Ausgabe 11 · April 2010

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Grenzen des Ledersattels

von Juliane Neuß

Ein Ehepaar kommt in einen Fahrradladen, beide suchen sich ein Fahrrad aus. Als es um die Wahl des Sattels geht, sagt der Mann zu seiner Frau: »Hier, nimm den Ledersattel, der ist gut, den fahr’ ich auch!«

Wenn etwas nicht funktioniert, dann ist es die Sattelempfehlung eines Mannes an eine Frau! Außerdem passt die Beckenform der Frau nur in den seltensten Fällen zu dem »Prinzip Ledersattel« und ist sehr von der Sitzposition abhängig.

Der Ledersattel hat seine Grenzen. Um diese Grenzen zu verstehen, muss man sich das Prinzip des Sitzens auf dem Sattel klar machen und sich über den Unterschied zwischen Mann und Frau bewusst sein.

Bild 1: Drei mögliche Beckenpositionen bei gerader Rückenhaltung

Es gibt drei mögliche Positionen, auf einem Fahrradsattel zu sitzen. Die erste Position ist die aufrechte Hollandradposition. Dabei steht das Becken senkrecht und die Wirbelsäule bildet die korrekte Verlängerung der Beckenachse.

Bild 2: Beckenbelastung vollflächig auf den Sitzbeinhöckern und durch leicht angehobener Sattelnase in der aufrechten Hollandradposition

Das Becken wird ausschließlich auf den hinten liegenden Sitzbeinhöckern belastet, die Sitzbeinhöcker bilden nach längerer Zeit Kuhlen im Sattelleder, der Sattel ist eingesessen. Im Extremfall wird die Sattelnase leicht angehoben, um den vorderen Beckenbereich zu unterstützen. Das ist besonders dann notwendig, wenn durch eine zu gering gefestigte Bauchmuskulatur oder starkes Übergewicht (Wampe) das Becken nach vorne/unten gezogen wird.

Bild 3: Geneigte Sitzhaltung mit unterschiedlicher Beckenstellung

Die zweite Position ist die leicht bis mittelstark geneigte Sitzposition. Je nach Rahmengeometrie, Sitzgewohnheit und Druckempfindlichkeit sitzt der Fahrer dabei entweder immer noch ausschließlich auf den Sitzbeinhöckern oder das Becken ist mit dem Rücken zusammen nach vorne geneigt und liegt mit seiner ganzen Unterseite auf dem Sattel auf.

Sitzt der Fahrer noch ausschließlich auf den Sitzbeinhöckern, muss er für diese Position den Rücken krumm machen.

Bild 4: Rückenrundung mit zweifach geknickter Rückenachse

Er hat dann keine Sattelprobleme, aber eventuell irgendwann Rückenprobleme, weil der gerundete Rücken die Bandscheiben überlastet. Außerdem fällt durch die Rückenrundung im unteren Bereich der Schulterbereich nach vorne, und zum geradeaus gucken muss der Kopf mehr oder weniger stark in den Nacken gelegt werden.

Liegt das Becken mit seiner Unterseite komplett auf dem Sattel auf, ist ein Y-förmiger Bereich belastet, dem die Sattelform entsprechen sollte.

Bild 5: Geneigte Sitzposition mit geradem Rücken und größtmöglich aufliegendem Becken
Bild 6: Y-Form der Beckenunterseite: Links männliches Becken, rechts weibliches Becken

Männer sind in dieser Situation deutlich im Vorteil, weil deren Becken-Unterseite eine ebene Fläche darstellt, genauso eben, wie ein gut gespannter Ledersattel. Das weibliche Becken ist auf seiner Unterseite gewölbt.

Bild 7: Unterschiedliche Beckenwölbung und Sattelbelastung auf Gipsmodell

Wenn eine Frau sich beim Radfahren nach vorne neigt und dabei das Becken mit dem Rücken kippt (so ist es ergonomisch korrekt), dann sitzt sie besonders im vorderen Bereich mehr oder weniger punktuell auf der Sattelnase auf, vor allem, wenn die Satteloberfläche nicht nachgibt.

Bild 8: Satteldruckbilder von Mann und Frau

Ist ein Ledersattel so weich gefahren, dass er nachgibt, spreizen sich dabei die Sattelflanken nach außen, sodass die Beine auf der Innenseite aufgescheuert werden. Spannt man den Ledersattel nach, gibt die Oberfläche nicht mehr genügend nach.

Das weibliche Becken zeigt zusätzlich noch eine Besonderheit in der Stellung der Oberschenkel.

Bild 9: Ausrichtung der Hüftgelenkspfannen bei Mann (li.) und Frau (re.)

Betrachtet man weibliches und männliches Becken von der Seite, fällt auf, dass die Richtung der Hüftgelenkspfannen unterschiedlich ist. Beim männlichen Becken zeigen die Pfannen waagerecht zur Seite, beim weiblichen schräg nach unten. Der Grund ist die Beckenbreite. Bei identischem Winkel zwischen Oberschenkelhals und Oberschenkel muss der Oberschenkelknochen der Frau in einem steileren Winkel zur Körpermitte stehen als der des Mannes.

Bild 10

Für das Radfahren bedeutet das, dass die Frau die Beine enger am Sattel vorbei bewegt als der Mann. Sie ist dadurch weniger tolerant gegen breite Sattelflanken als der Mann und benötigt einen eher T-förmigen Sattel.

Bild 11: T-förmiger und dreieckiger Sattel

Bei einem T-förmigen Sattel ist die Sattelnase schmal und der Sattel wirkt tailliert, weil er erst ganz zum Schluss breiter wird. Ein dreieckiger Sattel, wie er meistens als »Damensattel« angeboten wird, ist für die Frau in einer leicht geneigte Sitzposition schon nicht mehr geeignet. Wenn Frauen zu breite Sättel fahren, dann rutschen sie auf dem Sattel nach vorne, um mit den Beinen an der Sattelflanke vorbei zu kommen. Durch das nach vorne Rutschen verkleinert sich die mögliche Auflagefläche auf dem Sattel und der Druck im Schambereich wird sehr hoch.

Da der Ledersattel an drei Punkten aufgehängt ist, entspricht er in den meisten Fällen eher dem dreieckigen Sattel als dem T-förmigen Sattel. Die Ausnahmen sind die Sättel »Swift« und »Colt« von Brooks, die aber wegen der harten Oberfläche im Bereich der Sattelnase von Frauen eher nicht gefahren werden.

Die dritte Möglichkeit, auf einem Sattel zu sitzen, ist die weit nach vorne geneigte Rennposition, bei welcher der vordere Schambereich stark belastet wird (Triathlon). Hier findet man in der Regel niemanden, der einen Ledersattel fährt, weil ein Ledersattel nicht nur zu unnachgiebig in der Sattelnase ist, sondern auch zu schwer wäre.

Bild 12: geneigte Sattelnase

Bei stark geneigter Sitzposition wird sinnvollerweise die Sattelnase 1–3 cm gesenkt, um die Beckenkippung so weit wie möglich auszunutzen, damit die Wirbelsäule im Bereich der Lendenwirbel nicht unnötig überlastet wird. Durch die Schrägstellung ist der Fahrer auf eine gewisse Haftreibung auf dem Sattel angewiesen, damit er sich nicht zu stark mit den Händen abstützen muss. Diese Haftung ist auf einem glatten Ledersattel meistens nicht gegeben. Frauen können in sportlicher Haltung kaum mit geneigter Sattelnase fahren, da sie durch die gerundete Beckenunterseite nach vorne »rollen« würden. Der Druck auf den Händen würde zu stark. Nur wenn die Sattelnase trotz Schrägstellung der Sattelfläche wieder ansteigen würde (Sonderkonstruktion), könnte dieser Effekt verhindert werden.

Bild 13: Prinzip Sattel mit Kuhle, Gipsabdruck unter Belastung

Zusammenfassung

Ein Ledersattel funktioniert gut bei aufrechter oder leicht geneigter Sitzposition, bei der hauptsächlich die Sitzbeinhöcker belastet werden. Die meist dreieckige Sattelform und die gespannte Satteloberfläche prädestinieren den Sattel für Männer, die aufgrund ihrer Beckenform besser zu diesem Sattel-Prinzip passen. Die geringe Nachgiebigkeit der Sattelnase mit entsprechender Druckschmerzproblematik verführt durch die automatische Ausweichbewegung zu einer Verstärkung des Rundrückens bei stärker geneigter Sitzposition. Frauen können Ledersättel fast ausschließlich in der aufrechten Position fahren, oder wenn das Becken nicht mit der geneigten Wirbelsäule nach vorne gekippt wird. Die Unnachgiebigkeit der Sattelnase passt nicht zu der punktuellen Sattelbelastung, welche die Frau aufgrund der gewölbten Beckenunterseite hat. Da im Sportbereich die Sattelbelastung sehr weit vorne im Bereich der eher unnachgiebigen Sattelnase liegt und Ledersättel schwerer sind als moderne Kunststoff-Konstruktionen, findet der Ledersattel dort keine Verwendung.

Zur Autorin

Juliane Neuß, von Beruf Technische Assistentin für Metallographie und Werkstoffkunde. Ihre Berufung: Fahrradergonomie. Betreibt seit 1998 nebenberuflich die Firma Junik-Spezialfahrräder und Zubehör, hat 6 Jahre lang die Filiale eines Fahrradladens in Hamburg geleitet und schreibt regelmäßig die »Tech Talks« für die Radwelt (ADFC). Lebt autofrei mit 8–12 Fahrrädern und 8 bis 10 Tkm pro Jahr.