Ausgabe 11 · April 2010

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Vivavelo – Branchentreff mit politischem Anspruch

von Andreas Oehler

Ende Februar 2010 rief der VSF (Verbund Selbstverwalteter Fahrradbetriebe e. V.) zum Fahrrad-Kongress Vivavelo ins verschneite Berlin. Knapp 300 Teilnehmer kamen und nahmen sich 2 Tage Zeit für Vorträge, Workshops und Podiumsdiskussionen, aber auch zum Feiern und »vernetzen«. Das Ganze erinnerte an »Fahrrad Markt Zukunft« in Bremen – bevor es zur Endverbrauchermesse wurde. Während es im Bremen der 90er Jahre aber im wesentlichen um die Fortbildung von Fahrradhändlern ging, hatte Vivavelo einen umfassenderen, gar politischen Anspruch. Neben den Fortbildungsworkshops ging es jetzt darum, wie man die Fahrradbranche als Lobby organisieren kann, um auch in schwarz-gelben Zeiten das Fahrrad als Verkehrsmittel voran zu bringen.

Schlipsträger im Glaspalast

Der VSF hatte sich alle Mühe gegeben, »wichtig« zu wirken. Statt kostengünstigem rustikalen Tagungshaus musste es ein Glaspalast im Berliner Regierungsviertel sein: die Landesvertretung NRW. Im Publikum und auf dem Podium viel Schlips und Kragen – kaum jemand, dem man den Fahrradschrauber angesehen hätte. Auch die Teilnahmegebühr von 270 € ohne Übernachtung, zudem an Werktagen, schreckte »nur« fahrrad-interessierte Menschen ab.

Bild 1: geführte Radtour durchs verschneite Regierungsviertel

Los ging es am Montag früh immerhin standesgemäß mit einer Radtour in kleineren Gruppen und ortskundigen Führern durchs Berliner Regierungsviertel. Wenige Teilnehmer waren auf eigenen Rädern dabei, die meisten hatten sich bei den bereitstehenden Leih-Pedelecs oder »Eltern-Taxi«-Tandems bedient. Am ersten Kongresstag drehten sich die Vorträge um generelle Zukunftsthemen der Branche. Jan Mücke, Parlamentarischer Staatssekretär im Bundesverkehrsministerium, war voll des Lobs für die der Krise trotzenden Fahrradbranche mit 13 Milliarden Euro Umsatz im Jahr und über 200.000 Beschäftigten. Entgegen anderslautenden Gerüchten werde das Projekt »Nationaler Radverkehrsplan« weiter fortgesetzt.

Ex-Verkehrsminister und amtierenden Verkehrswacht-Präsident Kurt Bodewig warb dafür, Möglichkeiten zur Fahrradmitnahme im ICE schaffen. Das Pedelec sorge dafür, dass der Radverkehr schneller werde. Das müsse bei der Infrastruktur berücksichtigt werden.

Jeanette Huber vom »Zukunftsinstitut« sieht die Krise als Wandlungsanreiz. Es gebe einen Wertewandel bei der Mobilität. Bei jungen Menschen tauge der Pkw bereits nicht mehr als Statussymbol.

Manfred Tauscher von Sinus Soziovision hat im Auftrag des ADFC eine bundesweite, repräsentative Befragung durchgeführt. Die Bevölkerung, also nicht nur die Fahrradbegeisterten, sei in ihrer Pro-Fahrradeinstellung der Politik weit voraus. Überraschend im aktuellen Pedelec-Hype: Über 75 % der befragten interessiert das Thema Elektrofahrrad wenig bis gar nicht.

Prof. Andreas Knie ist bei DB Rent zuständig für die Verleihradflotte der Bahn. Sein Motto: Nicht mehr jeder besitzt seinen eigenes Rad oder Auto, sondern Mobilität wird als Dienstleistung zur Verfügung gestellt. Es gebe eine wachsende Gruppe der »Metromobilen« die nicht mehr auf den Privat-Pkw fixiert seien. Zunehmender Radverkehr gehe aber nicht automatisch zu Lasten des Autoverkehrs. Beispielsweise sei in Münster die Fahrradnutzung mit über 30 Prozent eindrucksvoll, der MIV-Anteil aber sogar größer als in vergleichbaren Städten. Der Busanteil wäre in Münster dafür sehr gering. In Hamburg hingegen habe das neue Radverleihsystem mit 800 Rädern erreicht, dass nennenswert vom MIV umgestiegen würde und die Zahl der HVV-Abos steige, weil die Kombination Rad und ÖPNV besonders attraktiv sei. 2010 startet »Stadtrad Berlin«. Im Gegensatz zu anderen Städten wird hier kein Mobiltelefon mehr nötig sein. Man meldet sich statt dessen mit einer Kundenkarte an Terminals an. Übrigens: 51 % aller Call-a-Bike Nutzer besäßen eine Bahncard – 60 % allerdings hätten eine Miles & More-Vielflieger-Karte. Das oft gescholtene Thema »Fahrradmitnahme im Fernverkehr« vermied Knie. Ob doch was dran ist an dem Vorwurf, die Bahn würde Call-A-Bike als Fahrrad-Förderungs-Feigenblatt aufbauen, um auch weiterhin die die Mitnahme im ICE zu verhindern?

Wie schafft man eine Fahrrad-Lobby?

Beim Podiumsgespräch am Abend ging es darum, dass die Branche im Vergleich zur Autolobby politisch wenig Einfluss besitzt. Können Handel, Industrie und Verbände daran etwas ändern? Heidi Wright saß lange als SPD-Abgeordnete im Verkehrsausschuss des Bundestages. Außerdem ist sie seit 2004 stellvertretende Vorsitzende des ADFC. Ihrer Meinung nach ist das Fahrrad politisch immer noch ein Randthema. Unsichere Politiker wie der neue Verkehrsminister Ramsauer suchen vermeintlich starke Themen, um sich damit gegenüber der Öffentlichkeit zu profilieren. Verkehrsgroßprojekte bei Bahn und Straßenbau oder der Lkw-Verkehr erscheinen da wichtig. Das Fahrrad zähle hier nicht dazu.

Andreas Gehlen, Geschäftsführer von Anhänger-Großhändler »Zwei plus Zwei«, beantwortete Moderator Michael Adler (Chefredakteur der VCD-Zeitschrift »fairkehr«) die Frage, warum die Branche politisch so unauffällig sei: »Unsere Branche ist nicht strukturiert wie die Autobranche.« Die kleinteilige, heterogene Unternehmensstruktur der Fahrradbranche mache es schwer, sich zu organisieren.

Dr. Friedemann Kunst, oberster Verkehrsplaner der Berliner Stadtverwaltung, berichtete, die vorhandene Fahrrad-Infrastruktur deutscher Städte sei dem zunehmenden Ansturm der Radfahrer vielfach nicht mehr gewachsen. Die Kommunen müssten deshalb dringend Geld in die Hand nehmen, um die Situation zu verbessern. »Ich kann durch die Förderung des Radverkehrs mit sehr geringem Geld sehr viel erreichen« – auch eine spürbare Verringerung des motorisierten Verkehrs.

Franz Linder von der Kölner Agentur P3 berät Kommunen in Nordrhein-Westfalen bei der Verkehrsplanung. Dass dort oft ziemlicher Murks getrieben wird, kann Linder u. a. in seiner Heimatstadt beobachten: »Da werden Radwege mit feinstem Marmor eingefasst, sind aber nur 90 cm breit.« Seine Forderung: »Wenn die Fahrradinfrastruktur attraktiver werden soll, müssten Radwege künftig vier Meter breit angelegt werden.« Ordentliche Velotrassen seien auch geeignet für schnelle Radler, erlaubten gefahrloses Überholen und seien komfortabel zu befahren.

So etwas ist nicht realisierbar, ohne dem motorisierten Verkehr Flächen wegzunehmen. Dazu wiederum sei breite politische Unterstützung nötig. Wie betreibt man aber die dazu notwendige Lobbyarbeit? Dr. Toni Hofreiter, verkehrspolitscher Sprecher der Grünen im Bundestag, sagt dazu: »Der Radverkehr muss bei Wahlen spielentscheidend sein, erst dann passiert was.« Also erst wenn die Wähler ihre Stimmabgabe davon abhängig machen, ob ein Politiker oder eine Partei den Radverkehr fördert, erst dann werden auch die Gewählten ihr Tun entsprechend ausrichten. Dabei reiche das altbekannte Mittel der Wahlprüfsteine nicht. Darauf würde jede Partei nur mit unverbindlichen Sonntagsreden antworten. Es müssen vor einer Wahl die Aktivitäten und Versäumnisse der vergangenen Legislaturperiode klar angesprochen werden. Eine Aufgabe, bei der der Grünen-Politiker auch die Fahrradindustrie in der Pflicht sieht.

Podiumsdiskussion Warentest

Der zweite Kongresstag startete mit einem vielfältigen Workshop-Programm, bestehend aus vier parallelen Blöcken. Hier hatte man die Wahl zwischen den Themen Elektrofahrrad, dem Spannungsfeld Händler-Hersteller, Fahrradnormen sowie Inititativen zur Radverkehrsföderung.

Bild 2: Podiumsdiskussion zu Produkttestests der Stiftung Warentest

Bei der Podiumsdiskussion am Mittag ging es um einen regelmäßigen »Aufreger«: Fahrrad- und Teiletests der Stiftung Warentest. Sind diese Produkttests ein Lotteriespiel für die Branche? Dr. Holger Brackemann, Leiter des Bereichs Untersuchungen bei der StiWa, Fahrradsachverständiger Dirk Zedler, ADFC-Bundesgeschäftsführer Horst Hahn-Klöckner und Mathias Seidler, Geschäftsführer von Fahrradhersteller Derby Cycle Werke wurden von Moderator Gunnar Fehlau zum Streiten motiviert.

Der Derby-Chef warf ein, dass oftmals Zufälle über Testsieg oder Abwertung entscheiden und regelmäßig Äpfel mit Birnen verglichen worden seien. Was ihm vor allem fehlt, ist die Transparenz und Nachvollziehbarkeit der Prüfverfahren. In die gleiche Kerbe schlug Dirk Zedler: »Dadurch verhindern Sie den Fortschritt und dass die Branche aus den Fehlern lernen kann.« Es helfe nichts, wenn die StiWa nur die knappen Ergebnisse veröffentliche. Brackemann stellte klar, dass es nicht die Aufgabe der Stiftung Warentest wäre, die Qualitätssicherung der Hersteller zu übernehmen.

Großen Streit gab es um sinnvolle Prüfverfahren. Fahrradhersteller und Sachverständige wie Zedler bevorzugen die einfachere an die EU-Normen angelehnten Prüfungen. Der von der StiWa beauftragte Prof. Füglein führt hingegen einen Betriebslasten-Test auf seinem kostspieligen Hydropulser durch. Dieses Verfahren ermöglicht zwar, relativ praxisnahe Belastungen zu simulieren. »Oft werden aber doch Schadensbilder produziert, die nicht in der Praxis beobachtbar sind«, stellt Zedler fest. Übereinstimmend wurde bemängelt, dass Schäden, die in der Praxis tatsächlich auftreten, nicht systematisch gesammelt werden. ADFC-Geschäftsführer Horst Hahn-Klöckner lobte die Produkttests der StiWa als »Top-Informationsquelle« für Fahrradkäufer. Die Branche hätte nicht konsequent die aufgedeckten Mängel abgestellt. Als Beispiel wurde ein im Test gebrochener Lenker genannt, der trotzdem in gleicher Ausführung weiter verkauft würde. Weitere Beispiele waren beim Test durchgefallene Fahrräder oder Schlösser, die mit geändertem Namen aber gleichen Eingeschaften erneut in den Handel kamen.

Messestände im Foyer

Als Rahmen der Veranstaltung dienten eine Reihe kleiner Messestände im Foyer, wo ausgesuchte Hersteller interessante Lösungen fürs Alltagsrad vorstellten. Busch&Müller zeigte hier sein Nabendynamo-Ladegerät »E-Werk« und schilderte die Fallstricke im riesigen Markt der Mobilgeräte. Zudem gab es erstmalig den neuen LED-Scheinwerfer Lyt in seriennaher Form zu bestaunen. Utopia hatte ihr Pedelec-Konzept »E-Support« mitgebracht. Ein eindrucksvoller Kabelbaum verbindet dabei Steuerung am Lenker und Akkupack seitlich am Tubus-Spezialgepäckträger. Die Steuerung speichert viele Informationen – z. B. Zahl und Umfang der Ladevorgänge. Utopia garantiert 1.000 Ladevorgänge für den Akku. Der Arbeitskreis B.A.U.M. bewarb seinen Wettbewerb zum fahrradfreundlichsten Arbeitgeber.

Bild 3: Pausengespräche und Messestände im Foyer

Resolution

Schon in Aufbruchsstimmung wurde ohne Diskussion einstimmig eine Resolution verabschiedet, in dem die Forderungen der Branche an die Verkehrspolitik in zehn Punkten zusammengefasst wurden.

  • Nationaler Radverkehrsplan: Dieser positive Impuls für den Radverkehr müsse verstärkt werden. Nötig seine klare quantitative Ziele, insbesondere die Steigerung des Radverkehrs von 10 auf 25 Prozent von 2008 bis 2020 bei Einsparung von PKW-Kurzfahrten im innerstädtischen Bereich. Dies erfordert eine Aufstockung der Bundesmittel für den Radverkehr von jährlich 100 Mio. Euro auf 1 Mrd. Euro pro Jahr.
  • Gleichstellung bei der Förderung: Der Modal Split belegt, dass ÖPNV und Radverkehr quantitativ etwa in gleicher Weise genutzt werden. Deshalb soll auch finanziell vergleichbar gefördert werden.
  • Umsatzsteuerliche Gleichstellung der Produkte und Dienstleistungen rund ums Fahrrad mit dem ÖPNV, also reduzierter Mehrwertsteuersatz von 7 %.
  • Infrastruktur: Die bisherige Infrastruktur reicht für wachsenden Radverkehr nicht aus. Radfahrer benötigen breitere Wege im Sichtfeld des MIV. Kreuzungsarme Schnelltrassen sollen für Komfort sorgen.
  • Verkehrssicherheit: 37 Prozent aller Radnutzer fühlen sich nicht sicher. Eine Verkehrssicherheitskampagne soll beim Verursacher der Gefahr, Autos und Lkw, ansetzen.
  • Mentalitätswechsel: Es fehlt eine Verkehrskultur des rücksichtsvollen Miteinanders sowie ein »Recht des Schwächeren«.
  • PR und Öffentlichkeitsarbeit: Der Bund soll eine große Imagekampagne pro Radverkehr finanzieren. Ausgangspunkt: die aktuelle Kampagne »Kopf an – Motor aus«
  • Rechtliche Rahmenbedingungen: Fahrrad-bezogene StVO-Novellen werden begrüßt und sollten fortgesetzt werden. Die Öffentlichkeit ist u. a. über die Aufhebung der generellen Radwegbenutzungspflicht nachdrücklich zu informieren.
  • Lebensqualität: Mehr Raum für Fußgänger und Radfahrer erhöht die Lebensqualität und führt zu attraktiveren, lebendigeren Städten.
  • Fahrradsozialisation: Kinder leiden häufig an Bewegungsarmut und motorischer Unterentwicklung. Radfahren unterstützt die gesundheitliche und intellektuelle Entwicklung auf spielerische Weise. Deshalb sollten sie früh ans Radfahren als normales Mobilitätsverhalten herangeführt werden.

2012 soll die Veranstaltung erneut stattfinden. Der Ansatz, die Branche in Richtung gemeinsamer Lobby zu vereinen, ist sicher lobenswert. Ob ein Kongress alle 2 Jahre dazu aber ausreicht? Insgesamt fehlte die Möglichkeit zur breiten Diskussion. Die im Abschlusspapier formulierten Forderungen sind nicht sehr originell. Die Forderungen nach viel teurer Infrastruktur scheint eher von vorgestern.

Zum Autor

Andreas Oehler (40) arbeitet als Maschinenbauingenieur beim Fahrradbeleuchtungshersteller Schmidt Maschinenbau.