Ausgabe 2 · Juli 2006
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Granny oder Grand-Granny – Schaltungen fit machen für die Berge
Groß ist die Bandbreite von dem, was RadlerInnen unter Radreisen verstehen. Vom Donauradweg bis zur Weltreise ist da alles drin. Dabei sind viele interessante Feriengegenden alles andere als flach. Entgegen der landläufigen Meinung kann Radreisen jedoch auch im Gebirge Spaß machen und ein faszinierendes Erlebnis sein. Und das durchaus ohne großartiges Training im Vorfeld!
Aber: Diese steile Stelle da auf dem Weg zum Bäcker kann frau vielleicht noch mal »eben so« im Wiegetritt hochsprinten. Wenn es allerdings um lange Tagesetappen mit 600, 1.000 oder auch 2.000 Höhenmeter geht, sieht die Situation für Normalsterbliche ganz anders aus. Welche Möglichkeiten es gibt, gängige Kettenschaltungen an die individuelle Leistungsfähigkeit anzupassen und auf Bergtauglichkeit hin zu optimieren, möchte dieser Artikel aufzeigen.
Weiche Waden …
Die Dauerleistung der Radlerin, die mehrere Stunden ohne Erschöpfung erbracht werden kann, ist erschreckend gering. Bei ausgesprochenen AusdauersportlerInnen kann man vielleicht Werte zwischen 200–300 Watt annehmen (Muskelkraftflugzeuge sind auf diesen Leistungsbereich hin konstruiert worden). Ambitionierte AlltagsradlerInnen sollten jedoch eher von 100–150 Watt ausgehen. Das entspricht gerade mal der Leistung, die nötig ist, um 1–2 helle Glühlampen in der eigenen Wohnung zum Leuchten zu bringen! Der Autor, engagierter Alltags- und Reiseradler, hatte als Student im Rahmen eines Physiologie-Praktikums Gelegenheit, die eigene Dauerleistungsgrenze näherungsweise zu bestimmen: 125 Watt, nicht sehr beeindruckend also. Bei Menschen, die außer dem Weg zum Kühlschrank nur wenige Strecken ohne Auto zurücklegen, kann der Wert noch deutlich darunter liegen.
Angesichts dieser relativ dürftigen Leistungsmöglichkeiten hat der Reiseradler daher nichts zu verschenken. Neben dem Wirkungsgrad der Kraftübertragung, der bei gepflegten Kettenschaltungen recht hoch ist, ist da der Wirkungsgrad der »Maschine Mensch« selbst von Bedeutung. Um hier das auf das Maximum von 25 % zu kommen, muss u. a. die Trittfrequenz optimal sein. Dies ist im Bereich von 90–100 Umdrehungen pro Minute der Fall. Es gibt gerade an längeren Steigungen keinerlei Grund, sie auf leistungsmindernde 60 oder gar 40/min absinken zu lassen.
… aber hohe Berge!
Schaut frau sich jetzt demgegenüber den Leistungsbedarf an, so ist das Ergebnis bereits bei mäßigen Steigungen ziemlich ernüchternd. Gehen wir mal von einem schlanken Radler mit 70 kg Lebendgewicht aus. Hinzu kommen Rad (nicht schummeln, auch das Schloss mitwiegen!) und Gepäck (inklusive Packtaschen). Da er regelmäßig angesagte Bike-Magazine liest, hat er sich ein relativ leichtes Modell zugelegt und kommt mit 15 kg hin. Für ein brauchbares Reiserad mit Lowridern und vernünftigem Sattel ist das schon eher die Untergrenze! Seine mit Campinggepäck gut gefüllten Packtaschen kommen dank rigoroser Nutzung einer Federwaage beim Packen auch nur auf 15 kg. Das macht 100 kg, die bewegt werden wollen.
Wenn unser Modellradler auch nur eine 5 prozentige Steigung bezwingen möchte, kommt er bereits bei 10 km/h mit ca. 138 W (nur die Leistung für die Hubarbeit ohne sonstige Verluste) an seine Dauerleistungsgrenze! Aber selbst bei relativ einfachen Passstraßen wie dem Gotthard geht es oft steiler zu, gerade die Südseite hat auch viele Abschnitte mit 10 %. Von der Situation auf hohen und steileren Schotter-Pisten wie z. B. dem Col du Parpaillon möchte ich hierbei noch gar nicht reden.
Bei obigen 10 % erreicht unser tapferer Radfreund seine Dauerleistungsgrenze sogar schon bei 5 km/h! Um diese Geschwindigkeit ökonomisch optimal fahren zu können, braucht er daher Entfaltungen im Bereich von unter 1 m. Bei einem 40-622er Laufrad (»28 Zoll«) ist das nur mit einer SEHR kleinen Übersetzung (z. B. 17/34, entspricht hier einer Entfaltung von 1,1 m) annähernd zu erreichen.
Faktoren wie Rollwiderstand und Luftwiderstand spielen bei den kleinen Geschwindigkeiten bergauf übrigens keine große Rolle mehr. Beide Widerstände summieren sich bei 5 km/h auf unter 10 W.
Das Problem »Radreisen im Gebirge« lässt sich somit also auf eine zentrale
Grundfrage reduzieren:
Wie fährt man auf ökonomische Weise richtig langsam?
Ein kurzer Exkurs in die Geschichte der Kettenschaltungen:
Es ist noch nicht so lange her, da waren auch für Radtouren (und im Alltag) Entfaltungen »wie am Rennrad« das Maß aller Dinge. Abertausende »Halbrenner« und »Rennsporträder«, die in Fahrradkellern still vor sich hin rosten, sind dabei stumme Zeugen dieser völlig unsinnigen Mode, die sich bis zur Mitte der Achtziger Jahre hielt. Die Hersteller glaubten allen Ernstes, die KundInnen am Berg mit Entfaltungen im Bereich von ca. 3,5 m (42/26 bei 40-622er Laufrädern) abspeisen zu können. Bei 90/min ergäbe das etwa rasante 19 km/h. Oder in der traurigen Realität wohl eher: <stampf> <stampf>, gefolgt von Fluchen sowie schließlich Absteigen und Schieben. Dafür durfte man dann in der Ebene »schnell, schnell« flotte 8,1 m treten (52/14 bei 40-622er Laufrädern) – gut für rund 44 km/h!
Mit dem MTB-Boom wurde es dann auch in diesem Bereich etwas besser. Kleine Übersetzungen waren plötzlich technisch machbar und große Ritzel keine »Rentnerteller« mehr, sondern hip.
Mit Serienteilen »nachbessern«: größere Ritzel und kleinere Kettenblätter
Am einfachsten ist es immer noch, die für das größte Ritzel verfügbaren Zähnezahlen wirklich auszunutzen. Auch Reiseräder werden da durchaus nicht immer mit der maximal möglichen Größe ausgestattet. Zählen Sie beim Kauf ruhig mal nach! Shimano-Ritzel gibt es seit Uniglide-Tagen mit 34 Zähnen. Früher gab es sogar Suntour-Schraubkränze mit 38 Zähnen. Auch bei den Kettenblättern gibt es ohne größere Bastelei nutzbare Alternativen: Für die letzte Shimano-Fünflochkurbel (»kompakt«, mit 35 mm Lochabstand) und die aktuellen Vierlochkurbeln sind auch 20er Blätter verfügbar (u. a. von Vuelta über Brügelmann zu beziehen oder von Mountain-Goat). Besitzer von älteren 5-Arm-Kurbeln mit 43 mm Lochabstand (110/74 Lochkreis) sollten zumindest überprüfen, ob auch ein 24er montiert ist.
Letztendlich wird unser Musterradler aber auch mit diesen Übersetzungen auf langen Touren im Gebirge oft an seine Grenzen stoßen.
Zu neuen Ufern – extrakleine Blätter für extrasteile Pässe
Bereits vor über 10 Jahren gab es für den 43 mm Lochabstand (der ältere 5-Lochkreis, 110/74 mm Durchmesser) 2 Adapterlösungen, die das Problem anders angehen. Beide wurden vom Autor an unterschiedlichen Rädern montiert und funktionieren einwandfrei.
Zum einen ist da der »Limbo Spider« zu nennen, ein Aluminiumträger, der ein Suntour Winner A SteckRitzel aufnahm und das innere Kettenblatt ersetzt. Gesichert wird es durch einen großen und manchmal widerspenstigen »Seegerring«.
Zum anderen gab es den Mountain Tamer, als Triple oder Quad (drittes oder viertes Kettenblatt) nutzbar, ebenfalls für oben genannten Lochkreis. Die aktuelle Version hat eine Steckaufnahme für ein oder zwei Ritzel. Den Adapter als 4. Kettenblatt zu verwenden ist jedoch auf Grund von erheblichen überschneidungen nicht unbedingt sinnvoll. Außerdem verringert der große Kettenschräglauf bei »überkreuz-Gängen« die Zahl der technisch nutzbaren Gänge. Zudem erhöht sich so die nötige Wellenlänge nochmals.
Dies gilt übrigens sowohl für kommerzielle Adapterlösungen wie für die im folgenden beschriebenen Eigenbauten: Ohne eine längere Tretlagerwelle geht es selten. Manchmal genügt bei Konuslagern eine Unterlegscheibe unter der rechten Lagerschale, um für ausreichend Abstand nach innen zu sorgen. Oft sind jedoch auch Nacharbeiten an den Gewindesockeln der Kurbel selbst nötig.
(Das Bearbeiten der Gewindesockel ist hier sehr schön beschrieben)
In Anbetracht dieses doch recht hohen Aufwands und da es für aktuelle MTB-Kurbeln keine passenden Adapter mehr gibt, haben einige ReiseradlerInnen gleich komplette Eigenkonstruktionen verwirklicht. Hier ist frau natürlich völlig frei in der Materialwahl und auch konstruktiv gibt es »viele Wege, die nach Rom führen«.
Da die einfachsten Ideen oft die besten sind, sollte man zuerst überlegen, ob sich das gewählte Ritzel nicht vielleicht direkt am mittleren Stahlkettenblatt oder an Stahlkurbelarme anschweißen lässt.
Für TA-Cyclotouriste-Kurbeln wurde ein Träger für ein Fichtel-&-Sachs- oder Shimano-Nabenschaltungsritzel gebaut. Wichtig ist, dass das Ritzel schaltkettengeeignet ist: Für 6/7/8-fach-Kette passen Ritzel mit 1,8–2,3 mm Dicke, aber nicht 3,0 mm.
Hierzu wurden 6 Nirohaltearme mit einem passend gedrehten Trägerring verschweißt, auf den wiederum das Ritzel mit Silberlot aufgelötet ist. Diese Konstruktion ist etwas zu »leicht« dimensioniert. Als das erste Ritzel verschlissen war und erneuert werden sollte, wurden mehrere Haarrisse im »Spider« entdeckt – Totalschaden dieses Modells. Die durch die übertragung des Antriebsmoments erzeugten Schubkräfte an der Befestigung kleiner Blätter sind sehr groß (je kleiner der Befestigungsdurchmesser, desto größer). Deshalb müssen solche kleinen Kettenblätter solider befestigt sein als z. B. Zweifachkettenblätter an Profirennrädern mit ihren vergleichsweise riesigen Lochkreisen.
Für eine Shimano 4-Arm MTB Kurbel gibt es folgende Möglichkeit, ein Ritzel als Kettenblatt zu verwenden:
Träger ist ein quadratisches Stück Stahlblech mit 2 mm Dicke. Die Kantenlänge bemisst sich am Lochkreisdurchmesser: Es reicht, wenn neben den 4 Bohrungen in jeder Ecke lediglich 3–4 mm Material stehen bleiben. Die überstehenden Ecken sollte frau kürzen. In der Mitte des Bleches wird mit einer Lochsäge ein Loch angebracht. Der Durchmesser muss minimal dem Tretlagerwellendurchmesser entsprechen, vorsichtiger ist es (siehe oben) jedoch, einen Innendurchmesser zu wählen, der den des verwendeten Ritzels maximal ausnutzt. Im konkreten Fall wurde ein Suntour Winner Ritzel Stufe B mit 14 Zähnen verwendet und ein Innendurchmesser von 43 mm gewählt.
Dieses Ritzel verfügt praktischerweise über einen Bund. Um einen ausreichenden Abstand zum nächstgrößeren Kettenblatt zu erzielen, reicht es deswegen, zwischen Trägerplatte und Ritzel lediglich einen stählernen Zwischenring einzufügen. Frau sollte im montierten Zustand unbedingt für alle drei Blätter die gleiche Distanz anstreben; das erleichtert die Einstellung der Schaltung hinterher ungemein!
Vor dem Löten sollte man sich noch kurz über den Zugang zu den vier Befestigungsschrauben Gedanken machen. Im vorliegenden Fall musste eine Schraube bereits vor dem endgültigen Fügen in ihr Loch in der Trägerplatte eingesetzt und zwei Zähne mussten leicht gekürzt werden. Dieser kleine »Stapel« wird dann an den Kontaktflächen angeschliffen, entfettet und mit viel Flussmittel sowie Silberlot hartgelötet. Wichtig ist dabei, die Kontaktflächen wirklich auszunutzen und sicherzustellen, dass überall »durchgelötet« wurde.
Fazit
Gerade im Hochgebirge kann Radreisen faszinierend sein und das durchaus nicht nur für Spitzensportler. Voraussetzung ist eine optimale Anpassung des Rades an die (bescheidene) menschliche Leistungsfähigkeit, zu der in diesem Artikel einige Anregungen gegeben werden. Gänzlich unabhängig von einer noch so »ausgefuchsten« Ausrüstung kommt man schließlich aber auch um das Akzeptieren eigener Grenzen »am Berg« nicht herum. Auch langsam und mit vielen Pausen kommt frau fast jeden Pass hoch und hat dabei zudem noch ausreichend Gelegenheit, die Landschaft zu genießen.
Denn: »Anstrengung« entsteht zuerst einmal im eigenen Kopf!
Zum Autor
Dr. med. Stefan Buballa, Arzt in Aigle, Schweiz, Alltags- und Reiseradler, Selbstbau eines Reiserades und eines Alltags-Kurzliegers. Er ist fasziniert von der Schlichtheit und ökologischen Effizienz muskelkraftbetriebener Fahrzeuge. Besondere Interessen: Ergonomische und leistungsphysiologische Aspekte. Besondere Schwächen: Radreisen in Afrika und Nahost …