Ausgabe 15 · April 2013

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Praxistaugliche Verbundfederung

Toptrail Interconnected Suspension Bicycle Project

von Adrian Griffiths – übersetzt von Heiner Schuchard

Dieser Artikel erschien zuerst als »Suspension Invention« im Magazin »Velovision«, Heft 41, Juni 2011. Die Übertragung aus dem Englischen und die kursiv gesetzten, mit dem Autor abgesprochenen Ergänzungen, stammen von Heiner Schuchard. Alle Bilder hat Peter Eland, Velovision, aufgenommen.

Bild 1: Sehr enttäuscht war er schon, der Kfz-Ingenieur Adrian Griffiths, von den Federungseigenschaften seines vollgefederten Mountainbikes. Doch einem gestandenen Ingenieur kann so etwas nur Anlass sein, es von Grund auf besser zu machen: Er startete das Toptrail Interconnected Suspension Bicycle Project (TIS B Project).

Warum sollte man sich mit der Komplexität und den Kosten einer Fahrrad-Vollfederung herumschlagen, wenn es am Ende doch nur mehr Probleme als Lösungen bringt?

Das war so etwa meine Einstellung, als ich mit dem TIS B Project begann. Als Spezialist für Kraftfahrzeug-Federungen hatte ich schon immer ein Problem damit, dass Fahrradfederungen nur dazu dienen sollten, die gröbsten Stöße abzumildern oder aber eine Landehilfe nach akrobatischen Flugübungen zu bieten, anstatt für eine erträgliche Fahrt über schlechte Wege zu sorgen, wie etwa bei einem Geländewagen. Ich fragte mich, ob es bei der ohnehin vorhandenen Komplexität einer Fahrrad-Vollfederung nicht doch machbar wäre, ihren Nutzwert fundamental zu verbessern.

Grundregeln zum Federungskomfort

In groben Zügen ausgedrückt gilt, dass für einen angemessenen Federungskomfort zum einen die Härte der Federung einer Fahrzeugachse in etwa proportional zu dem auf der Achse liegenden Gewicht zu sein hat. Für das Fahrrad folgt daraus, dass die Vorderradfederung etwa halb so hart sein sollte wie die des Hinterrades. Normalerweise ist das keineswegs der Fall. Zum anderen sollte ein gedämpftes Federelement eine deutlich weichere Federung ergeben als die alleinige Reifenfederung. Beim Fahrrad hat die Federhärte erheblichen Einfluss auf die Lenkstabilität. Je härter die Federung ist, umso mehr tendiert ein Laufrad beim Auftreffen auf Hindernisse zum Springen. Das ist an den mit einer Hochgeschwindigkeitskamera gemachten Aufnahmen zu erkennen. Mit dem Vorderrad in der Luft ist jedoch ein Fahrrad schwer zu lenken.

Andererseits, wenn wir eine herkömmliche Fahrradfederung wie bei einem Auto abstimmen würden, würde das fürchterlich danebengehen – extremes Abtauchen beim Bremsen wäre die Folge und das zyklische Moment des Pedalantriebs würde ein äußerst lästiges und energieverschwenderisches Wippen zur Folge haben. Außerdem müsste der Sattel sehr hoch stehen, damit er unter dem Fahrergewicht auf eine korrekte Höhe absinkt, was wiederum das Auf- und Absteigen erschweren würde. Auch der Pedalabstand zur Straße könnte ein Problem sein. Viele MTB-Hersteller gehen diese Probleme mit klug ausgedachten Dämpferstrategien an, deren Erfolg jedoch begrenzt ist, weil sie die Probleme nicht im Kern angehen.

Dagegen beeindruckt mich das mir aus meiner täglichen Arbeit bekannte Konzept verbundener Federungssysteme hydropneumatisch gefederter Automobile wie dem englischen MG-F.

Auf dem Kontinent sind Verbundfederungskonstruktionen vor allem bei verschiedenen Citroën-Modellen angewandt worden. Und falls jemand Ähnlichkeiten zwischen der Federungskonstruktion des 2CV (der »Ente«, Konstruktionsziel: Unbeschädigter Transport einer Palette roher Eier über Feldwege vom Hof zum Markt) und dem ersten Prototypen des TIS-B zu erkennen glaubt: Das Prinzip ist dasselbe!

Die Idee dahinter ist die, dass die vertikale Federhärte größer zu sein hat, als der Widerstand gegenüber Nickbewegungen. Oder anders gesagt: Die Federhärte ist hoch im Falle, dass sich beide Achsen eines Fahrzeugs vertikal in gleicher Richtung bewegen, sie ist dagegen niedrig in dem Fall, dass sich beide Achsen vertikal in entgegengesetzter Richtung bewegen. Das Fahrzeug federt dadurch in einer Weise, als hätte es einen sehr viel größeren Achsabstand, als er real vorhanden ist. Das ist besonders dann sehr effektiv, wenn der Schwerpunkt des Fahrzeugs im Vergleich zum Achsabstand hoch liegt, wie es gerade beim Fahrrad der Fall ist.

Verbundgefedert fahren

In gewisser Weise fahren wir alle mit dem Rad mit verbundenem Federungssystem: Wenn wir uns einer Fahrbahnunebenheit (einem Schlagloch oder Buckel) nähern, heben wir uns zuvor aus dem Sattel. Das ist mehr als purer Selbstschutz, denn wenn wir gleichzeitig den Halt am Lenker lockern, erlauben wir damit dem Fahrrad, sich unter uns – mit dem Tretlager als Drehpunkt – rück- oder vorwärts drehend dem Hindernis auszuweichen.

So ermöglichen wir niedrige Nickhärte bei hoher Federhärte: Und das ist das Prinzip der Verbundfederung!

Falls wir immerzu so fahren könnten, würden wir es tun. Auf Dauer ist das jedoch viel zu anstrengend. Unsere Beine sind nicht dafür geschaffen, für längere Zeit unser Gewicht zu tragen und gleichzeitig zu treten. Meine zentrale Idee für ein Federungskonzept am Fahrrad besteht deshalb darin, die Loslösung, die wir durch das Erheben vom Sattel erzeugen, zu erhalten, aber natürlich während wir sitzen.

Man könnte vermuten, dass die Reduzierung der Nick-Härte das Fahrrad beim Bremsen stark tauchen und beim Treten wippen lässt. Das würde auch so sein, doch dagegen gibt es ein Rezept: »Anti-Dive«. Dieser Begriff – aus der Kfz-Technik entlehnt – bezeichnet die Eigenschaft, das Abtauchen (oder Wippen) ohne zusätzliche Belastung der Federung durch die geometrische Gestaltung der Radaufhängung zu verhindern. Falls die Radaufhängung 100 % »Anti-Dive« ergibt, stehen Federn und Dämpfer ausschließlich zur Gewährleistung einer richtig sanften Fahrt zur Verfügung. Damit ist ein weiteres zentrales Kriterium meines Konzepts beschrieben.

Bild 2
Bild 3

Entkoppelte Vorderradbremse

Das Laufrad einer konventionellen Teleskop-Federgabel bewegt sich beim Einfedern nach oben und hinten, diese Radführung führt jedoch beim Bremsen zu starkem, unerwünschtem Abtauchen (»Pro-Dive«). Eine Anti-Dive-Radführung an der Gabel dagegen würde das Laufrad noch oben und vorne ausweichen lassen, was beim Auftreffen auf ein Hindernis eine gerade dann unerwünschten Verhärtung der Federung zur Folge hätte und zu Komforteinbußen und schlechterem Bodenkontakt führen würde.

Zu verhindern ist solch unerwünschtes Verhalten dadurch, dass man eine Radführung wählt, die sowohl das Laufrad nach oben und hinten ausweichen lässt als auch sicher stellt, dass beim Bremsen über das Vorderrad das Bremsmoment über eine Mechanik so auf den Rahmen übertragen wird, dass dieses eine Kraft auf die Gabel erzeugt, die der Einfederbewegung entgegen gerichtet ist. Das wird erreicht, indem ein parallel zur Gabel geführter Stab die Zugkomponente des Bremsdrehmoments und die als Schubstrebe wirkenden Gabel die Druckkomponente dieses Moments überträgt.

Damit ist eine weitere Besonderheit des TIS-Bs, das Vorderradfederungskonzept mit der von mir »Entkopplung« genannten Übertragungsweise des Bremskraftmoments auf den Rahmen, beschrieben. Sie erlaubt dem Vorderrad beim Auftreffen auf ein Hindernis nach hinten und oben auszuweichen, trotzdem aber erzeugt die Radführung beim Bremsen über das Vorderrad Anti-Dive.

Das Hinterrad dagegen federt nach oben und hinten, weil der Federarmdrehpunkt hoch über und vor dem Kontaktpunkt des Reifens liegt. Hier ist eine Entkopplung nicht erforderlich, da das Bremsen über das Hinterrad bei dieser Radaufhängung ohnehin »Anti-Dive« unterstützt.

Bild 4

Prototyp-Entwicklung

Bild 5

Mein Projekt begann ich mit einem sehr billig erstandenen, vollgefederten Rad, das wegen meiner rudimentären Fertigungsmöglichkeiten in meinem Gartenschuppen eher einem Frankenstein verwandten Ungeheuer als einem Fahrrad glich. Das Arbeitsergebnis knirschte und ratterte die Straße entlang, aber ich konnte – das persönliche Risiko außer Acht lassend – erkennen, dass das Rad prinzipiell so funktionierte, wie ich es erhofft hatte. Natürlich wäre es unmöglich gewesen, solch einen Haufen zusammengeschraubten Metalls irgendjemandem zu präsentieren und damit Interesse zu wecken. Ich brauchte einen Prototyp entschieden besserer Qualität. Einen solchen zu bauen konnte ich Dave Wrath-Sharman von der Firma Highpath-Design and Development gewinnen, mit einem Zuschuss von Advantage West Midlands waren 50 % der Kosten gedeckt, und so konnte es losgehen.

Abgesehen davon, dass Dave vier Autostunden entfernt in Wales wohnt, hätte ich niemand Besseren für dieses Projekt finden können. Ich stand auf seiner Türschwelle mit meiner Liste der wichtigen Konstruktionspunkte und einigen CAD-Skizzen, die ich angefertigt hatte. Dave kapierte sofort, worauf es mir ankam und im Verlauf etwa eines Jahres entstand ein wundervoller, qualitativ hochwertiger Prototyp. Und so nebenbei brachte er eine Fülle neuer Ideen in das Projekt mit ein. Ausschlaggebend für das Gelingen war, dass er mich davon abbrachte, meinen Plan, den Fahrer zentral zwischen den Rädern zu platzieren, zu realisieren. Dave hat einen sehr klaren Blick dafür, was richtig ist. Seine Begründung für eine konventionelle Sitzposition hatte viel mit der besseren Traktion beim Bergauffahren zu tun.

Bild 6

Testfahrten

Nachdem ich die richtige Anti-Dive-Einstellung und eine gutes Gleichgewicht zwischen Nick- und Transversalfederhärte gefunden hatte, unternahm ich Testfahrten und verglich den Prototyp mit geliehenen, vollgefederten Rädern. Ich maß mit Beschleunigungsmessgeräten die Beschleunigungen am Rahmen (es musste ja einen Vorteil haben, bei einem Fahrzeughersteller beschäftigt zu sein). Und ich machte mit der schon zuvor erwähnten, am Fahrrad montierten Hochgeschwindigkeitskamera Aufnahmen. Diese Messungen und Aufzeichnungen zeigten deutliche Vorteile des TIS-Rades, sie sind in einem Film (auch über die Suche nach »Toptrail« bei Youtube zu finden) dokumentiert.

Nun zu den subjektiven Eindrücken: Ein gewisses Befremden tritt ein, steigt man auf ein Rad mit solch einer weichen Vorderradfederung; es verschwindet jedoch, sobald man merkt, dass das Rad sehr schnell und ohne Abtauchen abzubremsen und zum Stehen zu bringen ist. Wenn man dann das Rad mit hoher Geschwindigkeit auf einem unebenen Weg fährt, bemerkt man, dass man den Blick weiter voraus richtet, als man es auf einem normalen Rad riskieren würde. Man muss nur noch die wirklich großen Hindernisse beachten, die kleinen registriert man schon gar nicht mehr.

Im derzeitigen Experimentalstadium ist die Reaktion der Federung für das Fahren im Wiegetritt noch nicht gut geeignet, weil Federung und »Anti-Dive« auf den niedrigeren Schwerpunkt des sitzenden Fahrers abgestimmt sind. Auch bei niedrigen Geschwindigkeiten und fahrtechnisch anspruchsvollen MTB-Routen fühlt sich die Federung etwas schwerfällig an, aber ich bin überzeugt, dass sich auch hierfür Anpassungen finden werden. Bis jetzt habe ich nur relativ wenig Zeit in die Feinabstimmung stecken können.

Die Zukunft

Was als nächstes? Ich plane mehrere Verbesserungen. Die Konstruktion des Prototyps ist in mancher Beziehung recht konservativ, einfach weil ich keine unnötigen Probleme haben wollte, die Zweifel am Basiskonzept provozieren könnten. Das derzeitige Design lässt mir Spielraum für Vereinfachungen im Sinne von Kosten- und Gewichtsersparnis. Im Moment wiegt das Rad etwas über 16 kg. 2,5 kg davon sollten einzusparen sein, ohne dass man auf exotische Materialien zurückgreifen müsste.

Sehr gerne würde ich eine Version mit kleineren Rädern schaffen, denn eine gut angepasste Federung macht große Laufräder entbehrlich. Auch reizt mich die Nutzung eines Elektroantriebs sehr: Die Kombination einer sehr geschmeidigen und höhere Geschwindigkeiten erlaubenden Federung in Kombination mit einem E-Bike-Antrieb scheint mir ein recht starkes Argument auf einem bisher nahezu unbeachteten Marktsegment.

Realistisch gesehen brauche ich zur Weiterentwicklung des Projekts einen Entwicklungspartner, dem umfangreichere Ressourcen und Produktionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen als mir selbst, auch gerne gegen eine Teilhabe am intellektuellen Eigentum meiner Entwicklung. Anfragen und Besichtigungen in dieser Sache sind mir sehr willkommen. Kontakt ist über meine Website toptrail.co.uk oder meine Videos auf YouTube möglich.

Die dort angebotenen Videos sind sehr hilfreich, die Theorie des Federungskonzepts zu verstehen. Ohne sie wäre es mir wohl kaum gelungen, eine sachgerechte Übertragung des englischen Textes zu gewährleisten. Darüber hinaus findet man auf der Website auch eine ausführliche Darstellung der kinematischen und dynamischen Grundlagen der Konstruktion.

Peter Eland: Zweite Meinung

Peter Eland ist der Macher der renommierten englischen Radzeitschrift »Velovision«, die den Bericht über das TIS B Project als Erstveröffentlichung publizierte. Hier seine Einschätzung:

Adrian lud mich ein, sein Rad zu fahren und Bilder zu schießen. Nach einem kurzen Austausch über die Idee und frühere Verwirklichungen verbundener Federungssysteme (da gab es einige, jedoch nicht vergleichbar mit diesem Projekt), nahmen wir uns das Rad vor.

Der Prototyp ist, wie Adrian schon sagte, wunderschön gestaltet. Obwohl er nur ein funktioneller Prototyp ist, zeigt er eine gewisse Eleganz mit Anklängen an die Gitterrohrrahmen der Moulton- und Pedersen-Räder. Wie man sieht, sind beide Feder-/Dämpferelemente zentral im Rahmen mit Verbindungen zu Vorder- und Hinterrad und untereinander platziert.

Die Federelemente sind Luftfederelemente. Adrian nahm die Dämpferpumpe zur Hand, um das Rad an mein höheres Gewicht anzupassen. Dann ging’s los!

Wie Adrian schon sagte, niedrige Geschwindigkeiten sind augenblicklich noch problematisch. Die Vorderradfederung wirkt so weich, dass es leicht ist, sie einzudrücken und zum Durchschlagen zu bringen. Aber wenn man erst einmal das Rad beschleunigt, ist alles plötzlich ganz anders. Ich bin kein Off-Road Biker, aber ich hatte den Eindruck, dass der sehr geschmeidige Lauf des Rades zugleich Kontrolle wie auch Komfort bietet. Je schneller ich fuhr, desto besser funktionierte diese Kombination.

Adrians Vorschlag, die Bremsen auf spezielle Weise miteinander zu verbinden, ist gut – er wird es wahrscheinlich zukünftig tun – und das macht das Bremsen absolut sicher, ohne irgendwelches Abtauchen, bei exzellenter Kontrolle. Im Vergleich zu so mancher Teleskop-Federgabel ist das eine ganz erhebliche Verbesserung.

Ich glaube, dass Adrians Projekt ein echtes Realisierungspotential über das derzeitige Prototypenstadium hinaus hat, und hoffe, dass er passende Partner findet, es voranzubringen. Ein überarbeitetes TIS-B wird auch für Straßenfahrer oder härtere Tourenbeanspruchungen Vorteile bringen, das wirtschaftliche Hauptpotential jedoch wird vermutlich bei ernsthaften Mountainbikern und im Besonderen bei Downhillbikern liegen.

Falls Sie Adrian Griffiths unterstützen können, tun Sie es und nehmen Sie Kontakt auf!

Zum Übersetzer

Heiner Schuchard fährt seit ca. 60 Jahren Rad, seit 6 Jahren Tandem und lebt in Lübeck, falls er nicht gerade mit seiner Frau auf Tour ist. Seine Überzeugung: Das so vorteilhafte Verkehrsmittel »Fahrrad« besitzt auch heute noch ein ganz erhebliches Entwicklungspotential. Es ist einfach spannend, daran teilzunehmen!