Ausgabe 0 · Februar 2006

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Plädoyer für einen guten Reifen

Zuerst erschienen 1993 in Pro Velo 32

von Thomas Senkel

Wie schnell man mit einem Fahrrad fährt, hängt zum einen von der eigenen Leistung ab, zum anderen von den zu überwindenden Fahrwiderständen. Betrachtet man eine unbeschleunigte Fahrt auf ebener Straße, dann sind es nur der Roll- und Luftwiderstand, die die eigenen Kräfte aufzehren (die Reibungsverluste im Antrieb können in der Regel vernachlässigt werden).

Nun gibt es mindestens zwei Kategorien von Radfahrern: Die einen wollen möglichst schnell, die anderen mit möglichst wenig Anstrengung fahren. Beides läuft zwar auf dasselbe hinaus (nämlich die Reduzierung der Summe aller Fahrwiderstände), jedoch legt die erste Kategorie der Rennfahrer ihr Hauptaugenmerk auf den Luftwiderstand, über den schon viel geforscht, getüftelt und geschrieben wurde. Bis zu einer Geschwindigkeit von etwa 4,5 m/s (16 km/h) ist aber der Rollwiderstand größer als der Luftwiderstand und verdient deshalb gerade von Seiten der gemütlichen Alttagsradler mehr Interesse als ihm bisher zukam. Insbesondere bei Fahrten mit Anhängern und Lastenrädern macht der Rollwiderstand den Löwenanteil des Gesamtwiderstandes aus.

In Bild 1 geben die durchgezogenen Kurven die erreichbare Geschwindigkeit bei gegebener Leistung für zwei verschiedene Reifen an (bei einem Fahrrad mit Fahrer von m = 100 kg und cw ∙ A = 0,5 m2). An der gepunkteten Kurve kann man ablesen, welchen Geschwindigkeitszuwachs man bei gegebener Leistung hat, wenn man den Rollwiderstandsbeiwert von cR = 0,00568 auf cR = 0,00160 senkt. Dies entspricht in etwa der Spanne zwischen einem eher schlechten und einem sehr guten Meßergebnis des Rollreibungskoeffizienten (jeweils 20″-Bereifung bei gleichem Druck von 5 bar). Mit 75 W Leistung (der Dauerleistung eines durchschnittlichen Radlers) würde man dann 12 % schneller fahren können. Selbst bei 200 W Leistung beträgt der Zuwachs noch über 6 %.

Die Entwicklung von Fahrradreifen ist bisher weitgehend der Industrie vorbehalten; der Leipziger Ingenieur Paul Rinkowski, auf dessen handgefertigte Gürtelreifen noch hingewiesen werden soll, bildete hier eine Ausnahme [Rinkowski 1975]. Einige Reifenhersteller messen die Rollwiderstände ihrer Reifen auf Laborprüfständen und beziehen die Ergebnisse auch in die Optimierung mit ein. Als Verkaufsargument wird der Rollwiderstand jedoch nur selten und niemals quantitativ verwendet; das mag auch damit zusammenhängen, daß wegen der Unterschiedlichkeit der verwendeten Meßverfahren eine unmittelbare Vergleichbarkeit der Daten nicht gegeben ist. Darüber hinaus scheint es doch eher die Optik der Reifen zu sein, die steilen Stollen und schliddrigen Sliks, die verkaufsfördernd ins Auge fallen.

Als Grundlage für die Erarbeitung einer Theorie des Fahrradreifens interessierten uns (Physiker und PhysikstudentInnen der Arbeitsgruppe Fahrradforschung) Rollreibungsmessungen möglichst vieler verschiedener Reifen. Vor mehr als zwei Jahren perfektionierten wir im Rahmen einer Studienarbeit ein Meßverfahren, das realistische Messungen (mit hoher Genauigkeit) auf beliebigen Fahrbahnoberflächen ermöglicht [Hauschild et al. 1990].

Die Ausroll-Methode

Die Messungen erfolgen mit einem eigens dafür konstruierten Meßdreirad. Das ORM (Oldenburger Rollwiderstands-Meßgerät) wird von Hand angeschoben und rollt dann antriebslos über eine Meßstrecke.

Antriebsloses Meßdreirad ORM (Oldenburger Rollwiderstands-Meßgerät)

Mit Hilfe eines Taschencomputers wird die Zeit für jede Radumdrehung beim Ausrollen gemessen und gespeichert. Aus den Zeitdifferenzen zwischen je zwei Radumdrehungen kann die negative Beschleunigung und daraus mit Hilfe der Fahrwiderstandsgleichung der gesamte Fahrwiderstand berechnet werden. Am Ende wird dann über alle Einzelwerte gemittelt. Da uns der Luftwiderstand und der Rollwiderstand von zwei Reifen des Dreirades aus Eichmessungen bekannt sind, kann der Rollwiderstand eines einzelnen unbekannten Reifens bestimmt werden.

Um den Einfluß des Höhenprofils der Meßstrecke zu kompensieren, wird die Meßstrecke in beiden Richtungen durchfahren, und die Meßwerte werden paarweise ausgewertet. Die Belastung des gemessenen Reifens beträgt etwa 55 kg, was den üblichen Radlasten am Zweirad entspricht. Für die korrekte Auswertung müssen der exakte Radumfang, die Radlasten, das Trägheitsmoment der Laufräder und die Luftdichte bestimmt werden. Außerdem muß es möglichst windstill sein; wir führten die Messungen deshalb in einem geschlossenen Flur durch, dessen Oberfläche aus PVC-Belag auf einer hochbelastbaren Betondecke bestand.

Wie der Rollwiderstand entsteht

Der Rollwiderstand eines Reifens ist gegeben durch Fr = cR ∙ m ∙ g. Der Rollwiderstandsbeiwert cR gibt an, mit welchem Anteil der Gewichtskraft das rollende Rad abgebremst wird. Je größer cR und je schwerer das Rad (bzw. der Fahrer), desto schwerer rollt es. Es gibt noch keine gesicherte Theorie darüber, wie der Rollwiderwiderstand im Reifen entsteht, doch nimmt man an, daß er sich hauptsächlich aus zwei Komponenten zusammensetzt:

Abrollwiderstand

Der Abrollwiderstand entsteht dadurch, daß der Reifen die Fahrbahn nicht in einem mathematischen Punkt berührt, sondern mit einer etwa elliptischen Fläche aufsteht. Der Abrollvorgang kann als ein ständiges Kippen über eine gedachte Abrollkante innerhalb der Aufstandsfläche angesehen werden. Je länger die Aufstandsfläche und je kleiner der Raddurchmesser ist, desto größer ist die erforderliche Kraft.

Walkwiderstand

Beim Abrollen schiebt der Reifen ständig einen Gummi-Wulst aus der Lauffläche wie einen Bauch vor sich her. Der Reifen wird infolge der Raddrehung durchgewalkt. Durch die Dämpfung des Reifenmaterials wird die Energie der elastischen Verformung nicht vollständig zurückgegeben. Diese Dämpfungsverluste sind proportional zur Einsinktiefe [Gerdes et al. 1991].

Ergebnisse

Tabelle 1 zeigt die bisher gemessenen Rollwiderstandsbeiwerte nach der Reifen-Größe geordnet. Von jedem Reifen wurde ein Exemplar gemessen, und die Ergebnisse sind mit dem angegebenen Fehler reproduzierbar. Ob die Ergebnisse jedoch auf alle Reifen des gleichen Typs zutreffen, ist fraglich; die Breite der Produktionsstreuung ist unbekannt, und auch das Alter und der Abnutzungsgrad der Reifen beeinflussen den Rollwiderstand. Fast alle gemessenen Reifen waren neu. Die Auswahl der Reifen ist natürlich weitgehend zufällig und bei weitem nicht vollständig.

Tabelle 1
cR 10E-5 bei Größe Reifen
300 kPa 500 kPa 700 kPa
* bei 450 kPa (4,5 bar) gemessen
Hinweis: Ein Wert in der Tabelle von z.B. 312 bedeutet cR-0.00312y
Alle Meßwerte haben einen relativen Fehler < 2 %
669 436 378 47-305 Conti Tour de Sol (Spezialanf.)
614 - - 47-305 Schwalbe Standard GW, HS159
- 416 - 47-406 ACS RL-Edge
- 514 - 47-406 Avocet Fastgrip Freestyle
392 - - 47-406 Coninental Nylon S, US Type
219 160 - 47-406 Rinkowski Gürtelreifen, Typ 1
261 195 - 47-406 Rinkowski Gürtelreifen, Typ 2
- 568 467 32-406 Schwalbe City Jet
685 - - 47-406 Schwalbe Standard SK, HS188
526 - - 47-406 Schwalbe Standard GW, HS188
455 - - 47-406 Schwalbe Standard GW, HS159
- 394 - 47-406 Tioga Competition mit Mittelsteg
- 419 - 47-406 Tioga Competition mit Stollen
- 534 - 28-440 Michelin Standard
- 446 360 32-451 Hudyn HPV
408 - - 47-507 Schwalbe Standard GW, HS159
- 267 * - 47-559 Continental Avenue
696 643 * - 50-559 Continental Super Cross
332 - - 47-559 Schwalbe Standard GW, HS159
513 361 - 32-622 Avocet Slik
596 402 349 28-622 Avocet Slik
- 477 376 20-622 Avocet Slik
- 351 - 28-622 Continental Super Sport
- 278 - 32-622 Continental Top Touring Skinwall
448 341 - 37-622 Continental Top Touring (weiß)
- 537 - 25-622 Panaracer Tour Guard
446 351 - 47-622 Schwalbe City Jet HS257
522 362 - 37-622 Schwalbe City Jet HS257
573 389 321 25-622 Schwalbe Blizzard HS190
- 432 342 22-622 Schwalbe Blizzard HS190
- 496 405 18-622 Schwalbe Blizzard HS190
- 397 - 44-622 Schwalbe Hurricane
- 474 - 32-622 Schwalbe Marathon
336 - - 47-622 Schwalbe Standard GW, HS159
- 393 - 28-622 Semperit Long Life
- 319 - 37-622 Vredestein Monte Carlo
- 312 - 25-622 Vredestein Runner

Beim Kauf eines Reifens ist es natürlich entscheidend, den Rollwiderstand im Zusammenhang mit anderen, wichtigen Kriterien zu beurteilen, z. B.:

  • Pannensicherheit
  • Lebensdauer
  • Federungseigenschaften
  • Fahrdynamik
  • Bodenhaftung
  • Preis

Im Bild 2 sieht man die Abhängigkeit des Rollwiderstandsbeiwertes vom Reifendruck für einen Continental Top Touring 37-622. Bei niedrigen Drücken macht sich eine Druckerhöhung viel stärker bemerkbar als bei hohen Drücken. Schwach aufgepumpte Reifen federn zwar gut, haben aber einen deutlich höheren Rollwiderstand als bei Nenndruck Bei Hochdruckreifen dagegen ist der Unterschied zwischen z. B. 800 und 900 kPa (8 und 9 bar) nur noch geringfügig.

Bild 1: Geschwindigkeitszuwachs durch besseren Reifen
Bild 2: Druckabhängigkeit des Rollwiderstandes

Für die Abhängigkeit des Rollwiderstandes vom Reifendurchmesser standen uns Schwalbe Standard GW Reifen mit Profil HS159 zur Verfügung, die alle denselben Aufbau und die gleiche Breite von 47 mm haben. in Bild 3 ist zu sehen, daß der Rollwiderstand umgekehrt proportional zum Durchmesser ist.

Bild 3: Abhängigkeit von cR vom Reifendurchmesser

Bemerkenswert und nicht erwartet ist das Ergebnis, daß »bei ansonsten gleicher Bauart und gleichen Parametern« breite Reifen einen kleineren Rollwiderstand als schmale Reifen haben (Tabelle 1). Dies scheint dem gesunden Menschenverstand zu widersprechen, wird aber bei genauerem Hinsehen klarer: Bei gleichem Druck ist auch die Aufstandsfläche beider Reifen gleich groß. Beim breiten Reifen ist aber die Ellipse kürzer und breiter und damit der Abrollwiderstand geringer. Warum sich im Rennsport schmale Reifen durchgesetzt haben, liegt in erster Linie am besseren Luftwiderstand, der sich bei höheren Geschwindigkeiten bemerkbar macht, und dem geringeren Gewicht. Aus diesen Gründen wurden auch bis vor kurzem gar keine hochwertigen (Hochdruck-)Reifen mit größerer Breite produziert.

Der Rollwiderstand hängt natürlich auch von der Fahrbahnoberfläche ab. Für übliche Radwege aus Betonsteinen oder Asphalt liegen die Werte etwa 20–50 % höher als auf PVC-Boden. Bei sehr weichen Untergründen, wie z.B. Gras oder Sand, sind die Verformungen des Bodens die Hauptursache für den Rollwiderstand, der dann ein Vielfaches der Werte auf PVC beträgt. Dabei kann sich auch die Rangfolge der Reifen untereinander stark ändern, so daß Tabelle 1 für sehr weiche Untergründe keine Aussagekraft besitzt.

Um einen möglichst kleinen Rollwiderstandsbeiwert cR zu erhalten, sollte ein Reifen also folgende Eigenschaften besitzen:

  • gute Elastizität
  • kleine Aufstandslänge
  • großer Durchmesser

Für eine kleine Aufstandsfläche braucht man:

  • hohe Druckfestigkeit
  • große Breite
  • hohe Steifigkeit der Reifenwände
  • großer Profilpositivanteil

Diese Eigenschaften widersprechen sich zum Teil; so hat ein elastischer Reifen auch eine geringere Steifigkeit [Gerdes 1991].

Fazit

Die Meßwerte zeigen, daß die Reifen recht unterschiedliche Rollwiderstände haben und es daher anzunehmen ist, daß noch ein erhebliches Forschungs- und Innovationspotential gibt. Insbesondere die Experimente Rinkowskis mit Gürtelreifen kleinen Durchmessers und großer Breite können Anlaß »vielleicht auch für die Reifenindustrie« sein, sich mit neuen Konstruktionsprinzipien zu befassen, da der Rollwiderstand dieser Reifen trotz der schlechten Produktionsbedingungen fast die Hälfte des von herkömmlichen Diagonalreifen beträgt.

Zum Autor

Thomas Senkel, Uni Oldenburg

Literatur

Gerdes 1991
Gerdes et al. 1991
J. Gerdes, P. Wieting: Die Abhängigkeit des Rollwiderstandskoeffizienten cR von Reifenparametern. Studienarbeit 1991, Universität Oldenburg
Hauschild et al. 1990
A. Hauschild, T. Senkel: Messung des Rollwiderstandes mit dem ORM. Studienarbeit 1990, Universität Oldenburg
Krieger 1991
R. Krieger: Die Fahrradbereifung. In: Pro Velo, Bd. 24, 1991. S. 20 ff.
Reimpell 1986
J. Reimpell: Fahrwerktechnik Räder und Reifen. Vogel Fachbuch, Würzburg 1986
Rinkowski 1975
P. Rinkowski: Dokumentation zur Herstellung von ZT-Radialschlauchreifen aus Stahlcord. Leipzig, 1975