Ausgabe 27 · Dezember 2018

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Schutzstreifen für Radfahrer: Ohne Benutzungspflicht keine Klagebefugnis

Anmerkungen zum Urteil des OVG Lüneburg vom 25.07.2018, Aktenzeichen 12 LC 150/16

von Dietmar Kettler

Nach landläufiger Meinung sind Schutzstreifen für Radfahrer benutzungspflichtig. Die Rechtsprechung und Literatur ist weit überwiegend der Auffassung, es gebe eine Benutzungspflicht: Direkt aus der Leitlinie 340 am Fahrbahnrand oder indirekt, denn das allgemeine Rechtsfahrgebot werde durch den Schutzstreifen in der Weise konkretisiert, dass man ihm nur nachkomme, wenn man den Schutzstreifen benutzt. Auch Kommunen verbreiten in Faltblättern an Radfahrer und Autofahrer gewandt regelmäßig diese Rechtsauffassung: »Ist ein Schutzstreifen auf der Fahrbahn markiert, so muss der Radverkehr diesen befahren.« Die dem Schutzstreifen immanente Benutzungspflicht sei gar bußgeldbewehrt, wird behauptet. Tatsächlich nimmt die bisher vorliegende Rechtsprechung zu Ordnungswidrigkeiten durchweg zulasten der betroffenen Radfahrer an, aus der Markierung eines Schutzstreifens ergebe sich eine Benutzungspflicht für Radfahrer. Die Gekniffenen sind Radfahrer, die sicher fahren wollen, nicht im buckeligen Rinnstein mit der Pedale auf den Bordstein aufsetzen wollen, Fußgängern auf dem Gehweg und parkenden Autos nicht zu nahe kommen wollen und auch kein gefährliches Vorbeiquetschen von »spurtreuen« Autofahrern auf der restlichen Fahrbahn provozieren und ertragen wollen. Bisher hat nur eine einzelne Stimme in der juristischen Literatur vertreten, dass es keine Benutzungspflicht für Schutzstreifen für Radfahrer gibt. Genau diese bisher einsame Stimme ist jetzt vom Verwaltungsgericht Hannover in erster Instanz und vom Oberverwaltungsgericht Niedersachsen in zweiter Instanz gestärkt worden. Der Weg dahin war ein kurioser:

Schutzstreifen für Radfahrer: keine Benutzungspflicht

Wenn es eine Benutzungspflicht für Schutzstreifen gibt, sollte man meinen, dass Radfahrer solche Schutzstreifen wegklagen können, wie sie Radwegebenutzungspflichten wegklagen. Schon verschiedentlich waren Schutzstreifen Gegenstand von verwaltungsgerichtlichen Verfahren, Autofahrer und Anlieger hatten jeweils dagegen geklagt. Die Schutzstreifen wurden zumeist als rechtswidrig oder gar als offenkundig rechtswidrig beurteilt. Wo soll also das Problem sein, wenn ein Radfahrer gegen (untermaßige) Schutzstreifen klagt, die ihn doch viel mehr belasten als jeden Autofahrer?

Geklagt hatte nun ein Radfahrer, der die Schutzstreifen in einer bestimmten Ortsdurchfahrt weghaben wollte, weil sie ihn zu sehr gefährden: Sie sind allenfalls (d.h. für die beklagte Behörde günstig gemessen) 1,25 m breit, liegen in einem Rinnstein neben einem hohen Bordstein, und die danebenliegende restliche Fahrbahn misst allenfalls 4,5 m. Ein klarer Fall nach dem technischen Regelwerk ERA 2010: Die hier verwirklichte Kombination von Mindestmaßen ist verboten. Dergleichen provoziert nach den vorliegenden Unfalluntersuchungsberichten gefährlich geringe Überholabstände von Autofahrern. Gefährliche Anordnungen zulasten von Radfahrern zu treffen gehört eindeutig nicht zu den Aufgaben der Verkehrsbehörde und ist damit rechtswidrig. Und der Kläger wurde bei jeder Fahrt mit einem Knöllchen bedroht, wenn er da fährt, wo er sicher fahren könnte: links der Markierung. Eine (gar bußgeldbewehrte) Pflicht, gegen die man sich gerichtlich nicht wehren kann, kann es unter der Geltung des Grundgesetzes mit der darin enthaltenen umfassenden Rechtsschutzgarantie nicht geben.

Doch sowohl das VG Hannover als auch das OVG Niedersachsen sind der Meinung, Radfahrer könnten nicht gegen Schutzstreifen klagen. Sie verwehrten dem Radfahrer-Kläger jedweden Rechtsschutz. Ihm fehle die nötige »Klagebefugnis«, denn er könne nicht in seinen Rechten verletzt sein. Zur Begründung führen sie aus: Die Anordnung von Schutzstreifen enthalte gegenüber dem Radfahrer keinerlei Regelung, insbesondere keine ihn belastende. Es gebe kein allgemeines Gebot, als Radfahrer stets nur rechts von der Markierung eines Schutzstreifens zu fahren, und kein Verbot für Radfahrer, bei schlechtem Zustand des Schutzstreifens oder sonstiger Gefährdung nach links auszuweichen. Es wird Radfahrer überraschen, dass ausgerechnet sie nicht gegen die sie gefährdenden, allzu oft am geltenden Regelwerk gemessen untermaßigen, baulich schlecht ausgeführten und im unebenen Rinnstein neben hohen Bordsteinen liegenden Schutzstreifen sollen klagen dürfen. Aber mit der Klarstellung aus der Verwaltungsgerichtsbarkeit hat der Kläger hier mehr erreicht, als er mit einem Obsiegen hätte gewinnen können: Er hat zwar diesen konkreten Schutzstreifen nicht weg bekommen, aber er kann diesen und alle anderen ebenso schlecht ausgeführten künftig weitgehend ignorieren, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, irgendetwas falsch gemacht zu haben. Er kann jedem ahndungswilligen Verkehrspolizisten schriftlich vorlegen, dass er links der Markierung auf der richtigen Seite der Markierung gefahren ist. Auch andere Radfahrer können sich in ihren Ordnungswidrigkeiten-Verfahren auf die Klarstellung berufen: Ohne belastende Regelung kann es keine Ordnungswidrigkeit geben.

Rechts fahren – mit Schutzstreifen genauso wie ohne

Auch für die Reichweite des Rechtsfahrgebots in der konkreten Örtlichkeit hat die Klarstellung Folgen: Dass es einen Schutzstreifen gibt, bewirkt entgegen der oben genannten, noch herrschenden Auffassung nicht, dass man nur rechts der Markierung dem Rechtsfahrgebot nachkommen könnte. Man ist nach der Auffassung des OVG nicht verpflichtet, sich im buckeligen Rinnstein herumzudrücken, sehenden Auges in Schlaglöcher und Längskanten zu fahren, ein Aufsetzen der Pedale auf den Kantstein zu riskieren, parkenden Autos neben dem Schutzstreifen oder Fußgängern auf dem Gehweg zu nah zu kommen. Stattdessen darf man auch beim Vorhandensein von Schutzstreifen tun, was zum Rechtsfahrgebot im Allgemeinen längst ausgeurteilt ist: den nötigen und situationsangepassten Abstand nach rechts halten. Fährt der Radfahrer links der Schutzstreifenmarkierung, wäre mithin auch ein unreflektierter Rückgriff auf einen angeblichen Verstoß gegen das Rechtsfahrgebot rechtswidrig.

Sicherheitsabstand beim Überholen

Und es gibt noch eine weitere erfreuliche Feststellung in der Entscheidung des OVG: Die Markierung von Schutzstreifen enthält keine Regelung zum erforderlichen Sicherheitsabstand beim Überholen von Radfahrern. Danach bleibt ein Überholvorgang ohne hinreichenden Sicherheitsabstand auch außerhalb des Schutzstreifens rechtswidrig. Die gelebte Praxis ist bundesweit eine ausgeprägte Spurtreue der Kraftfahrer, die überholen, wenn und sobald es für sie so aussieht, als könnten beide Beteiligten in »ihrer« Spur bleiben. Auch dem schiebt das OVG einen Riegel vor: Auch wenn der Radfahrer akkurat auf seinem Schutzstreifen fährt, muss der Autofahrer beim Überholen die von der Rechtsprechung grundsätzlich erarbeiteten 1,5 bis 2 m Abstand zum Radfahrer halten. Das von Radfahrern auf Schutzstreifen als besonders bedrohlich und gefährlich erlebte, alltägliche Überholen-mit-einer-Handbreite-Abstand ist nach der Entscheidung des OVG eindeutig rechtswidrig. Und zudem nimmt diese Überlegung jenen Urteilen zu Ordnungswidrigkeiten die Grundlage, die Radfahrern zum Vorwurf machen, wegen ihrer sicheren Fahrweise hätte kein Autofahrer überholen können: »Wäre der Radfahrer rechts der Markierung geblieben, hätte der Autofahrer noch auf der restlichen Fahrbahn daran vorbeifahren können«, ist die Überlegung. Auch diese Überlegung funktioniert nicht mehr: Entweder konnte der Kraftfahrer wegen des Gegenverkehrs nicht überholen oder er hätte unter Inanspruchnahme der Gegenfahrbahn überholen können. Vorbeiquetschen, nur weil da ein Längsstrich markiert ist, geht nach der Auffassung des OVG gar nicht. Auch insoweit hat der Kläger mit der Klarstellung des Gerichts mehr gewonnen, als er mit einem Obsiegen in dem Verfahren hätte gewinnen können. Es bleibt abzuwarten, ob Verkehrspolizisten sich künftig diesem gefährlichen und rechtswidrigen Überholen widmen, statt rechtstreuen Radfahrern willkürlich Verstöße gegen die fingierte »Benutzungspflicht« oder gegen das fehlinterpretierte Rechtsfahrgebot vorzuwerfen.

Urteil des OVG Lüneburg vom 25.07.2018, Aktenzeichen 12 LC 150/16

Zum Autor

Dr. Dietmar Kettler ist Rechtsanwalt in Kiel, Verfasser des Rechtsberaters »Recht für Radfahrer« und vieler weiterer Texte rund um das Recht für Radfahrer.