Ausgabe 27 · Dezember 2018
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Car Go! Bike Boom!!!
Jürgen Ghebrezgiabiher und
Eric Poscher-Mika:
Car Go! Bike Boom!!! – Wie Transporträder unsere Mobilität
revolutionieren.
Gera: Maxime Verlag,
2018.
224 Seiten.
27 €.
ISBN: 9783906887043
Ein paar Tage vor Weihnachten 2015 flatterte mir eine E-Mail von Juergen Ghebrezgiabiher und Eric Poscher-Mika in mein Postfach, in der auf das Crowdfunding für ein geplantes Transportradbuch hingewiesen und gleichzeitig um Unterstützung gebeten wurde.
Ich meldete mich, da ich Lust hatte, mich mit einem kleinen Beitrag über meine Amsterdam-Erfahrungen einzubringen. Die beiden Autoren freuten sich darüber und sagten zu. Eric besuchte mich einmal in Tübingen, wo wir gemeinsam der Firma Schmidt Maschinenbau einen Besuch abstatteten und fachsimpelten. Danach hatten wir nur noch sporadischen Mail-Kontakt. Ich schrieb meinen bescheidenen Beitrag und harrte der Dinge. Mehr als zwei Jahre später ist das lang ersehnte Buch nun endlich fertig.
So viel vorneweg: Ich bin beeindruckt. Die beiden Autoren haben ganze Arbeit geleistet und meines Erachtens ist das Buch schon mit seinem Erscheinen das umfassende Cargobike-Standardwerk für den deutschsprachigen Raum schlechthin.
Am Anfang des Buches wird das »Lastentransport-Einmaleins« vorgestellt sowie eine grobe Systematisierung von Cargobikes und Transporträdern nach Bauart, Lenkung und Anzahl der Räder vorgenommen (S. 10 ff.). Eine sinnvolle Ergänzung ist der Abschnitt über Fahrrad-Anhänger. Alle möglichen technischen Aspekte von der Lenkung über die Bremsen bis hin zum Rahmenmaterial (»Alu oder Stahl?«) werden in dem Buch ausführlich behandelt und durch ein Kapitel über Normen ergänzt. Wer sich rein sachlich-technisch mit dem Thema Cargobike beschäftigen will, kann im Inhaltsverzeichnis nach den entsprechenden Stichworten suchen, einfach querlesen und sich z.B. über verschiedene Bremsen informieren.
Die Geschichte der Cargobikes wird in drei große Wellen eingeteilt. Von der dritten Welle handelt das Buch im Wesentlichen - »denn wir befinden uns mittendrin« (S. 48). Dieser Cargobike-Boom wird auf den Seiten 172–173 in einer Info-Grafik »ohne Anspruch auf Vollständigkeit« nach Fahrradtypen auf einer Zeitlinie übersichtlich dargestellt.
Viele Protagonisten des velomobilen Lastentransports wurden für das Buch interviewt, woraus auch interessante Querverbindungen deutlich werden (oder sich erahnen lassen), wie die zwischen dem Kieler Do-it-yourself-Pionier Christian Kuhtz (»Einfälle statt Abfälle«) und den Transporträdern aus der Freistadt Christiania in Kopenhagen oder zwischen dem in den Niederlanden erfolgreichen Kemper Filibus als impliziten Vorgänger des späteren Cargobikes von Maarten van Andel, das zu Beginn der Nuller-Jahre den Boom der einspurigen Kindertransporträder in den Niederlanden auslöste und nebenbei einen Bedeutungswandel des Wortes »Bakfiets« (wörtlich: »Kistenfahrrad«) in der niederländischen Alltagssprache zur Folge hatte.
Eine Stärke des Buchs sind interessante praxisrelevante Abschnitte, wie der über »bestimmungsgemäße Verwendung« und »vorhersehbaren Fehlgebrauch« (S. 144).
Die Beiträge im Buch zeugen in ihrer Gesamtheit von vernetztem Denken. Das Phänomen Cargobike wird nicht isoliert, sondern als wichtiger Teil einer sozialökologischen Entwicklung betrachtet, was z.B. im Kapitel »Wem gehört der öffentliche Raum?« (S. 107 ff.) deutlich wird.
Cargobikes werden damit in ihrer Geschichte auch als Teil der Suche nach Alternativen zum bekannten Industriekapitalismus dargestellt, wobei fragwürdige und widersprüchliche Aspekte nicht übergangen, sondern als zu diskutierende Fragen aufgeführt werden: »E-Motoren werfen trotz ihres den Markt elektrisierenden Potenzials ganz eigene Fragen auf. Kommt es im Fahrrad- und insbesondere im Transportradbereich zu einem Paradigmenwechsel? Wird daraus, vor allem im Hinblick auf unsere urbane Mobilität eine ›Geschichte des Nicht-Verstehens‹ werden (…) Wird aus der ›Velolution‹ oder ›Velonaissance‹ eher eine elektronische Wiedergeburt des Verbrennungsmotors?« (S. 49).
Abgerundet wird das Buch durch ein Kapitel über offenes Design und lokale Produktion (S. 182 ff.), Cargobike-Sharing-Projekte/freie Lastenrad-Initiativen, sowie die »grünen Seiten« im Anhang mit vielen Adressen.
Wer sich umfassend über Geschichte und Technik des Lastentransports mit Fahrrädern in westlichen Industriegesellschaften informieren will oder sich für Mobilitäts-Aspekte einer sozialökologischen Entwicklung der Gesellschaft interessiert, erhält mit diesem Buch ein ausführliches und gleichzeitig unterhaltsames Nachschlagewerk das wohl kaum Fragen offen lässt.
Zum Rezensenten
Tobias Kröll, Jahrgang 67, Fahrradmechaniker und Sozialwissenschaftler, betreibt einen kleinen Fahrradladen in Tübingen. Daneben engagiert er sich für einen sozialökologischen Umbau der Gesellschaft und ist Mitglied im Institut Solidarische Moderne.