Ausgabe 15 · April 2013
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StVO 2.0 – wie man heimlich Verordnungen ändert
Ein Possenspiel in zwei Akten und einer ausgedehnten Pause
1. Akt
Am 13. April 2010 verkündete Verkehrsminister Peter Ramsauer in einer Pressemitteilung, dass die im Spätsommer 2009 novellierte Straßenverkehrs-Ordnung (StVO) ungültig sei. Ein »Zitierfehler« habe diese Änderung ungültig gemacht, womit die alte Fassung weiter in Kraft bliebe. Zitierfehler? Bei der Veröffentlichung werden die Gesetze angeführt, die den Bundesverkehrsminister ermächtigen, die StVO zu erlassen. Im Bundesgesetzblatt wurde eine falsche Nummer eines richtigen Absatzes im richtigen Gesetz angeführt – betreffend die Luftreinhaltung. Trotzdem meinte Ramsauer, nicht nur die Regeln zu den Umweltzonen, sondern die ganze StVO wäre nun fehlerhaft.
Vorangegangen war ein Streit um des Kaisers Bart. Mit der Novelle wurde ein Absatz gestrichen. Er bestimmte, dass Verkehrszeichen in der Ausführung, wie sie vor Juli 1992 verwendet wurde, weiterhin gültig blieben. Vor 1992 gingen Kinder noch gesittet mit Zopf und Fahrräder hatten auf den Schildern einen Scheinwerfer und Pedale. Einige Kommunen entdeckten nun plötzlich, dass sie diese mindestens 17 Jahre alten, oft schon verblichenen oder zugewachsenen Verkehrszeichen nie ausgetauscht hatten. Unglaublich, da sie alle zwei Jahre die Verkehrszeichen und deren Berechtigung überprüfen müssen. Nach jahrelangem Dornröschenschlaf erhoben sie nun Wehklage darüber, dass sie für viel Geld die Zeichen alle austauschen müssten. Selbst das war am Ziel vorbei geschossen, denn nur weil eine übergangsweise Gültigkeitserklärung gestrichen wird, sind die Schilder noch lange nicht ungültig. Eine ausdrückliche Ungültigkeitserklärung ist nie erfolgt und Verkehrsteilnehmer müssen sich sowieso nach den Schildern richten, solange sie deren Sinngehalt erkennen können.
Ramsauer suchte trotzdem einen Ausweg und erklärte kurzerhand, dass die ganze Novelle der StVO ungültig wäre. Damit würden die Ausnahmeregel und die Verkehrszeichen weiterhin gelten. Ignoriert hat er dabei, dass die Verwaltungsvorschrift zur StVO, die ebenfalls 2009 geändert wurde, nun nicht mehr zur StVO passen würde. Und es hinderte ihn auch nicht daran, die »ungültige« StVO Ende 2010 selbst fortzuschreiben und damit indirekt ihre Rechtskraft zu bestätigen.
Dafür hat ihn die Fachwelt ignoriert. Nur wenige, meist bayerische Behörden wurden nicht müde, in Gesprächen und Briefen die neue StVO als ungültig zu bezeichnen. Sonst folgte kaum jemand Ramsauers Meinung. Für die von ihm getroffene Verkündung war er gar nicht zuständig. Rechtsprechung zur Gültigkeit oder Ungültigkeit der StVO-Novelle von 2009 ist aber bis heute keine bekannt geworden.
Pause
Nun hätte der Verkehrsminister einfach die Novelle von 2009 ohne den Zitierfehler und auch mit der Ausnahme für alte Schilder rasch neu einbringen, vom Bundesrat bestätigen lassen und diesmal korrekt veröffentlichen können. Aber es geschah nichts … und nichts … und nichts …
2. Akt
Erst zweieinhalb Jahre nach der »Ungültigkeit« kam Ramsauers Ministerium mit einer Neufassung heraus. Diesmal sollte es keine Novelle, also eine Auflistung von Änderungen der bestehenden Verordnung, sondern eine Neuveröffentlichung der gesamten StVO werden. Als Begründung wurde angeführt, dass auch in früheren Novellen Fehler enthalten sein könnten, die man nur mit hohem Aufwand ermitteln könne. Hätte das wirklich länger als zweieinhalb Jahre gedauert? Ein paar inhaltliche Fehler, die sich in die StVO eingeschlichen hatten, sollten gleich ausgebessert werden. Insgesamt sollte die StVO für den Anwender leichter lesbar werden. Und alle Regeln sollten »an die Erfordernis der sprachlichen Gleichbehandlung von Männern und Frauen angepasst« werden. »Fahrzeugführer«, »Radfahrer« und der berühmte »Fußgänger, der ein Handfahrzeug mitführt« haben damit ausgedient.
Dabei hat man leise, still und heimlich ein paar feine Änderungen eingebaut, die von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt ab 1.4.2013 in Kraft treten werden. Denn die »Ramsauer-Novelle« ist längst verabschiedet. Am 21.9.2012 hat ihr der Bundesrat zugestimmt. Ihr Geltungstermin wurde dabei ungewöhnlich weit in die Zukunft auf den 1. April verlegt. Steckt Absicht oder sogar ein feiner Humor dahinter, gerade diesen Tag zu wählen?
Neuigkeiten
Radfahrer, ähm, »der Radverkehr«
Auf Gehwegen und in Fußgängerzonen haben Radfahrer, sofern sie dort ausnahmsweise fahren dürfen, wieder ständig »Schrittgeschwindigkeit« einzuhalten. Seit September 2009 galt es dort »die Geschwindigkeit an den Fußgängerverkehr anzupassen« – eine sehr interpretationsfreudige Formulierung. Insofern ist diese Änderung sogar zu begrüßen. Außerdem ist nun Schrittgeschwindigkeit wieder überall vorgeschrieben, wo Fahrzeuge Fußgängern nahe kommen. Seit 2009 galt sie nur noch in verkehrsberuhigten Bereichen (volkstümlich: »Spielstraßen«), nicht jedoch auf Gehwegen und in Fußgängerzonen.
Problematisch bleibt die sehr uneinheitliche Interpretation. Während die einen – voran die Polizei – unter Schrittgeschwindigkeit »4 bis 7 km/h« verstehen wollen, hat sich die Rechtsprechung gar nicht so festgelegt. Sie erkennt unter anderem an, dass nur wenige Radfahrer so langsam fahren können und wenn, dann nur heftig pendelnd mit viel Platzbedarf. Schrittgeschwindigkeit solle »deutlich unter 20 km/h« liegen bzw. »unmittelbares Anhalten« möglich machen. Dementsprechend ist jede einstellige oder knapp zweistellige Geschwindigkeit »Schrittgeschwindigkeit«. Schade nur, dass sich der Verordnungsgeber, das heißt der in Verantwortung befindliche Bundesverkehrsminister, nicht zu einer konkreten, leicht überprüfbaren Zahl durchringen konnte. Damit hätte er den Verkehrsteilnehmern mehr Rechtssicherheit geben können.
Die schwammige Formulierung bleibt aber und trifft nun alle, denen ausnahmsweise das Fahren auf einem Radweg erlaubt wird. Sie müssen weiterhin ihre Geschwindigkeit »an den Radverkehr anpassen«. Dafür wird erstmals festgelegt, dass sie bei getrennten Geh- und Radwegen nur auf dem Radwegteil fahren dürfen.
Schutzstreifen und Fahrradstraßen werden von § 45 Absatz 9 StVO ausgenommen. Sie sind nun auch dort zulässig, wo sie nicht zwingend erforderlich sind. Dafür müssen Schutzstreifen einheitlich durch Fahrradsymbole gekennzeichnet sein; bisher konnten sie damit bemalt werden. Einfache gestrichelte Linien am Fahrbahnrand sind keine Schutzstreifen mehr, dürfen also beliebig mit anderen Fahrzeugen überfahren werden. In der gelebten Praxis wird sich damit nichts ändern.
Erstmalig wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass auch rechts vor links gilt, wenn Radfahrer in Einbahnstraßen gegen die Einbahnrichtung fahren dürfen.
Maße und Masse
Die Maßangaben und deren Einheiten wurden überarbeitet. Aus dem früheren »Gewicht« (von z. B. 7,5 t) wurde nun physikalisch richtig die »Masse«. Ob der Text allerdings verständlicher wird, wenn man alltagssprachliche Begriffe durch fachsprachliche ersetzt, bleibt fraglich. Längen-, Breiten und Höhenangaben unter 10 Metern erfolgen nun einheitlich auf den Zentimeter genau. An manchen Stellen sorgt dies für eine lächerlich übertriebene Pseudogenauigkeit, z. B. in § 4 Absatz 2: »Züge, die länger als 7,00 m sind«. Ab 10 Metern will sich die StVO dafür nur auf ganze Meter festlegen. Gewichte, äh, Massen gibt sie nun auf 100 kg genau an: »mit Kraftfahrzeuganhängern über 2,0 t zulässiger Gesamtmasse«.
Positiv hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang, dass bei Zeichen 264 (zulässige Breite) endlich eine Klarstellung erfolgt: »Die tatsächliche Breite gibt das Maß einschließlich der Fahrzeugaußenspiegel an.« Diese Regel ist durch die Rechtsprechung längst eingeführt, aber weitgehend unbekannt. Überholabstände zwischen Autos und Radfahrern oder Seitenabstände zum rechten Fahrbahnrand bemessen sich an den Fahrzeugumrissen und nicht, wie selbst manche Polizeibeamte behaupten, ab der Mitte des Fahrrads. Überstehende Fahrzeugteile wie Spiegel sind zu berücksichtigen.
Kleinkram
An Hindernissen vorbeifahren darf man/frau nur noch mit Blinken: »… Muss ausgeschert werden, ist auf den nachfolgenden Verkehr zu achten und das Ausscheren sowie das Wiedereinordnen – wie beim Überholen – anzukündigen.« (§ 6). Bisher ging es auch ohne.
Durchaus sinnvoll ist, dass Unfallbeteiligte demnächst den eigenen Namen und die eigene Anschrift hinterlassen müssen, nicht mehr nur (irgendeinen) »Namen und Anschrift«. Auf Zweirichtungsfahrbahnen mit drei oder fünf Fahrstreifen darf auf dem mittleren und dem ganz linken beziehungsweise den linken ausdrücklich nicht mehr überholt werden. Und ein Verstoß gegen den Grünpfeil an Ampeln wird ausdrücklich ordnungswidrig.
Ein paar Fehler der Novelle von 2009 werden ausgebessert. 2009 bestimmt, dass Haltverbote an Einmündungen enden. Damit enden sie auch, wenn die Einmündung auf der gegenüber liegenden Seite ist. Demnächst wird der alte Zustand wieder hergestellt und sie enden nur, wenn die Einmündung auf der gleichen Straßenseite liegt.
Der Ton wurde schärfer. Standen bisher Verkehrsverbote nach einer einleitenden Regel in den Überschriften, werden sie nun ausdrücklich nochmals als »Ge- und Verbot« wiederholt. Das ist eine Redundanz, die man sich an anderer Stelle, beispielsweise bei den Parkverboten, wünschen würde. Hier, so nah beieinander, bringt sie keinen Verständnisgewinn.
Viele bisherige Erläuterungen wurden unter die Überschrift »Ge- oder Verbot« gesteckt, z. B. in Anlage 2, Zeichen 244.1: »3. Das nebeneinander Fahren mit Fahrrädern ist erlaubt.« § 2 Absatz 4 erlaubt das Nebeneinanderfahren auch – ein Hinweis hätte also genügt.
Für Experten
Zusatzzeichen werden abschließend beschrieben. § 41 Absatz 2 Sätze 3 und 4: »Andere Zusatzzeichen enthalten nur allgemeine Beschränkungen der Gebote oder Verbote oder allgemeine Ausnahmen von ihnen. Die besonderen Zusatzzeichen zu den Zeichen 283, 286, 277, 290.1 und 290.2 können etwas anderes bestimmen, zum Beispiel den Geltungsbereich erweitern.« Das besiegelt die Bedeutungslosigkeit von Zusatzzeichen wie »Radfahrer absteigen«, die weder eine verständliche Beschränkung, noch eine Ausnahme von einem anderen Zeichen enthalten.
Die Straßenverkehrsbehörden werden nun als »zuständig« anstatt nur »sachlich zuständig« erklärt. Die Weisungsbefugnis der obersten Landesbehörden und der höheren Verwaltungsbehörden an die unteren Straßenverkehrsbehörden entfällt in der StVO und wird dem Landesrecht überlassen. Ob nun der Wildwuchs fehlerhaft angeordneter Verkehrszeichen, der besonders bei Radwegbenutzungspflichten seine Blüten treibt, dadurch schlimmer wird, bleibt abzuwarten.
§ 43 Abs. 1: »Verkehrseinrichtungen sind Schranken, Sperrpfosten, Absperrgeräte sowie Leiteinrichtungen, die bis auf Leitpfosten, Leitschwellen und Leitborde rot-weiß gestreift sind.« Das bedeutet zum einen, dass Absperrungen in anderen Farben ignoriert werden können, und zum anderen, dass Poller und andere Absperrgeräte, wie sie gerne auf Radhinderniswegen aufgestellt werden, rot-weiß gestreift sein müssen. Alle anderen sollten dann wohl umgerüstet oder besser entfernt werden.
Ausnahmen
Briefkastenentleerer bekommen Sonderrechte. Schon 2001 wurden die Sonderrechte für die Deutsche Post aufgehoben. Seitdem ist sie allen Brief- und Paketzustellern gleichgestellt. Keiner von ihnen darf falsch oder gar auf Gehwegen fahren oder parken, auch nicht »kurz zum Ausliefern«, weder mit Auto noch mit dem Fahrrad. Jetzt werden den inzwischen üblichen Subunternehmern, die Briefkästen leeren oder Briefe aus Sammelstellen abholen, wieder Sonderrechte erteilt. Sie dürfen durch Fußgängerzonen fahren oder mal in zweiter Reihe parken – aber nur zum Abholen von Briefen.
Gelegentliches Aufstehen in Bussen wird tatsächlich gestattet. Entsprechende Ausnahmen von der Anschnallpflicht wurden in § 21a aufgenommen.
Die Übergangsregelung, nach der alte Fußgängerampeln unter bestimmten Umständen auch für Radfahrer gelten, die eigentlich schon Ende August 2012 ausgelaufen ist, wird ab April 2013 wieder aufgewärmt und bis Ende 2016 fortgesetzt. Dafür ist sie nun klarer formuliert, sodass Fehlinterpretationen ausbleiben sollten:
- Nur wenn eine Radwegfurt neben der Fußgängerfurt verläuft, leicht daran zu erkennen daran, dass genau drei gestrichelte Linien die Furten hinüberführen,
- und nur, wenn keine Ampel für Radfahrer vorhanden ist,
muss er bis Ende 2016 die Fußgängerampel beachten. Auf Furten von gemeinsamen Geh- und Radwegen (zwei gestichelte Linien) gilt weiterhin die »Autoampel«. Ungeklärt wird jedoch wieder, ob auch Radfahrer auf der Fahrbahn im Ausnahmefall »Fußgängerrot« befolgen und bei »Autogrün« stehen bleiben müssen. Derartigen Unsinn hatte vor 2009 die Rechtsprechung verlangt. Die neue Formulierung der Ausnahmeregelung lässt diese Fehlinterpretation bis 2016 wieder zu.
Weitere bereits abgelaufene Übergangsfristen werden verlängert, so unter anderem Schilder mit senkrechten Pfeilen bei Radverkehr in beiden Richtungen in Einbahnstraßen – seit Ende 2010 ungültig, ab 1.4.2013 wieder für weitere drei Jahre gültig. Zeichen, die eigentlich mit der Novelle entfallen sollten, um für weniger Verkehrszeichen zu sorgen, werden sogar bis 2022 verlängert. Und natürlich erklärt Ramsauer die uralten vor-1992-Verkehrszeichen unbefristet für gültig. Sie werden wohl weitere Jahrzehnte ungeprüft hängen bleiben, bis sie gänzlich verwittert sind.
Häh?
Geschlechterkrampf
Der zwanghafte Versuch, geschlechtsneutrale Formulierungen zu finden, geht zu Lasten der Verständlichkeit. Ein Beispiel liefert § 5 Absatz 4 Satz 1: »Beim Überholen muss ein ausreichender Seitenabstand zu anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere zu den zu Fuß Gehenden und zu den Rad Fahrenden, eingehalten werden.«
Die Sätze werden komplizierter. § 5 Absatz 4 Satz 4 enthält bisher eine klare Anweisung an den Überholer: »Er darf dabei den Überholten nicht behindern.« Ab April wird es eine dreimal verdrehte Aufforderung: »Wer überholt, darf dabei denjenigen, der überholt wird, nicht behindern.« Ein weiteres Beispiel liefert Anlage 2 bei Zeichen 205. Bisher: »Fahrzeugführer müssen Vorfahrt gewähren und dabei auf Radverkehr von links und rechts achten.« Demnächst: »Ist das Zusatzzeichen zusammen mit dem Zeichen 205 angeordnet, bedeutet es: Wer ein Fahrzeug führt, muss Vorfahrt gewähren und dabei auf Radverkehr von links und rechts achten.« So etwas muss man mindestens zweimal lesen, um den Sinn zu verstehen.
Dabei wird die beabsichtigte Neutralität des Geschlechts nicht einmal durchgehalten. Nur Männer biegen ab. § 9 Absatz 1 Satz 2: »Wer nach rechts abbiegen will, hat sein Fahrzeug möglichst weit rechts, …«. Nur Männer genießen Sonderrechte. § 35 Absatz 1a: »… gilt entsprechend für ausländische Beamte, …« Und natürlich sind nur Männer männlich genug, um zu reiten oder mit Tieren umzugehen. Anlage 2, Zeichen 250 ist da unerbittlich: »Das Zeichen gilt nicht für Handfahrzeuge, abweichend von § 28 Absatz 2 auch nicht für Reiter, Führer von Pferden sowie Treiber und Führer von Vieh.« Nebenbei: Die Ausnahme der Reiter vom Verkehrsverbot ist neu.
Im Bestreben, sich ohne Festlegung auf ein Geschlecht auszudrücken, entstehen die wunderlichsten Begriffe. Aus Fußgängern werden »zu Fuß Gehende«, aus Radfahrern »Radverkehr« oder »Rad Fahrende«, aber natürlich nicht konsequent. So heißt das Warnzeichen 133 immer noch »Fußgänger«, während das ähnliche Zeichen 138 nun nicht mehr vor Radfahrern, sondern dem (gefährlichen?) »Radverkehr« warnt.
Adressirrtum
Passiv-Formulierungen wie in § 4 Absatz 2 – »Das gilt nicht, 1. wenn zum Überholen ausgeschert wird und dies angekündigt wurde …« – lassen einen verständlichen Empfänger der Vorschrift vermissen.
Doch es geht noch unbestimmter. Anlage 2, Zeichen 237: »3. Ist durch Zusatzzeichen die Benutzung eines Radwegs für eine andere Verkehrsart erlaubt, muss diese auf den Radverkehr Rücksicht nehmen und der andere Fahrzeugverkehr muss erforderlichenfalls die Geschwindigkeit an den Radverkehr anpassen.« Wird die »Verkehrsart« bestraft, wenn sie sich nicht daran hält? Anlage 2, Zeichen 295: »b) Grenzt sie [die durchgezogene Linie] einen Sonderweg ab, darf sie nur überfahren werden, wenn dahinter anders nicht erreichbare Parkstände angelegt sind und das Benutzen von Sonderwegen weder gefährdet noch behindert wird.« Kann man »das Benutzen« gefährden?
Versteckspiele
Doch nicht jede Unverständlichkeit entspringt der Ramsauerschen Führung. Schon 2009 wurden viele der vorher kompakt in § 12 aufgezählten Halt- und Parkverbote dort entfernt und bei einzelnen Verkehrszeichen versteckt. Wer wissen will, dass 10 Meter vor Ampeln oder bei Richtungspfeilen auf der Fahrbahn das Halten verboten ist, muss nun die StVO durchsuchen, bis er endlich in in § 37 beziehungsweise der Anlage 2 fündig wird.
Vor 2009 stand in § 12 ein Parkverbot bei Zeichen 314 (Parkplatz). Hier hat Ramsauer eine Unverständlichkeit draufgelegt. Er hat die ausdrückliche Formulierung »Fahrzeugführer dürfen nicht entgegen Beschränkungen durch Zusatzzeichen parken.« entfernen lassen. Jetzt ergibt sich das Verbot nur noch indirekt. aus »Durch ein Zusatzzeichen kann die Parkerlaubnis … beschränkt sein.«
Stilblüten
Legt man die StVO nach ihrem Wortlaut aus, entstehen durch die Neuformulierung ein paar verblüffende Änderungen.
Wie ist § 22 Absatz 3 nun zu verstehen? »Die Ladung darf bis zu einer Höhe von 2,50 m nicht nach vorn über das Fahrzeug, bei Zügen über das ziehende Fahrzeug hinausragen.« Im zweiten Halbsatz wurde das »nicht« gestrichen, also dürfen Züge nun mit nach vorne ausragender Ladung fahren?
Nun dürfen auch Beifahrer das Handy nicht halten, wenn der Fahrer damit telefoniert. § 23 Absatz 1a: »Wer ein Fahrzeug führt, darf ein Mobil- oder Autotelefon nicht benutzen, wenn hierfür das Mobiltelefon oder der Hörer des Autotelefons aufgenommen oder gehalten werden muss.« Bisher war dies »dem Fahrzeugführer« untersagt, der wohl dem Gender-Passiv weichen musste.
Und auch Autofahrer dürfen nicht mehr freihändig fahren. § 23 Absatz 3: »Wer ein Fahrrad oder ein Kraftrad fährt, darf sich nicht an Fahrzeuge anhängen. Es darf nicht freihändig gefahren werden.« Bisher lautete die Aufforderung »Sie dürfen nicht freihändig fahren.« Der Bezug auf den vorangehenden Satz ist wahrscheinlich auch der Geschlechtsneutralität gewichen, womit unbemerkt der Sinngehalt verändert wurde.
Fazit
Was wurde aus den Zielen der StVO-Änderung?
- Bürgernah?
- Nein, denn die gewählte Kunstsprache ist nicht die des Volks.
- Leichter verständlich?
- Nein, sondern die Sätze wurden komplizierter und ein eindeutiger Adressat wird häufig nicht mehr angesprochen.
- Einfacher?
- Nein, die Verkehrsregeln bleiben von zahlreichen Ausnahmen durchsetzt.
- Weniger Verkehrszeichen?
- Eher mehr, weil ihre Variantenzahl nun gestiegen ist und sie unbemerkt über den Verkehrszeichenkatalog vermehrt werden können.
- Übersichtlich?
- Im Gegenteil – gleichartige Regeln wurden auseinander gerissen und in Anlagen versteckt.
- Wenigstens konsistent?
- Nein, die Änderungen wurden nicht einheitlich durchgehalten.
- Sinnvolle Regeln?
- Schon gar nicht. Eine Straßennutzungsordnung, die alle Verkehrsteilnehmer gleichstellt und von ihnen verstanden werden kann, sieht anders aus.
Zum Autor
Bernd Sluka, Diplom-Mathematiker, tätig als Berufsschullehrer (Mathe, Oberstufe), Alltagsradfahrer, verbandlich gebunden im VCD Landesverband Bayern, Fachgebiete: Verkehrsrecht, Radverkehr, Verkehrsberuhigung, Autoverkehr.