Ausgabe 19 · Dezember 2014
Diesen Artikel als PDF
Tobis Fahrradgeschichten
»Fiets te koop« – von gestohlenen Fahrrädern, Studium Bolognese, meinem ersten Hollandrad, gewissenhaften Kontrolleuren und Plastik-Raubkatzen
Dieser Text wurde ursprünglich auf Tobias Krölls Blog Tretmühle im April 2012 veröffentlicht.
Als ich 2003/2004 im Amsterdamer Stadtteil Jordaan bei der Fietsenmakerij Freewheel als Fahrradmechaniker arbeitete, kam einmal eine Studentin mit einem neuen Fahrrad zur Werkstatt herein. Sie fragte meine Kollegin nach einem sehr guten Schloss. Sie sagte, das »Fiets« hätte sie bei einem Junkie gekauft und er habe gesagt: »Wenn du kein gutes Schloss kaufst, hole ich es mir wieder.« (»Als je geen goed slot kopt, dan pak ik hem weer«).
Ich erinnerte mich an meine Anfänge in Amsterdam. Einen gewissen Reiz hatte es für die studentischen Neu-Amsterdamer auf den ersten Blick: Ein billiges Fahrrad bei einem Junkie kaufen.
Es war im Juli 1998. Das Vordiplom in der Tasche, war ich gerade in Amsterdam angekommen und belegte einen Niederländisch-Sprachkurs an der Universiteit van Amsterdam in der Spuistraat, um dann im Wintersemester sprachgewandt ein Auslandsjahr im Rahmen meines Tübinger Pädagogik-Studiums zu beginnen. Es heißt wohl besser Winter-Trimester, denn ein dreigeteiltes Studienjahr mit je 14 Wochen lässt sich offensichtlich stundenplanmäßig hervorragend auf 14 Credit-Points verteilen und passt somit besser in den Bologna-Prozess als die altmodischen Winter- und Sommersemester.
Mit jedem weiteren Tag des Sprachkurses präsentierten immer mehr meiner Mitstudierenden ihre neuesten Errungenschaften: Rostige alte Hollandräder, meist nur mit Rücktrittbremse ausgestattet (in den Niederlanden ist nur eine Bremse Vorschrift, im Gegensatz zu den zwei voneinander unabhängig wirkenden Bremsen der StVZO), oft in dunkler schwarzer, grauer oder brauner Farbe, meist ohne Licht. Teils mit fehlendem Schutzblech.
Manchmal war ein echtes »Oma-Fiets« darunter, d. h. ein Damenrad mit ganz klassischem niederländischem Bogenrahmen und sehr aufrechter Sitzposition. Das war schon damals DAS Statussymbol unter Amsterdamer Studentinnen.
Zwischen unserer Sprachkurs-Unterkunft – einem 15-stöckigen Hochhaus in Amsterdam-Noord – und der Amsterdamer Innenstadt, wo unser Sprachkurs stattfand, liegt eine vielbefahrene Wasserstraße: het IJ (Aussprache in etwa wie das deutsche »Ei« mit etwas härterem A-e).
Meine WG-MitbewohnerInnen radelten morgens eine schöne ruhige Strecke parallel zum Nordhollandkanal, dann mit der Fähre über het IJ hinüber zum Hauptbahnhof, rechts vorbei, unter der Brücke durch in die Spuistraat, wo die Fakultät für Sprachwissenschaften liegt.
Ich war so ziemlich der letzte, der morgens noch mit dem Bus zum Sprachkurs fuhr. Fast alle hatten ihre Räder »gebraucht« gekauft.
Allein – ich brachte es nicht übers Herz, als gelernter Fahrradmechaniker … und irgendwie tangierte es doch auch mein Gerechtigkeitsgefühl und mein Gefangensein im bürgerlichen Eigentumsdenken, solch ein Rad zu kaufen. Ich kaufe doch nicht ein Rad von jemandem, der es mir vielleicht wieder stiehlt.
10 bis 20 Gulden (ein Gulden entsprach etwa 90 Pfennigen), zahlten meine Mitstudierenden für ein geklautes Rad von einem »Junk« (Aussprache auf Niederländisch in etwa: »Dschüngk«) kosten, damals angeblich der Preis für eine anwendungsfertige Portion Heroin.
Auf jeden Fall wussten alle, dass der beste Platz zum Kauf eines »gebrauchten« Rades die Brücke bei der Universität am Binnengasthuisterrain war (wo Ende des Jahres 2011 leider das gemütliche CREA-Café der Universität dichtmachte und in den langweiligeren Uni-Bau auf Roeters-Eiland umzog).
Wenn man damals länger an der Brücke stand, sah man junge und nicht mehr ganz so junge Menschen, meist Männer (die optisch nicht so ganz zur Universität passten), auf Hollandrädern über die Brücke hin- und herradeln. Irgendwie wirkten sie so, als würden sie nicht so richtig zum Fahrrad gehören. Sie hatten oft verbeulte nicht mehr ganz so saubere Trainingshosen und Baseball-Caps, schauten stur vor sich hin, wenn sie an einem vorbeiradelten und murmelten »Fiets te koop« (»Fahrrad zu verkaufen«) …
Ich kaufte mein gebrauchtes Hollandrad schließlich in der zweiten Sprachkurswoche in einem echten Fahrradgeschäft in der Nähe des Dam (zentraler Platz in Amsterdam).
Nicht ganz 250 Gulden kostete es wohl (damals vielleicht so 110 €). Ein gebrauchtes Gazelle Sport Primeur mit einer Sturmey Archer 3-Gang-Schaltung und zwei Trommelbremsen. Sogar das Licht funktionierte. Wenn noch das original Hinterrad montiert war, war das Rad laut Prägung Baujahr 1984. Bei meinen späteren Amsterdam-Besuchen war es immer wieder mit von der Partie.
Als ich 2003/2004 in der Fietsenmakerij (Aussprache in etwa »Fietsnmakörä-i«) Freewheel arbeitete, versuchten die Behörden, die überhand nehmenden Fahrrad-Diebstähle in den Griff zu bekommen. Zunächst wurde verboten, Fahrräder auf offener Straße zu verkaufen und an der Brücke an der Universität patrouillierten regelmäßig Ordnungshüter und -innen. Dann wurden in Fahrradläden obligatorische Gebrauchtrad-Registrierungshefte eingeführt.
Gebrauchte Fahrräder sollten an Hand der Rahmennummer lückenlos überwacht werden – von den Altrad-Aufmöbel-Betrieben bis hin zu den EndverbraucherInnen.
Wir mussten alle Daten in die Hefte eintragen, unter der Androhung, bei dreimaligen Fehleinträgen die Ladenlizenz zu verlieren. Ab und zu schaute ein Kontrolleur vorbei, der die Hefteinträge überprüfte. Er setzte sich in unserer netten Werkstatt an den Tisch, trank Kaffee und schaute, ob auch alle Spalten in dem Heft ausgefüllt waren.
Was mich etwas stutzig machte, war, dass er kein einziges Gebrauchtrad in unserem Laden mit den Eintragungen im Heft verglich. Einmal dachte ich, das ist auch gut so.
Mein Kollege Ruud (Name geändert) – ein liebenswerter aber manchmal etwas verpeilter Bursche – hatte zwei Räder dubioser Herkunft mit in den Laden gebracht und in das Kontrollheft eingetragen. Die Fahrräder hatte er privat erstanden und wollte sie auch privat weiterverkaufen. Sonst vergaß er die Einträge fast immer, aber ausgerechnet diese zwei Räder, die mit dem Laden nichts zu tun hatten, hatte er eingetragen. Die hinteren Schutzbleche waren jeweils ziemlich verbeult und zwar genau an der Stelle, an der Hollandräder für gewöhnlich ein Rahmenschloss haben …
Der Kontrolleur, der diesen Rädern keine 2 Meter gegenüber saß, war mit den Heft-Aufschrieben sehr zufrieden (es waren ja alle Zeilen ausgefüllt!). Meneer (»Herr«) Kontrolleur trank seinen Kaffee aus und zog von dannen.
Später einmal ermahnte er uns scharf, alle Zeilen auszufüllen, sonst würde der Laden geschlossen werden. Ruud hatte vergessen den geplanten Verkaufspreis eines Gebrauchtrades einzutragen!
So war das … Auf jeden Fall: Seit einigen Jahren fahre ich mit meinem Hollandrad auch in Tübingen. Ein ideales Alltagsgefährt. Leider zwischenzeitlich etwas heruntergekommen, da Ersatzteile in Tübinger Läden schwer zu bekommen waren. Immerhin hat mein altes Hollandrad einen Jaguar auf dem vorderen Schutzblech. Das Plastik-Imitat hatte ich vor einigen Jahren von meiner damaligen Chefin Annemarie als Abschiedsgeschenk bekommen, bevor ich Amsterdam wieder gen Tübingen verließ. Sie hatte einmal einem Fahrrad-Accessoires-Vertreter eine Plastiktüte mit wenigen Rest-Jaguars abgekauft und verschenkt sie seither in homöopathischen Dosen an gute Freundinnen und Freunde.
Viele denken, ich hätte die Raubkatze in klassischer Kreuzberg- oder Hamburger Schanzen-Manier einem Auto entwendet, wenn sie mein Hollandrad sehen. Dabei kann meine Schutzblech-Gallionsfigur inzwischen viel spannendere Geschichten erzählen.
Zum Autor
Tobias Kröll, Jahrgang 67, Fahrradmechaniker und Sozialwissenschaftler, betreibt einen kleinen Fahrradladen in Tübingen. Daneben engagiert er sich für einen sozialökologischen Umbau der Gesellschaft und ist Mitglied im Institut Solidarische Moderne.