Ausgabe 15 · April 2013
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Warum ich immer (noch) Helm trage
Zugegeben, die Helmdebatte könnte mich dazu verleiten, aus Protest keinen Helm zu tragen, ich bin tatsächlich kurz davor. Auf der anderen Seite jedoch gehöre ich zu den Helmträgern der ersten Stunde, und damals habe ich mich durchgerungen, beim Helm zu bleiben, denn der Widerstand in Hamburg war beträchtlich. Ich möchte mal schildern, was uns Mitte der 80er Jahre bewegt hat und warum der Fahrradhelm ein Teil der Bewegung war.
Meine Eltern waren Vorreiter, wenn es um sinnvolle Sicherheitsmaßnahmen ging. Als mein Vater 1967 sein erstes Auto kaufte (da war ich 5 Jahre alt) bestand er auf Sicherheitsgurten im Auto, obwohl damals der ADAC noch tönte: Im Falle eines brennenden Autos käme man nicht raus, der Sicherheitsgurt würde einen in einer tödlichen Falle halten. Damals gab es noch keine Automatikgurte und der Sicherheitsgurt musste fest angezogen werden, damit er hilft. Bequem war das nicht immer.
Als wir Kinder im Winter auf Natureis anfingen, mit der Dorfjugend Eishockey zu spielen und ich eines Tages nach einem Sturz bewusstlos liegen blieb, besorgten meine Eltern einfache Motorradhelme (aus der DDR) , die wir sehr gerne trugen, weil sie auch gut wärmten und cool aussahen.
Dann kam ich zur Berufsausbildung nach Berlin und erlebte dort ein paar unschöne Situationen, wenn ich mit meinem Sportrad durch die Rush-Hour fuhr. Ich weiß nicht, wie viele Schutzengel ich rund um die Uhr beschäftigte.
Dann kam der Morgen, an dem ich, auf dem Weg zu einer Frühstückseinladung, mit einer Unterzuckerung vom Rad fiel. Der Sturz erfolgte fast aus dem Stand und mein aufgeschürfter Handrücken zeigte mir später, dass ich beim Sturz schon nicht mehr in der Lage war, mich reflexartig abzufangen, also bereits bewusstlos war. Ich bin keine Diabetikerin. Heute weiß ich, dass Unterzuckerungen lange vor Beginn der Diabetes gelegentlich auftreten, wenn man gewohnt ist, sich kohlenhydratreich zu ernähren.
Es dauerte noch drei Jahre, bis eine in Deutschland lebende amerikanische Freundin mir meinen ersten »Bell Tourlight« aus den USA mitbrachte. Seit dem Unfall in Berlin war mir klar, was passieren kann, und ich malte mir aus, was passiert, wenn ich dann auch noch Geschwindigkeit drauf habe. Es war eine logische Entscheidung, einen Fahrradhelm zu tragen, Erfahrungsberichte gab es noch keine.
Hamburg erlebte ich im Straßenverkehr um ein vielfaches brutaler als Berlin. Die Aggressionen von Seiten der Autofahrer waren heftig. Ich wurde gleich im ersten Jahr in Hamburg ADFC-Mitglied, weil ich das Gefühl hatte, dass hier das Recht der Radfahrer mit Füßen getreten wurde.
Mittlerweile schrieben wir das Jahr 1986 und ich nahm am ersten Triathlon in Hamburg teil. Das war die erste Veranstaltung, bei der es eine Helmpflicht für die Sportler gab, und überhaupt hat die Triathlon-Welle damals erheblich zur Akzeptanz der Helme beigetragen. Es waren die ersten Leistungssportler, die das Helmtragen mit einem gewissen Coolness-Faktor versahen. Die Tour de France-Fahrer waren noch lange nicht so weit.
In Hamburg gab es im Alltag kaum Radfahrer, die Helm trugen. Eine Zeitlang waren wir zu viert, wir kannten uns alle.
Wenn man im Alltag mit Helm fuhr, konnte man eigenartige Reaktionen bemerken. Die Autofahrer steigerten ihre Aggressivität und wurden teilweise handgreiflich. Abdrängeln und ohne Grund einen durch Rechtsabbiegen bewusst in Gefahr bringen, war eine Zeit lang anscheinend »Hobby« in einem weit höheren Maße, als es normalerweise sowieso passierte. Die zugebrüllten Bemerkungen ließen keine Zweifel daran, wie die Manöver gemeint waren. Häufig unterstellte man uns, dass wir absichtlich auf der Straße fuhren, obwohl es doch Radwege und Bürgersteige gab, auf denen sich die anderen Radfahrer ängstlich bewegten. Was Autofahrer vermutlich am meisten störte, war, dass wir uns selber als Verkehrsteilnehmer ernst nahmen. Damit waren wir Ihnen ein Dorn im Auge.
Ein großes Unverständnis gab es damals auch bei den Kindern. Mehr als einmal wurde mir, wenn ich an einer Ampel stand, von einem Kind auf den Kopf geschlagen, weil sie ausprobieren wollten, ob der Helm auch wirklich hilft. Auch Bemerkungen wie: »Fall’ doch mal hin« oder »Ey, Spasti, du kannst wohl nicht Radfahren« musste ich mehrfach über mich ergehen lassen.
Das haben wir damals alles durchgestanden, weil wir der Meinung waren, dass es ein Schritt in Richtung Akzeptanz darstellen könnte. Vorbild war eindeutig Amerika. Dort, wo jeder für seine Verletzungen selber zahlen musste, weil es keine allgemeine Krankenversicherungspflicht gibt, war der Helm das Natürlichste der Welt. Als ich 1987 eine 7-wöchige Radreise durch den Osten der USA machte, war es selbstverständlich, dass wir mit Helm fuhren, und die Autofahrer reagierten respektvoll und vorsichtig auf uns.
In den 90iger Jahren gab es dann die ersten großen Helmkampagnen, die schwedischen »Atlas«-Helme wurden in den Schulen intensiv beworben, obwohl die ersten Modelle, die mit der Plüsch-Beflockung, durch ihre stumpfe Oberfläche im Falle eines Sturzes ein erhebliches Verletzungsrisiko bargen. Die stumpfe Oberfläche bremst auf festem Untergrund zu stark, so dass zu dem Sturz auch noch die Gefahr besteht, dass der Kopf ruckartig abgebremst wird und das zu Halswirbelsäulenverletzungen führen kann. Sang- und klanglos stellte Atlas die Produktion auf glatte Oberflächen um.
Überhaupt war die Technik der Helmproduktion erst in der Entwicklung begriffen. Mein erster Bell-Tourlight hatte noch eine geteilte Styropor-Innenschale und wurde von einem massiven »Hardshell« umschlossen. Er hatte ein stolzes Gewicht von fast 500 g und befindet sich jetzt im Fahrrad-Museum Bad Brückenau. Mittlerweile sind Helme filigran und leicht, aber der Schwachpunkt aller Helme ist immer noch das Gurtsystem, nicht in der Haltbarkeit, aber in der Bedienung. Bei den meisten Helmen gibt es als Verschluss die sogenannten »Fastex-Schnallen«. Diese erlauben nur eine Schließposition und wenn man nicht aufpasst, klemmt man sich die Haut unterm Kinn damit ein. Das ist besonders bei Kleinkindern ein Grund, warum diese sehr schnell mit lautem Protest das Aufsetzen eines Helmes ablehnen.
Viel besser sind die länglichen Schieb-Laschen, die mit einer Rasterung versehen, mehrere Schließpositionen zulassen. Auf die Weise kann man in den Übergangsjahreszeiten frühmorgens mit Stirnband fahren und abends ohne und dabei den Helm immer korrekt schließen. Auch wenn es Schnellverstellungen für die Größenanpassung des Kopfumfanges gibt, braucht man zusätzlich die Verstellmöglichkeit im Gurtgeschirr. Wenn das nicht mühelos funktioniert, wird der Helm 99 % der Zeit zu lose getragen. Man sieht es bei Kindern im Winter: Auf der dicken Pudelmütze sitzt auf der obersten Spitze noch ein Fahrradhelm. Die Schutzwirkung ist dort gleich Null und man muss sogar davon ausgehen, dass die Gefahr der Strangulierung, die durch ein Verrutschen des Helmes ausgeht, dramatisch hoch ist.
Überhaupt sollte man Helme nur dann tragen, wenn man in der Lage ist, sie JEDES MAL richtig einzustellen. Die Einstellung des Gurtgeschirrs muss sehr präzise vorgenommen werden und man muss sicherstellen, dass die Gurte anschließend nicht in den Gurtverteilern verrutschen. Das allein wäre für mich ein Grund, niemals für eine Helmpflicht zu sein, weil die Gefahren von schlecht sitzenden Helmen um ein vielfaches größer ist, als die Gefahr, bei einem Sturz eine gefährliche Kopfverletzung zu erleiden.
Hat mich der Helm in den letzten 25 Jahren auch mal vor Schäden bewahrt?? Ja, aber nicht beim Radfahren. Ich trug den Helm beim Inlineskaten auf einer Trainingsrunde am Maschsee in Hannover. Dort wurde ich bei beginnender Dämmerung von zwei jugendlichen Radfahrern übersehen und überfahren. Ich landete kopfüber in einer Böschung und wachte auf, als es bereits dunkel war und die Radfahrer verschwunden waren. Die auseinander gebrochene Helmschale erklärte mir teilweise den Unfallhergang. Was mir damals nicht bewusst war, und was eine große Gefahr beim Tragen von Helmen ist, war die Tatsache, dass ich eine Kopfverletzung mit längerer Bewusstlosigkeit nicht als Gefahr erkannt habe. Es war ja (scheinbar) nichts weiter passiert. Mein einer Skate war vom Schuh gerissen und einige Zeit später wurde noch eine Handwurzelfraktur festgestellt. Tatsächlich hätte ein Schädel-Hirn-Trauma im Nachhinein durch einen Bluterguss im Gehirn tödlich sein können. So ist es vor einigen Jahren in Bergedorf bei Hamburg passiert: Ein Radfahrer fährt in eine unachtsam geöffnete Autotür, bricht sich ein paar Knochen und im Krankenhaus wird ein Schädel-Hirn-Trauma übersehen, er trug ja einen Helm. Er verstarb in der Nacht an einer Gehirnblutung.
Ich habe in der Zeit auch mehrere andere Unfälle mit dem Rad gehabt, aber bei keinem einzigen hatte mein Kopf Bodenkontakt. Immer sind es andere Körperteile, die die Energie abfangen oder ich blieb nach Vollbremsung und Crash einfach über dem Rad stehen. Der Körper verfügt über einen guten Schutzmechanismus, den Kopf immer vom Boden weg zu halten. Voraussetzung ist, dass der Kopf nicht zu schwer ist. Bei sehr kleinen Kindern ist der Kopf schwer und die Arme kurz. Da schlägt die Nase relativ schnell mal auf den Boden auf. Aber eigentlich ist es nicht die Nase, sondern die sehr stark vorgewölbte Stirn, die den Gesichtsschädel schützt und ziemlich stabil ist. Die Muskulatur der Halswirbelsäule ist bei Kindern schon stark gefordert und wird durch das Gewicht des Helmes meistens überfordert. Der Kopf wird ungewohnt stark beschleunigt und bekommt dann auf jeden Fall Bodenkontakt.
Eine interessante Beobachtung habe ich letztes Jahr beim Langstrecken-Schlittschuhlaufen gemacht. Wir hatten schwieriges Eis, es hatte geregnet und war anschließend ungleichmäßig gefroren. Ein typisches Sturzgeschehen bestand darin, dass sich die Schlittschuhe mit der Spitze in das stellenweise weiche Eis gruben, und man ohne Vorwarnung wie ein Baum gefällt wurde. Man knallt dann unsanft auf den Brustkasten, das tut sehr weh. Das geht (bei 20–30 km/h) so schnell, dass man sich nicht mehr mit den Armen abfangen kann. Ich erlebte so einen Sturz ohne Helm und blieb unverletzt. Ein geübter Mitsportler älteren Semesters hatte sich einen robusten Skater-Helm extra für diese Veranstaltung besorgt. Er erlebte das gleiche Sturzgeschehen und blieb mit einer Platzwunde unterm Auge bewusstlos liegen.
Alle Mitsportler lobten die Tatsache, dass er einen Helm getragen hatte und waren der Meinung, dass er sich sonst schwerer verletzt hätte. Meine Theorie war natürlich entgegengesetzt dazu. Dadurch, dass dieser Mensch kein Training im Tragen von einem (schweren) Skater-Helm hatte, konnte er die Beschleunigung, die sein Kopf erfuhr, nicht abbremsen, er schlug mit dem Gesicht auf.
Ich trage immer (noch) meinen Fahrradhelm. Es gibt dafür mehrere praktische Gründe. Er schützt mich vor zu starker Sonneneinstrahlung, ist einigermaßen regendicht (der alte Bell-Tourlight war in puncto Belüftung und Regendichtigkeit eine geniale Meisterleistung, ich habe nie wieder einen besseren Helm gehabt). Am Helm habe ich seit über 20 Jahren einen äußerst praktischen Helmspiegel, den ich mittlerweile aus den USA importiere. Ich bin es gewohnt, Helm zu tragen und ich trage nur solche Modelle, die ich in jeder Situation in Sekundenschnelle im Gurtsystem richtig anpassen kann (früher war das noch die Firma Casco, mittlerweile nur noch Uvex und Alpina).
Da ich den Helm immer trage, habe ich ausreichend Haltemuskulatur, um im Falle eines Falles nicht vom Gewicht des Helmes in meinem Bewegungsablauf gestört zu werden. Ich berate häufig Mitradfahrer, wie sie den Helm richtig aufsetzen und rate jedem vom Helm tragen ab, der es nicht schafft, das Gurtsystem regelmäßig vernünftig einzustellen. Ich wünsche mir Veränderungen im Miteinander im Straßenverkehr, die nicht über die »Kleiderordnung« von Radfahrern eingefordert wird.
Ich erwarte vom Helm keine Wunder und weiß, dass er nur in ganz wenigen Situationen wirklichen Nutzen hat. Viel wichtiger ist es, aufzupassen, dass er nicht durch Unachtsamkeit im Umgang zur Gefahr wird.
In unserer tendenziell bewegungsarmen Welt sehe ich mit Schrecken, wenn Kleinkinder bei jedem Bewegungsspiel (Roller, Dreirad, Laufrad/Laufmaschine fahren) an den Helm erinnert werden. Die Spontanität geht im Spielen verloren, wenn die »Antrittswiderstände« zu groß werden.
Zur Autorin
Juliane Neuß, von Beruf Technische Assistentin für Metallographie und Werkstoffkunde. Ihre Berufung: Fahrradergonomie. Betreibt seit 1998 nebenberuflich die Firma Junik – Spezialfahrräder und Zubehör, hat 6 Jahre lang die Filiale eines Fahrradladens in Hamburg geleitet und schreibt regelmäßig die »Tech Talks« für die Radwelt (ADFC). Lebt autofrei mit 8 bis 12 Fahrrädern und 8.000 bis 10.000 km pro Jahr.