Ausgabe 27 · Dezember 2018

Diesen Artikel als PDF

Speichenbruch unterwegs

von Reinald Bäß

Ich wohnte Anfang der 1990er Jahre in Halle an der Saale und machte mit dem Rad gern Ausflüge in die reizvolle Umgebung. Bei strahlendem Sonnenschein auf einer Tour ins schöne Wettin machte es plötzlich »Peng« und der Geradeauslauf des Hinterrads war dahin. Ein von verdächtigen Schleifgeräuschen begleitetes Bremsmanöver machte einen Nothalt am Straßenrand unausweichlich.

Diagnose

Die Sichtprüfung des Laufrads offenbarte den Bruch einer Speiche links am Nabenflansch. Die nun fehlende Zugkraft der Speiche bewirkte an der Stelle eine deutlich sichtbare Auslenkung der Felge nach rechts. Die Bremswirkung hatte der Reifen durch periodisches Schleifen an der Kettenstrebe zu verantworten. Was also tun?

Abhilfe

Die Vorgehensweise hängt von der Verfügbarkeit einiger Werkzeuge ab. Ich selbst hatte damals kaum etwas dabei. Aber das muss ja nicht für euch gelten. Nehmen wir einmal an, ihr seid …

Berufsradfahrer

und der Defekt passiert beim Training oder im Rennen. Dann braucht ihr eigentlich nicht weiterzulesen. Der Materialwagen ist zwischenzeitlich da. Der Rennmechaniker ersetzt das komplette Laufrad und wartet nur noch darauf, dass ihr die Fahrt fortsetzt. Oder ihr seid in ähnlich komfortabler Lage wie der niederländische Hobbyfahrer, den ich vor Jahren einmal am Col de la Cayolle in den französischen Alpen traf. Dessen Gattin fuhr im Pkw voraus und versorgte ihn (und mich) in regelmäßigen Abständen mit Erfrischungen. Im Ernstfall hätte das auf dem Dach befestigte Ersatzfahrrad hergehalten. Da diese Umstände in vielen Fällen nicht zutreffen dürften empfehle ich für …

Vorsichtige Radtouristen

folgende Ausrüstung: Reservespeichen und -nippel, Nippeldreher, Zahnkranzabnehmer, Kettenpeitsche, Schlüssel für Achsmuttern und Bremsscheiben.

Zuhause packt ihr am besten gleich mehrere Reservespeichen ein. Natürlich in den richtigen Längen. Mehrere Längen? Jawohl, denn oft sind die Speichen vorn und hinten, links und rechts verschieden lang. Die verbauten Längen können beim Fahrradhersteller oder beim Laufradbauer in Erfahrung gebracht werden. Ist beides nicht möglich, dann könnt Ihr die Länge einer eingebauten Speiche wie hier gezeigt ausreichend genau selbst messen.

Bild 1: Speichenlänge messen vom Felgenboden …
Bild 2: … bis zum Ende des Speichenkopfes. Diese ist 280 mm lang.

Auch die Speichensorte sollte berücksichtigt werden. Zumindest die Durchmesser der Speiche am Kopf und am Nippel müssen gleich sein. Bei »Systemlaufrädern« mit modellgebundenen Speichen muss immer eine Originalspeiche verwendet werden. Ebenfalls im Gepäck habt ihr als vorsorgende Radfahrer einen passenden Speichenschlüssel, den ich lieber Nippeldreher nenne, denn eben dazu wird das Werkzeug gleich gebraucht. In unserem oben geschilderten Fall – Speiche am Nabenflansch gebrochen – drehen wir die gebrochene Speiche im Laufrad nach oben, fixieren den Nippel mit dem Werkzeug und drehen die Speiche mit der anderen Hand heraus.

Bild 3: Drehrichtung zum Lösen des Nippels. Gängiges Maß des Vierkants ist 3,25 mm, wie beim »Proline Spokey« von DT Swiss.

Dabei ist darauf zu achten, dass der gelöste Nippel nicht in die Felge rutscht. Unten am Flansch ggf. das Bruchstück entfernen. Nun die neue Speiche mit der gleichen Kopflage – also nach außen oder innen - einziehen. Auch die Kreuzung so legen wie zuvor. Sucht einen halbwegs geraden Weg und biegt die Speiche bei Bedarf in weichen Radien, um an den Nachbarspeichen vorbeikommen. Dies schadet der Speiche nicht und sie nimmt später unter Zug wieder Form an.

Bild 4: Neue Speiche links mit der bisherigen Kopflage (hier Kopf innen) einziehen.
Bild 5: Speiche bei Bedarf etwas biegen und wie zuvor über und unter den Nachbarspeichen verlegen.
Bild 6: Speiche zum Nippel führen und verschrauben. Nippel dabei nicht ins Felgenbett schieben!

Sollte nicht genügend Platz sein, weil ein Zahnkranz oder eine Bremsscheibe im Weg ist, müsst ihr das Laufrad herausnehmen. Nun seid ihr froh, den Schlüssel für die Achsmuttern dabei zu haben. Anschließend kommen Ritzelabnehmer und Kettenpeitsche zum Einsatz, und bei im Weg stehender Bremsscheibe wird auch diese mit dem Torx- oder Innensechskantschlüssel oder dem Abnehmer für Center Lock-Scheiben gelöst. Am Nippel angekommen, diesen mit der Speiche verschrauben. Beachtet die Gewindedrehrichtung. Da es sich um ein Rechtsgewinde handelt, wird der Nippel vom Vierkant aus betrachtet gegen den Uhrzeigersinn gespannt. Dazu den Nippel anziehen, bis die Speiche beim Anzupfen in etwa den gleichen Klang wie ihre Nachbarspeichen auf derselben Seite hat. Alternativ prüft ihr von Hand auf gleiche Elastizität. Mit der Klangmethode gelingt es meist, der Felge wieder ihren ursprünglichen Rundlauf zurückzugeben. Nun Ritzel und Bremsscheibe montieren und das Laufrad einbauen. Bei Bedarf kann an der erneuerten Speiche abschließend noch feinjustiert werden. Andere Speichen solltet ihr möglichst nicht antasten.

Kommen wir zu meiner oben beschriebenen Situation zurück. Ich hatte nur ein einziges Werkzeug dabei, denn …

Mutige Radler

verzichten auf die meisten der oben aufgeführten Werkzeuge und sparen so locker 1 kg Gepäck. Das kleinste und leichteste Untensil, der Nippeldreher, passt aber in jede Trikottasche und ist im Ernstfall sozusagen die halbe Miete. Bei einem Speichenbruch können damit die benachbarten Speichen derselben Seite angezogen werden, um die in ihrer Mitte fehlende Zugkraft halbwegs ausgleichen.

Bild 7: Mut zur Lücke: Nachbarspeichen (grün) können eine ausgefallene Speiche (rot) durch erhöhten Zug ausgleichen.

Dies gelingt umso besser, je mehr Speichen das Laufrad hat und je geringer somit der Anteil einer einzelnen Speiche an der Konstruktion ist. Man wird den Rundlauf nicht vollständig wiederherstellen, aber es reicht, um weiterzufahren. Bei Felgenbremsen kann zusätzlich der Abstand zwischen Felge und Bremsbelägen vergrößert werden.

Warum Speichen brechen

Selbst auf glattem Asphalt verändert sich mit jeder Radumdrehung die Zugkraft, die auf jede Speiche wirkt. Steht die Speiche senkrecht oben, dann »hängt« die Nabe daran in der Felge. Mit der Drehung des Laufrads steht diese Speiche bald senkrecht unter der Nabe und wird entlastet. Hinzu kommen wechselnde Kräfte durch Fahrbahnunebenheiten, Pedalieren, Bremsen und Kurvenfahrt. Eines Tages wird jede Speiche durch diese Beanspruchung ermüden, die Frage ist nur: wann. Während ein hochwertiges Laufrad ohne weiteres 30.000 km und mehr durchhält, versagen andere schon nach wenigen hundert. Die Art des Bruchs gibt Aufschluss über mögliche Ursachen.

  • Bruch am Nabenflansch: Meist ein Dauerschwingbruch durch zu geringe Zugkraft (nicht ganz korrekt auch »Vorspannung«) der Speiche. Die Speiche ist dann durch wechselnde Belastungen im Fahrbetrieb ständig in Bewegung und wird häufig gegen Null entlastet.
  • Bruch am Nippel: Wenn der Nippel sich nicht im Winkel der Speiche ausrichten kann, ist ein Bruch unter dem Speichengewinde »garantiert«.
  • Bruch in der Mitte: Korrosion aufgrund von Umwelteinflüssen, besonders Streusalz - auch beste Edelstahlspeichen sind hiervon nicht ausgenommen. Eher seltenes Phänomen.
  • Bruch durch äußere Beschädigung: Ein Kettenabwurf kann Speichen einkerben und Sollbruchstellen herbeiführen, auch Steine o.ä. Fremdkörper können Speichen schädigen.
Bild 8: Ungeeignete Felge: Winkel von Speiche (rot) und Nippel (blau) stimmen nicht überein.

Nach dem Speichenbruch

Die oben genannten Abhilfemaßnahmen sind Notreparaturen (Lösung mit Materialwagen ausgenommen). Zuhause angekommen sollte man die Ursache herausfinden und beheben, da ansonsten weitere Brüche wahrscheinlich sind.

  • Bruch am Nabenflansch: Der Dauerschwingbruch ist betriebsbedingt irgendwann normal. Eine Speiche macht den Anfang, weitere werden folgen. Hier müssen alle Speichen ersetzt werden.
  • Bruch am Nippel: Das Winkelproblem ergibt sich bei großem Felgendurchmesser des Nabenflanschs und kleinem Felgendurchmesser, bei kleinem Felgendurchmesser und nicht im Winkel gebohrten Nippelsitzen sowie bei zu hohem Kreuzungsanzahl der Speichen. Hier kann anhand der Geometrie und den Anforderungen an die Drehmomentübertragung die Lösung mit dem Komponentix Wheel Designer ermittelt werden. Weitere Speichenrechner finden sich z.B. unter sheldonbrown.com oder leonard.io
  • Bruch in der Mitte: Korrosion aufgrund von Umwelteinflüssen. Komplette Neueinspeichung, da auch hier weitere Speichen betroffen sein können.
  • Bruch durch äußere Beschädigung: Nur bei geringer Kilometerleistung (< 500 km) kommt der gezielte Austausch der sichtbar beschädigten Speichen in Frage, ansonsten auch hier eine Neueinspeichung.

Zum Autor

Reinald Bäß, KFZ-Mechaniker, Industrie-Designer, seit 2003 Laufradbauer, Inhaber von Komponentix Handmade Wheels, Berlin