Ausgabe 4 · November 2007

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Der ETRTO-Standard – ein Papiertiger?

Gedanken unterwegs …

von Michael Wilch

Einleitung

Vielen Radfahrern sind sie bekannt und schon viel ist über sie geschrieben worden: Probleme mit Fahrradreifen. Nachdem Georg Böger in FZ 2/06 die Grundlagen zur Kombination von Reifen und Felgen mit besonderem Augenmerk auf stark belastete Räder wie Tandems dargestellt hatte, ist Rainer Mai in FZ3/06 der Frage auf den Grund gegangen, ob man Reifen durch Heißbremsen mittels Felgenbremse zerstören kann. Georg Böger hat in seinem Artikel häufig aus der ETRTO (eigentlich: European Tyre and Rim Technical Organisation, also der Verband und nicht die Norm) zitiert, jedoch mit Umweg über die E DIN 7800:1996. Der ETRTO-Standard selbst jedoch schien nicht verfügbar, wie ein Aufruf zur Suche desselben von Rainer Mai aus FZ3/06 gezeigt hat.

Das »Standard Manual«

Tatsächlich ist es nicht einfach, an den Standard zu gelangen. Die direkte Möglichkeit stellt sicherlich die Bestellung des Standard Manuals auf der Webseite der ETRTO dar. Allerdings sind dann 114,- € zu berappen für eine Veröffentlichung, deren Inhalt völlig unbekannt ist. Die zweite Möglichkeit ist, nach dem Handbuch in der nächstgelegenen Unibibliothek zu suchen. Eine Suche im Verbundkatalog der deutschen Hochschulen fördert tatsächlich zwei Treffer zutage: eine Ausgabe von 1994 und eine von 2006. Da schon die eben angesprochene DIN den Stand von 1996 repräsentiert, dürfte eine Ausgabe von 1994 uninteressant sein. Blieb also nur, die Ausgabe 2006 in der Fernleihe zu bestellen. Beim zweiten Versuch hat es dann auch endlich geklappt und das Handbuch wurde geliefert – mit dem Hinweis, dass die Leihfrist auf zwei Wochen beschränkt ist.

Fragen an die ETRTO

Zwei Wochen jedoch sollten reichen, um die drängendsten Fragen zu beantworten. Diese Fragen drehten sich insbesondere um zwei Probleme: Zum einen um eine Kombination von Reifen und Felge, die sich nur schwer miteinander kombinieren lassen. In einem solchen Fall ist bei der Montage äußerster Kraftaufwand notwendig; keine angenehme Arbeit und erst recht keine, die man unterwegs auf einer Radreise tun möchte – schon gar nicht bei Dunkelheit.

Bild1: Schwierig zu montieren: Vredestein Scarab 47-559 auf Mavic X221 in 17-559

Das andere Problem betrifft Reifenabschäler wie auch schon von Rainer Mai geschildert, die nicht durch überhitztes Material oder ähnliches verursacht werden. Teilweise müssen Abschäler auf ein Überschreiten des zulässigen Luftdrucks zurückgehen – bei einem Abschäler mit der abgebildeten Kastenfelge war jedoch der auf der Reifenflanke angegebene Wert nicht überschritten worden.

Bild 2: Herkömmliche Kastenfelge, nach den Erfahrungen des Autors nicht für Drücke größer als 4 bar geeignet

Alle diese Probleme wurden beobachtet mit Produkten aus europäischer Produktion, die auch jeweils einen Verweis auf die ETRTO trugen. Sie müssen also darauf zurückzuführen sein, dass der Reifen und/oder die Felge nicht maßhaltig ist oder aber – im schlimmsten Fall – die festgelegten Toleranzen untauglich sind.

Antworten der ETRTO

Um es vorwegzunehmen: der Inhalt der ETRTO ist leider nur als dürftig zu bezeichnen. Das liegt wohl vor allem daran, dass sie nicht nur Fahrradreifen normiert, sondern auch Kfz-Reifen, und zwar für Pkw, Motorräder und Baumaschinen. Darüber hinaus legt sie auch Abmessungen fest für Felgen und Ventile.

Es ist verständlich, dass Fahrradreifen und -felgen aufgrund des geringen Preises und der kleinen Verkaufszahlen nicht viel Platz einnehmen – zumal auch ihre Modellvielfalt im Vergleich zu KFZ-Reifen klein ist. Jedoch vernachlässigt die ETRTO die Hauptaufgabe einer Norm. So ist zwar der Außendurchmesser von Fahrradfelgen inklusive Toleranzen definiert, nicht jedoch der Innendurchmesser der Reifen. Schläuche, das dritte Bauteil eines Reifens, finden überhaupt keine Erwähnung. Zugegeben, Schläuche haben bisher auch noch zu keinen nennenswerten Problemen geführt, die sich auf Inkompabilitäten zurückführen ließen.

Die Situationen, bei denen an einem Fahrrad des Autors der Mantel von der Felge abhob, entstanden auf einer Tiefbettfelge eines Hollandrades. Im Nachhinein waren sie auf einen zu hohen Reifendruck zurückzuführen. Tatsächlich fand sich später auf einem Reifen eines anderen Herstellers ein Hinweis, dass bei Verwendung einer Tiefbettfelge der Maximaldruck bei 3,5 bar liegt. Die ETRTO legt den maximalen Reifendruck für diesen Felgentyp auf 5 bar fest. Dieser Hinweis ist jedoch der einzige, der zu Reifendrücken bei Fahrrädern zu finden war. Die Reifenabheber waren jedoch schon bei 4 bar zu beobachten. Für KFZ finden sich zum selben Thema der zulässigen Drücke umfangreiche Tabellen.

Antworten der Reifenhersteller

Sehr häufig, vor allem an den interessanten Stellen, findet sich in der Norm der Hinweis »Befragen Sie den Reifenhersteller«. Die ETRTO zählt nahezu alle großen europäischen Reifenhersteller zu ihren Mitgliedern. Von sieben zu Fragen der Auslegung des Drahtdurchmessers angeschriebenen Herstellern haben sich schließlich zwei geäußert: die eine Firma hält die Wahl des inneren Durchmessers für ein grundlegendes Merkmal der Kunst des Reifenherstellers. Damit falle die genaue Bestimmung des Durchmessers auch unter sein Betriebsgeheimnis.

Der andere Hersteller (übrigens nicht Mitglied der ETRTO) gab an, dass als Daumenregel gilt, dass der Innendurchmesser des Reifens ca. 1 mm größer sein sollte als der Außendurchmesser der Felge (Außendurchmesser bezeichnet hier den Reifensitz, nicht den Durchmesser des Felgenhornes). Mit einer derartigen Daumenregel lässt sich natürlich kein Hersteller beeindrucken, wenn mal ein Reifen nicht auf die Felge passt.

Außer dem Standard gibt es noch eine Veröffentlichung der ETRTO namens »Engineering Design Information«. Leider war sie bis Redaktionsschluss nicht verfügbar, ihr Inhalt ist dem Autoren unbekannt. Es steht zu vermuten, dass dort auch keine konkreten Maße und Toleranzen festgelegt sind, da sie von keinem der angeschriebenen Hersteller als Referenz genannt wurde.

Weitere Besonderheiten

Die ETRTO aktualisiert ihren Standard jährlich. Das ist, verglichen mit den Normen des DIN und anderer, sehr häufig. Die neue Norm erscheint jeweils Ende Januar, sodass also die hier vorgestellte Ausgabe inzwischen wieder veraltet ist. Tatsächlich gibt es zu den Spezifikationen die Georg Böger letztes Jahr vorgestellt hat Änderungen. So hat nun auch die Kombination eines 28 mm breiten Reifens mit einer Felge mit 13 mm Maulweite die hohe Weihe der ETRTO erhalten. Daher wird hier nochmal die komplette Tabelle der laut ETRTO möglichen Kombinationen von Felgen und Reifen mit Stand Januar 2006 aufgeführt.

Reifenbreite Maulweite Tiefbettfelge Maulweite Hakenfelge
18 13C
20 13C
23 16 13C, 15C
25 16, 18 13C, 15C, 17C
28 16, 18, 20 13C, 15C, 17C, 19C
32 16, 18, 20 15C, 17C, 19C
35 18, 20, 22 17C, 19C, 21C
37 18, 20, 22 17C, 19C, 21C
40 20, 22, 24 17C, 19C, 21C, 23C
44 20, 22, 24, 27 17C, 19C, 21C, 23C, 25C
47 20, 22, 24, 27 17C, 19C, 21C, 23C, 25C
50 22, 24, 27, 30.5 17C, 19C, 21C, 23C, 25C
52 17C, 19C, 21C, 23C, 25C
54 27, 30.5 17C, 19C, 21C, 23C, 25C, 27C, 29C
56 19C, 21C, 23C, 25C, 27C, 29C
57 27, 30.5 19C, 21C, 23C, 25C, 27C, 29C
60 19C, 21C, 23C, 25C, 27C, 29C
62 27, 30.5 19C, 21C, 23C, 25C, 27C, 29C

Offensichtlich sind einige Reifenbreiten für Tiefbettfelgen überhaupt nicht spezifiziert. Das ist zu verschmerzen, da Tiefbettfelgen kaum noch verbaut werden.

Die immer beliebter werdenden Faltreifen dürfen beim Tiefbetttyp gar nicht eingesetzt werden. Ob und wann sie auf Hakenfelgen montiert werden dürfen legt die ETRTO nicht fest. Auch hier findet sich ein Hinweis, dass man den Hersteller des Faltreifens nach den zugelassenen Felgen befragen soll.

Weiterhin ist interessant, dass die Spezifikationen für die Ventile einen maximalen Luftdruck für 9 bar für Sclaverandventile vorgeben. Interessant deshalb, weil viele Rennradreifen schon vom Hersteller für 10 oder sogar 11 bar zugelassen sind. Schraderventile (Autoventile) sind in einer Bauform bis 8 bar, Dunlopventile für 7 bar zugelassen. Das sollte für MTB- und ATB-Reifen, wo diese Ventile eingesetzt werden, ausreichen.

Fazit

In ihren Zielen legt die ETRTO fest, dass sie sich um Normung von Reifen, Felgen und Ventilen bemüht, um eine Austauschbarkeit untereinander zu gewährleisten. Weiterhin möchte sie Auslegungsabmessungen, Belastungs-/Betriebsdruckkennlinien und Betriebsanweisungen erarbeiten. Leider vernachlässigt sie dabei den Fahrradbereich etwas.

Dadurch, dass der ETRTO-Standard beispielsweise den Innenumfang der Reifen nicht vorgibt, wird eine Kompatibilität von Reifen mit (eigentlich ansonsten passenden) Felgen untergraben. Ebenso wird eine Austauschbarkeit von unterschiedlichen Reifen verhindert. Der ETRTO-Standard dürfte damit einer der wenigen sein, die eine derartige Freiheit erlauben.

Auch das von einem Hersteller vorgebrachte Argument, der Reifensitz würde maßgeblich von der Gummimischung des Reifens beeinflusst, mag nicht recht überzeugen: Es geht immerhin um den Drahtdurchmesser – an dem die verwendete Gummimischung der Karkasse und Lauffläche wenig ändern dürfte.

Symptomatisch für die Verbindlichkeit des ETRTO-Standards ist »note 7« im Abschnitt »cycle and motorcycle tyres«. Dort steht wörtlich: »Consult the tyre and rim/wheel manufacturers for confirmation of the suitability of the tyre/wheel assembly for the intended service.« Oder in der offiziellen deutschen Übersetzung: »Befragen Sie die Reifen- und Felgen-/Räderhersteller über die Eignung der Reifen-/Räder-Zuordnung für den vorgesehenen Einsatz.«

Für diesen Ratschlag hätte es keines Standardisierungsversuches bedurft.

Zum Autor:

Michael Wilch promoviert zur Zeit in der Elektrischen Energietechnik an der Universität Duisburg-Essen zu einem Thema der Windenergietechnik. Diese Arbeit bringt es mit sich, sich mit Normen und anderen technischen Vorgaben auseinanderzusetzen. Das Fahrrad ist für ihn Alltagsverkehrsmittel und Hobby – sowohl zum Fahren als auch zum ständigen Verbessern.