Ausgabe 1 · April 2006

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Mit Stäbchen und Zapfen durch die Nacht

Interview mit Prof. Dr. med. Helmut Wilhelm

Sehr geehrter Herr Wilhelm, in den Medien tauchen Sie immer wieder mit Äußerungen zum Thema »nächtliches Sehen im Straßenverkehr« auf. In einigen Fällen auch zum Thema Fahrrad. Sind Sie selber regelmäßig mit dem Fahrrad bei Dunkelheit unterwegs?

Wenn es die Straßenverhältnisse zulassen – also nicht Glatteis oder Schnee herrschen – fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit. Das sind hin und zurück 32 km – natürlich oft auch im Dunkeln. Da macht man sich schon Gedanken wie über das Sehen beim Fahrradfahren.

Was sind die wesentlichen Unterschiede des Sehens bei Tag und bei Nacht im Verkehr?

Wenn wir das mal wissenschaftlich sehen: Wir haben im Auge ja zwei Sorten Sinneszellen. Tags relevant sind die Zapfen und nachts, wenn es richtig dunkel ist, die Stäbchen. Nun ist es ja so, dass es »richtig dunkel« nur ganz selten ist, d. h. wir sehen in aller Regel im Dunkeln sowohl mit Stäbchen als auch mit Zapfen. Die Zapfen »sehen« wesentlich besser, was die Schärfe, das Kontrastsehen, die Farbwahrnehmung betrifft. Da sind sie den Stäbchen haushoch überlegen. Die Stäbchen sind sehr lichtempfindlich. d. h. sie sehen, wenn irgendwo etwas ist, aber nicht genau was es ist.

Ist das Zapfen-Sehen bei Nacht wirklich erforderlich? Reicht es nicht das Wesentliche grob wahrzunehmen? Oder sieht man mit den Stäbchen die Schlaglöcher nicht mehr?

Zu Fuß reicht es allemal. Das kann jeder ausprobieren, wenn er bei Neumond im Wald spazieren geht. Das schafft man, wenn die Stäbchen dann wirklich auf Hochleistung arbeiten, und das tun sie, wenn man eine halbe Stunde im Dunkeln war. Man nennt das dunkeladaptiert, d. h. man hat sich an die Dunkelheit gewöhnt. Allerdings, wenn jemand dann auch nur kurz einmal die Taschenlampe einschaltet, wird die Dunkeladaption gestört, und es dauert einige Zeit, bis man wieder den gleichen Level erreicht hat. Man kann sich dann im dunkeln Wald zu Fuß einigermaßen sicher bewegen.

Anders ist es hingegen, wenn man sich mit einer Geschwindigkeit bewegt, für die der Mensch eigentlich nicht geschaffen ist. Dann kann man sich bei so einer Beleuchtung nicht mehr sicher bewegen, weil Hindernisse auftauchen, denen man nicht mehr ausweichen kann, weil man sie nicht rechtzeitig wahrnimmt.

Was folgern Sie daraus? Mehr Licht auf der Straße wäre immer schön, taghelle Fahrbahnbeleuchtung würde die meisten Probleme vermeiden.

Überall Straßenlampen wäre natürlich ideal – aus Energieaspekten aber sehr schädlich. Deshalb hat man ja an Fahrzeugen Licht und das muss ausreichend sein, sodass man selber genug sieht. Wobei »ausreichendes Licht« immer einen Kompromiss darstellt, denn es darf natürlich nicht so hell sein, dass es Entgegenkommende blendet.

Beim Fahrradscheinwerfer hat man das Problem, dass die vergleichsweise geringe verfügbare Leistung (sei es aus Batterie oder Dynamo) dafür genutzt wird, eine sehr kleine Fläche relativ hell zu erleuchten, direkt daneben ist es wieder stockdunkel. Was wäre hier der optimale Kompromiss? Ist es richtig, den kleinen Bereich direkt vor dem Fahrrad maximal hell zu machen oder ist das gar nachteilig, weil das Auge auf diesen hellen Fleck adaptiert und wichtiges im Dunkel am Rand erst recht nicht mehr sieht?

Sie sprechen hier ein Problem an. Es bleibt in der Tat ein Kompromiss, den man eingehen muss. Je heller ich den Bereich machen, zu dem ich hinfahre, um so schwieriger ist es, im dem dunklen Feld darum herum etwas zu sehen. Jetzt ist es aber sehr ungewöhnlich, dass einem z. B. ein Hase ins Rad springt oder das etwas anderes plötzlich von der Seite in den Weg herein gerät. Deshalb ist es schon sehr viel wichtiger, dort gut zu sehen wo man hinfährt, als zu sehen, ob von der Seite etwaskommt.

In Kurven ist vielfach das Problem, das der Fahrradscheinwerfer zu schmal leuchtet, und man ins »unsichtbare« fährt. Ganz ohne Scheinwerfer und mit etwas Umgebungs- oder Mondlicht könnte es bei engen Kurven fast besser sein …

Ein Problem, das am Fahrrad kaum zu lösen ist. Man brauchte einen Scheinwerfer, der voraus denkt und die Kurve vorher richtig ausleuchtet. Oder – was man als Fahrradfahrer instinktiv tut: Man wird langsamer und vorsichtiger, wenn man eine Kurve fährt.

Außerorts (ohne Straßenbeleuchtung) hat der Fahrradfahrer seinen kleinen Lichtkegel und dann entgegenkommende Fahrzeuge die sehr hell blenden – erst recht bei feuchter Fahrbahn. Was sollte man hier tun, um seine Nachtsicht möglichst optimal zu halten?

Man könnte natürlich sagen, man sollte die Ecken meiden, an denen man geblendet wird und dementsprechend schlecht sieht. Aber manchmal sind die Fahrradwege ja so idiotisch angelegt – wie z. B. hier an der B27 von Tübingen nach Ofterdingen. Hier wird man unablässig richtig geblendet, d. h. die Stäbchen die man brauchte um richtig zu sehen, wohin man fährt, werden ständig gestört oder abgeschaltet durch das helle Licht. Dann sollte man mit den Zapfen sehen, aber das eigene Fahrradlicht reicht nicht aus, damit die Zapfen wirklich gut anspringen. Dann ist man ziemlich arm dran. Als einzig brauchbare Gegenmaßnahme hilft nur, dass man selber einen brauchbar hellen Scheinwerfer hat.

Bild 1. Von: augeninfo.de

Um die Blendwirkung zu vermindern wird z.T. in Radfahrerkreisen empfohlen , die Augen kurz zu schließen bei seltenem Gegenverkehr oder eine Schirmmütze zu tragen und mit gesenktem Blick die Augen abzuschatten, zumindest aber bewusst nicht in die Scheinwerfer zu schauen.

Letzteres ist sicherlich richtig. Besonders schädlich ist, wenn ich direkt die Scheinwerfer fixiere, ich sollte auf jeden Fall an den Scheinwerfern vorbei schauen. Die Augen zu machen ist halt so eine Sache (lacht), wenn man am Ende nicht mehr sieht, wo man hin fährt. Da wird man schnell mal im Graben landen. Aber manchmal sieht man auch mit offenen Augen nichts mehr, wenn ein Auto voll aufgeblendet entgegenkommt.

Es gibt eine Menge Leute, die ohnehin nicht perfekt sehen: Brillenträger, ältere Menschen mit nachgelassener Sehkraft, Menschen mit eingeschränktem Gesichtsfeld. Was kann man hier raten?

Da muss ich ein bisschen ausholen: Es gibt Leute, die deshalb schlecht sehen, weil sie nicht die optimale Brille tragen. Hier könnte man leicht helfen. Oder Menschen mit trockenem Auge, die geeignete Augentropfen nehmen sollten. Dem könnte man leicht Abhilfe schaffen. Wir hatten hier aber eine Studie gemacht mit ernsthaft Sehbehinderten, die eine Krankheit haben, die man nicht wirklich behandeln kann, die so schlecht sehen, dass sie nicht Autofahren dürfen. Diese Leute fahren zu einem großen Teil Fahrrad – viel mehr als man eigentlich glauben würde. Es fahren Leute Rad, von denen man sich wundert, dass das gut geht. Man muss damit rechnen, dass viele Leute mit dem Fahrrad unterwegs sind, die stark sehbehindert sind. Auf diese Leute müsste verkehrstechnisch Rücksicht genommen werden. Die Fahrrad-Wegweisung ist in dieser Hinsicht z. B. eine Katastrophe. Bzgl. Beleuchtung heißt das, dass diese noch deutlich mehr Licht brauchten.

Bild 2. Von: augeninfo.de

Man liest von speziellen Autofahrerbrillen. Gibt es die optimale Fahrrad-Nachtfahr-Brille?

Es gibt nur eine optimale Brille zum Autofahren bei Nacht, und das ist die richtig angepasste Brille. Irgendwelche Tönungen sind nur schädlich, sie gaukeln nur etwas vor. Mit den gelben Filtergläsern sieht man nicht besser.

Fahren Sie mit der Büro-Brille, die Sie jetzt gerade tragen auch Rad?

Ich brauche keine Fernbrille, das ist eine Lesebrille. Da ich über 50 bin, geht es nicht ohne. Tagsüber trage ich beim Radfahren oft eine Sonnenbrille und nachts eine klare Schutzbrille. Nachts sollte man darauf achten, entspiegelte Gläser zu nutzen, aber das ist heute eigentlich die Regel. Es wäre falscher Geiz, hier zu sparen.

Das waren bisher Fragen mit dem Ziel, dass der Radfahrer selbst etwas sieht in dunkler Umgebung. Fahrradbeleuchtung hat aber ja auch die Aufgabe dadurch besser gesehen zu werden. Insbesondere durch Kfz-Lenker, die evtl. gar selbst sehbehindert sind, durch verschmutzte Scheiben schauen, abgelenkt sind, etc. Wie kann ein Radfahrer gut auf sich aufmerksam machen?

In der StVZO steht ja bereits, was minimal vorgeschrieben ist. Was man noch tun kann, wären zusätzliche Reflexstreifen an der Kleidung anzubringen. Man muss sich im Klaren sein: Alles was leuchtet und sich bewegt ist besonders gut sichtbar. Das Gesichtsfeld ist sehr darauf geeicht, Bewegungen wahrzunehmen. Sehr effektiv sind besonders Reflexstreifen unten an den Beinen.

Bei Rücklichtern wird diskutiert, ob eine einzelne ultrahelle LEDs oder ein große, gleichmäßig leuchtende Fläche besser sein. Was meinen Sie dazu?

Eine rein punktförmige Leuchte ist immer schlechter zu lokalisieren, und blendet stärker. Die Lichtquelle sollte also nicht zu klein sein.

Sie sagten: »Bewegung ist gut«. In vielen Ländern sind blinkende Rücklichter weit verbreitet.

Rein vom physiologischen Standpunkt ist blinkendes Licht gut, weil man darauf schnell aufmerksam wird. Andererseits bringt man blinkendes Licht nicht unbedingt mit einem Fahrrad in Verbindung. Hierzulande denkt man eher an einen Jogger und schätzt die Situation vielleicht falsch ein.

Un- oder schlecht beleuchtete Fahrradfahrer sind häufig Thema in den Medien oder auch an Stammtischen. Gar so häufig tauchen Unfälle, die offensichtlich durch schlechte Fahrradbeleuchtung bedingt waren, aber nicht in der Presse auf. Wie erklären Sie das? Wird das Thema doch überdramatisiert?

Die Frage ist, ob das wirklich alles sauber erfasst wird. Wenn es einen Radfahrer mal »hinhaut«, dann liest man oft, ob er einen Helm getragen hat oder nicht, jedoch selten wie er beleuchtet war. Es ist aber natürlich auch so, dass bei Nacht sehr viel weniger Rad gefahren wird als bei Tag und allein deshalb schon weniger Nacht-Unfälle passieren. Wenn man mal eine ernsthafte Analyse zum Thema machen würde konnte man zu der Erkenntnis kommen, dass die Unfälle bei Nachtfahrten überproportional häufig sind. Beim Autofahren gilt, dass nachts die schwersten Unfälle passieren. Ich könnte mir gut vorstellen, dass es beim Radfahren auch so ist, aber es ist nicht untersucht. Da kann man nur spekulieren.

Sie haben 2002 eine wissenschaftliche Veröffentlichung zum Thema Fahrradbeleuchtung gemacht. Was war Ihr neuer Ansatz?

Der Hintergrund war folgender: Wenn ein Ingenieur über Fahrradbeleuchtung schreibt, hält er ein Lichtmessgerät vor eine Fahrradleuchte. Wenn ein Augenarzt darüber schreibt, will er wissen, was auf der Netzhaut ankommt, d. h. er misst, was von der Lampe angestrahlt wird, denn das ist das, was auf der Netzhaut abgebildet wird. Das hatte ich noch nie in einer Veröffentlichung über Fahrradbeleuchtung gelesen. Mit dem damals noch weit verbreiteten Nicht-Halogen-Leuchten kam heraus, dass gerade soviel Licht auf der Strasse ankommt, dass die Stäbchen etwas sehen. d. h. wenn man mit einem so beleuchteten Fahrrad über Land fahren oder auch nur einen unbeleuchteten Parkplatz überqueren will, müsste man sich zuvor eine halbe Stunde ins Dunkle setzen, damit die Augen dunkeladaptiert sind und dann erst losfahren. Nur eine gute Halogenleuchte bringt soviel Licht auf die Straße, dass wir mit den Zapfen sehen, d. h. dass wir eine vernünftige Sehschärfe erreichen, mit der wir auch kleinere Hindernisse sehen, die uns gefährlich werden könnten. Nur so hat man auch genug Kontrastwahrnehmung, dass man ein Schlagloch in der Strasse erkennt. Folgerung damals war: Nicht an der Beleuchtung sparen, zumindest eine gute Halogenleuchte sollte es sein.

Der Gesetzgeber denkt über ein Tagesfahrlichtgebot für Kfz in Deutschland nach. Radfahr-Interessenverbände wie der ADFC befürchten, dass Fahrradfahrer noch öfter übersehen werden, wenn Autofahrer nur noch auf beleuchtete Objekte fixiert sind.

Es ist unzweifelhaft nachgewiesen, dass mit Einführung von Tagfahrlicht Unfälle massiv zurückgehen. Es ist für mich unverständlich, dass Deutschland diese Vorschrift nicht längst eingeführt hat. Man könnte viele Menschenleben retten – und nicht nur Autofahrer sondern auch Zweiradfahrer. Denn es ist ja keineswegs so, dass die Unfälle nur deshalb entstehen, weil Autofahrer Zweiradfahrer übersehen. Es entstehen ja auch viele Unfälle, weil Zweiradfahrer Autofahrer übersehen. Diese Unfälle werden klar weniger werden. In den Ländern (in Skandinavien) wo das Tagesfahrlicht eingeführt wurde, sind die Motorrad- und Fahrradunfälle auch zurückgegangen. Es ist abwegig zu glauben, Tagfahrlicht wäre ein Nachteil für Radfahrer.

Das Interview führte Andreas Oehler am 30.03.2006.

Sehen im Straßenverkehr

  • H. Wilhelm; S. Mehnert: Fahrradbeleuchtung – eine düstere Angelegenheit. ZPA Zeitschrift für praktische Augenheilkunde und Augenärztliche Fortbildung, 23:211–212, Mai 2002
  • H. Wilhelm; B. Endres: Sehbehinderung und Fahrrad fahren. Ophthalmologe. 2004 Aug; 101(8):819–823
  • Kuratorium Gutes Sehen, Internetportal
  • Schweizer Optiker Verband, Internetportal
  • B. Lachenmayr: Anforderungen an das Sehvermögen des Kraftfahrers. Deutsches Ärzteblatt 100/10–2003, S. A-624

Tagesfahrlicht

Zur Person

Prof. Dr. med. Helmut Wilhelm arbeitet als Oberarzt an der Universitäts-Augenklinik in Tübingen. Wissenschaftlich beschäftigt er sich mit Verkehrs-Ophthalmologie. Speziell arbeitet er an der Frage, wie viel Sehvermögen ein Autofahrer haben sollte und wie man am besten Menschen, die am Straßenverkehr teilnehmen, in dieser Hinsicht untersucht.