen. Alle angrenzenden Länder der Bundesrepublik habe ich mit ihm durchkreuzt; am häufigsten die Schweiz, und dort über viele Pässe: traumhaft das Rauf und Runter auf diesem Rad. Aufgrund der Rahmenkonstruktion war das Gepäck hinten wie vorn mittig angeordnet und lag genau über den beiden Rädern, so verlieh es dem Rad auch bei hohen Geschwindigkeiten Stabilität. Es waren zwei Taschen, die für dieses Rad gemacht waren und über alle Jahre ihren Dienst taten. Geräumig und trotzdem schick anzusehen, etwas, das ich vermisse.

Es gab für dieses Fahrrad einen Zipper. Mit diesem zu fahren ist ein unglaubliches Gefühl und lässt einen wie von Zauberhand Geschwindigkeiten erreichen, die ich nicht für möglich gehalten habe. Doch ihn am eigenen Rad zu fahren, habe ich mich dann doch nicht getraut. Zu aufwendig im Alltag, ja. Zu extravagant, vielleicht.

Bild 8: Moulton AM7, mit Zipper
Von: Fahrradgesellschaft, Offenbach, 1985

Wirkliche Reparaturen hatte ich an diesem Rad nicht. Der größte Verschleiß entstand bei den 17″-Reifen und Schläuchen, von denen immer ein Paar im Auto lag oder auf Reisen mitgeführt wurde. Irgendwann gab es bessere Felgenbremsen, die das Sicherheitsgefühl mit Gepäck und bei längeren Abfahrten merklich verbesserten. Später ließ ich noch das Schlumpf-Getriebe einbauen, es erhöhte die Übersetzungsspanne zwischen kleinstem und größtem Gang erheblich und glich meine schwindenden eigenen Vortriebskräfte wirkungsvoll aus.

Bild 9: Moulton AM7. Werra-Reise

Ich komme zum Schluss: Mit der Liebe - ob zu Gegenständen oder zwischen Menschen - ist es nicht so einfach, lange habe ich damit gerungen, das Rad zu behalten, es an die Wand zu hängen, um mich an ihm »still« zu erfreuen, doch dann überwog, es weiterzugeben, dass ein anderer es nutzen und sich daran freuen kann. Für mich passten der eigene Körper und dieses Fahrrad nicht mehr zusammen.

Das Lieblingsrad war verkauft, ein ganz anderes wunderbares, bequemes, nützliches, schönes Rad, verziert mit handgemalten Goldlinien auf dem Rahmen, 28″-Rädern und mit elektrischem Vorderradantrieb tritt an seine Stelle, lässt mich meinem jetzigen Leben entsprechend leicht und gut wieder auf dem Rad sitzen und durch meine Welt reisen.

Mein Lieblingsrad vermisse ich nicht, es ist Geschichte und ein erinnertes einzigartiges Gefühl. Es war auch das einzige meiner Räder, an dem ich weder einen Kilometerzähler noch ein Tachometer angebracht habe: Liebe und Zuneigung sind nicht »zählbar«. Und auf meinen Reisen kam es mir nicht darauf an, »Kilometer zu machen«, sondern »unterwegs zu sein« oder ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Jetzt genieße ich die elektrische Unterstützung, die meinen körperlichen Verlust ausgleicht. Ich bin glücklich, wieder Fahrrad fahren zu können »wie früher« und kann so unterstützt noch lange auf dem Rad sitzen und weite Strecken fahren.

Bild 10: Moulton AM7 am Schweizer Murtensee

Die Geschichte des Lieblingsrads hat ein unerwartetes »Nachspiel«: Jahre nach dem Verkauf lerne ich einen Menschen kennen - wir beide »Fahrradnarren«. Und so wie ich von sieben Fahrrädern aus meinem Leben schreibe, erzählt er nicht nur von über 70(!), sondern ich sehe auch noch einen Großteil davon. Denn er bittet mich, ihm dabei zu helfen, die Sammlung all dieser Fahrräder aufzulösen. Darunter auch zwei Moulton-Räder. Als er von meinem erfährt, sagt er: Nimm doch bitte eines davon. Vielleicht fährst du ja doch noch mal damit. Aus der Gesamtsituation heraus und voll sympathischer Ambivalenz sage ich ja. Es ist ein Moulton Jubilee. Eine besondere Ausgabe zum 50-jährigen Firmenjubiläum im Jahr 2012. Wie es mit dem geschenkten Moulton weitergeht, weiß ich nicht, und brauche es im Augenblick auch nicht zu wissen. So steht es »in Ruhe« und im Alltag unsichtbar zwischen: Werde ich noch mal ein Moulton fahren? und: Ich darf auch dieses Rad verkaufen oder weitergeben. Mal sehen - doch ein zweites Lieblingsrad wird es nicht geben.

Zum Autor

Norbert C. Korte (Jahrgang 1949) lebt an der Deutschen Weinstraße. Für ihn gilt seit 70 Jahren: Man erlebt mich selten radlos.