Ausgabe 7 · Dezember 2008

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Benötigen Reiseräder wirklich keine (Voll-)Federung?

von Olaf Schultz

Auf Island an dem Paß zwischen Heiðarenni und Hfrafnseyrarheiði
(Straße 60 zwischen Arnarfjördur und Dyrafjördur)

Reiseräder, die auf mitteleuropäischem Asphalt eingesetzt werden, benötigen sicherlich keine Vollfederung. Wer sich hingegen häufig auf Schotter- und Lehmpisten bewegt, wird sie zu schätzen wissen. Eigene Erfahrungen (1. Ungefedertes Stahl-ATB, 28″, der Rest ein RM Delite Jubilee):

  1. Neuseelands Südküste oder 80 Kilometer Wellblechpiste Te Anau – Walter Peak, damals noch ohne Vollfederung mit 37er Marathons. Nach 80 Kilometern Wellblechpiste kann man kaum noch den Lenker greifen, mehr als 15 km/h ist nicht drin, weil es einem sonst das Rad zerreißt … Selbst Tandemfahrer nehmen das als nicht fahrbar wahr (so ein Paar, das gerade die nördlichen 5 Kilometer bei Walter Peak hinter sich hatte).
    300 Höhenmeter abwärts auf schotteriger Serpentine gingen nur langsam gebremst. Das Fading der schweren Sachs PowerDisc-Scheibenbremse setzte zum Glück erst unten ein :-)
  2. In Islands Nordwest-Fjorden oder den mittleren 80 Kilometern der F35 weiß man ein vollbepacktes gefedertes Reiserad am Ende eines Tages sehr wohl zu schätzen.
    Lehmige Oberfläche, Serpentinen, Schlaglöcher in den Nordwestfjorden: Man lässt einfach herunterrollen und bremst kurz vor den Serpentinen. Die Federung arbeitet halt. Man hat aufgrund der Federung auch in den Kurven kein springendes Fahrrad.
    Ich bin ein Teilstück der F35 mit stark reduziertem Gepäck gefahren. Das bringt weniger Spaß als vollbepackt. Hier ist besonders fehlendes Gepäck in den Lowridertaschen bemerkbar. Die 2 Kilogramm Fotoausrüstung in der Lenkertasche reichen nicht für eine möglichst große gefederte Masse.
    Was meinten zwei junge Frauen (VSF-Mixte-Räder, 37er Marathons) nach der F35 in Geysir: »Man leidet mit den Rädern.«
  3. Rallarweg in Norwegen: Östlich Finse unproblematisch selbst für ungefederte und 37er Reifen mit Gepäck. Westlich Finse sind einige fiese Stellen mit dicken Steinen, da ist mit Vollfederung wieder gut bremsen und gucken.
    Fährt man in Serpentinen abwärts, so kann man weiter voraus schauen und muss nicht auf das letzte Schlagloch vor dem Vorderrad achten. Dadurch kann man schneller rollen und mehr Leistung in der Luft als in den Bremsen verheizen.
    Mit einer Vollfederung hat man auf schlechten Wegen einfach mehr Muße, sich die Landschaft und nicht nur die Fahrbahn anzugucken!

Liegeräder?

Meines Wissens wurde Martin Staubach in den 1990er Jahren mal belächelt, als er auf einer HPV-Meisterschaft mit einem vollgefederten Liegerad im Straßenrundkurs antrat. Das Lächeln verging vielen schnell, nämlich den ungefederten, die in Kurven aufgrund springender Räder langsamer fahren mussten als Martin …

Liegeräder sieht man häufiger auf Reisen. Auf Island waren zwei Eigenbauten (Schwartz, Thüringen?) zu sehen. Die waren meines Wissens mit ihren Liegern auch im Denali-Nationalpark.

Auf der North-Sea-Cycle-Route (NSCR) kamen uns zwei Niederländer im norwegischen Abschnitt mit ihren Kurzliegern entgegen. Dort gibt es auch abschnittsweise Schotter oder steilen, zermahlenen Asphalt.

Langlieger und Kurzlieger sind auf Radreise in England und Schottland auch kein Problem. Lediglich Tieflieger sind dort benachteiligt: Die Steinwälle schränken die Sicht ein :-(

Wo ich Probleme sehe: Extrem häufig steile Wege und schlechte Oberfläche: Wenn man mal kurz anhalten will und keinen sicheren Stand auf dem Boden kriegt. Ansonsten ist Reisen mit dem Liegerad entspannend für Schultern und Hände. Vollfederungen sind bei Liegerädern noch eher zu empfehlen als bei den Rover-Sicherheitsrädern, zumindest wenn man häufiger Asphaltpisten meidet.

Peter Schäfer und Edda Jaeckel sind häufig mit ihrem Kettwieseltandem unterwegs, auch auf Schotterpisten in Finnland und Brandenburg. Für lose Untergründe ist der einseitige Antrieb ebenso nachteilig wie die geringe Last auf dem Vorderrad. Dies ist aber durch Lowridertaschen und Differentialgetriebe kompensierbar.

Fazit für mich: Eine Vollfederung muss nicht sein. Sie erleichtert aber das Fahren auf grobem Untergrund deutlich und man hat mehr Muße sich der Landschaft hinzugeben.

Zum Autor

Olaf Schultz, Maschinenbauingenieur, Hamburg-Harburg, renitenter Großstadtalltags- und Reiseradler, Gründungsmitglied der Fahrrad-AG der TUHH, Selbstbau von mehreren Liegerädern, seit längerem immer weiter in den Untiefen der Fahrradbeleuchtung versinkend.